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Drittes Kapitel
in welchem John das Erntefest feiert

Kurz nach dem Frühstück, zu welchem er mit einem hochtragischen Gesichtsausdruck erschien, suchte John seinen Vater auf, der wie immer am Sabbatmorgen in seinem Zimmer saß, wahrscheinlich religiösen Betrachtungen hingegeben. Der alte Herr sah mit jenem säuerlichen, fragenden Ausdruck auf, der beinahe wie ein Lächeln aussah und in der Wirkung so verschieden davon war.

»Dies ist eine Stunde, in der ich nicht gestört zu werden liebe,« sagte er.

»Ich weiß es,« antwortete John; »aber ich habe – ich möchte – ich habe etwas Fürchterliches angerichtet,« brach er schließlich los und wandte sich dem Fenster zu.

Herr Nicholson saß eine ziemliche Zeit schweigend da, während sein unglücklicher Sohn die Pfähle in dem hinteren Rasenplatz ansah und eine gewisse gelbe Katze beobachtete, die auf der Gartenmauer hockte. Verzweiflung saß John im Nacken, wie er so hinausstarrte, und er wütete innerlich bei dem Gedanken an die gräßliche Reihe seiner Missetaten und an die schneeweiße Unschuld, die hinter ihm lag.

»Hm,« sagte der Vater endlich, mit sichtlicher Anstrengung, aber in sehr ruhigem Ton, »was ist es?«

»Maclean gab mir vierhundert Pfund, um sie auf die Bank zu bringen, Vater,« begann John; »und es tut mir furchtbar leid, dir sagen zu müssen, daß sie mir geraubt worden sind!«

»Geraubt?« rief der alte Nicholson mit einem merklichen Anschwellen der Stimme. »Geraubt? Bedenke wohl, was du sagst, John!«

»Ich kann nichts anderes sagen, Vater; sie wurden mir ganz einfach geraubt,« sagte John in seiner Verzweiflung weinerlich.

»Und wo und wann trug dieses außerordentliche Ereignis sich zu?« forschte der Vater.

»Auf dem Calton-Hügel, diese Nacht ungefähr um zwölf Uhr.«

»Auf dem Calton-Hügel?« wiederholte der alte Herr. »Und was machtest du da zu solcher Nachtzeit?«

»Nichts, Vater.«

Der alte Herr zog den Atem ein und fragte scharf:

»Und wie kam das Geld in deine Hand um zwölf Uhr nachts?«

»Ich hatte den Auftrag nicht ausgeführt,« sagte John schnell, um einer weiteren Frage zuvorzukommen; und dann: »ich hatte ihn reinweg vergessen.«

»Na, das ist eine höchst eigentümliche Geschichte. Hast du dich mit der Polizei in Verbindung gesetzt?«

»Das hab ich,« antwortete der arme John, und das Blut schoß ihm ins Gesicht. »Sie denken, sie kennen die Kerls, die es taten. Das Geld wird jedenfalls wieder herbeigeschafft werden – wenn es weiter nichts ist,« sagte er mit einer verzweifelten Gleichgültigkeit, die sein Vater als Leichtsinn auslegte, die aber nur dem Bewußtsein entsprang, daß viel Schlimmeres noch kommen mußte.

»Wurde dir auch deiner Mutter goldene Uhr abgenommen?« fragte der alte Herr Nicholson weiter.

»Oh, die Uhr – mit der ist alles in Ordnung!« rief John. »Wenigstens – ich wollte auf die Uhr gerade zu sprechen kommen – die Sache ist die, ich schäme mich, es sagen zu müssen: ich ... ich hatte die Uhr vorher versetzt. Hier ist der Pfandschein; den fanden die Strolche nicht; die Uhr kann wieder ausgelöst werden; Pfänder werden nicht verkauft.«

Diese Sätze stieß der Junge keuchend hervor, einen nach dem anderen – wie Notschüsse einer Schiffskanone. Aber bei dem letzten Wort, das in diesem würdevollen Zimmer wie ein Fluch klang, fiel das Herz ihm in die Hose. Er sagte nichts mehr, und ein fürchterliches Schweigen herrschte zwischen Vater und Sohn.

Der alte Herr brach es, indem er den Pfandschein aufnahm und las:

»John Froggs, Pleasance 85.«

Dann wandte er sich zu John und schrie mit einem kurzen Aufflackern von Ärger und Ekel:

»Wer ist John Froggs?«

»Niemand. Es war bloß so ein Name.«

»Ein falscher Name!« sagte sein Vater bedeutungsvoll.

»Oh! ich denke, so schlimm ist es wohl nicht,« sagte der Schuldige; »es ist eine bloße Form; sie tun es ja alle; der Mann schien es auch zu verstehen – wir lachten noch recht sehr über den Namen –«

Er stockte plötzlich, denn er sah, wie sein Vater bei der Vorstellung dieser Szene zusammenzuckte, wie einer, der einen körperlichen Schmerz verspürt. Und wieder herrschte Schweigen.

»Ich glaube nicht,« sagte der alte Nicholson endlich, »daß ich ein knauseriger Vater bin. Ich habe dir niemals ohne Grund Geld verweigert, das du zu einem vernünftigen Zweck brauchtest; du konntest jederzeit zu mir kommen und deine Wünsche äußern. Und jetzt finde ich, daß du jeden Anstand und alles natürliche Gefühl vergessen hast; du verpfändetest – verpfändetest! – die Uhr deiner Mutter. Du mußt eine Versuchung gehabt haben; ich will dir zu Ehren annehmen, daß es eine starke Versuchung war. Wozu brauchtest du dieses Geld?«

»Das möchte ich dir lieber nicht sagen, Vater,« sagte John. »Du würdest dich nur ärgern.«

»Ich will dieses Gefasel nicht!« rief sein Vater. »Diese unaufrichtigen Antworten müssen jetzt ein Ende haben. Wozu brauchtest du dieses Geld?«

»Um es Houston zu leihen, Vater,« sagte John.

»Ich meinte, ich hätte dir verboten, mit dem jungen Mann zu sprechen?«

»Jawohl, Vater; aber ich traf ihn zufällig.«

»Wo?« lautete die fürchterliche Frage.

Und: »In einem Billardsaal,« lautete die Antwort, die das Urteil besiegelte.

So hatte Johns erstes Abweichen von der Wahrheit sofortige Strafe herbeigeführt! Niemals würde er einen Billardsaal aus einem anderen Grunde betreten haben, als um Alan zu sehen; aber er hatte seinen Ungehorsam bemänteln wollen, und jetzt war es offenbar, daß er aus eigenem, freiem Antrieb in solchen unreputierlichen Lokalen verkehrte.

Wieder verdaute Herr Nicholson schweigend die üble Kunde; und als John einen verstohlenen Blick auf seines Vaters Gesicht warf, sah er mit Betrübnis die Anzeichen eines tiefen Schmerzes.

»Nun,« sagte der alte Herr endlich, »ich kann es nicht leugnen, ich bin tief gebeugt. Heute morgen stand ich als ein glücklicher Mensch auf, wie die Welt das nennt – glücklich wenigstens über einen Sohn, auf den ich leidlich stolz sein zu können glaubte ...«

Es ging über Menschennatur, dies noch länger auszuhalten, und John unterbrach ihn beinahe kreischend:

»Oh! Oh! das ist noch nicht alles, es ist noch nicht das Schlimmste – es ist gar nichts! Wie konnte ich denken, daß du stolz auf mich wärest? Oh! ich wollte, ja ich wollte, ich hätte das gewußt! Aber du sagtest immer, ich sei eine Schande für die Familie! Das Fürchterliche kommt erst: Wir wurden diese Nacht alle arretiert und wir müssen Colettes Geldstrafe bezahlen – jeder von uns sechs seinen Anteil – oder wir müssen alle als Zeugen auftreten – es handelt sich um verbotenen Ausschank geistiger Getränke. Ich mußte ihnen schwören, es dir zu sagen – aber ich,« schrie er und brach in Tränen aus, »– ich wollte bloß, ich wäre tot!«

Und er fiel vor einem Stuhl auf seine Knie und verbarg sein Antlitz.

Ob sein Vater noch etwas sagte, ob er noch lange im Zimmer blieb oder sofort hinausging – davon weiß die Weltgeschichte nichts zu melden.

Eine gräßliche Unruhe in Leib und Seele; laute Seufzer; abgerissene, zerflatternde Gedanken, bald des Unwillens, bald der Reue; unwillkürliche sinnliche Wahrnehmungen: von dem Geruch der Krollhaare in dem Stuhlpolster, vom Geläute der Kirchenglocken, die über die ganze Stadt hin tönten, von dem harten Fußboden, der seine Knie schmerzen machte, von dem salzigen Geschmack der Tränen, die ihm in den Mund liefen – wie lange dies dauerte, weiß ich nicht; ich will von den schmerzerfüllten Augenblicken nichts weiter sagen; mehr als ich hier gesagt habe, wußte John Nicholson selber von der ganzen Gotteswelt nicht.

Als er endlich, wie von einer Springfeder aufgeschnellt, plötzlich wieder zu klarem Bewußtsein kam und sich sogar ziemlich gefaßt fühlte, da hatten gerade die Glocken ausgeläutet, und die Sabbatstille wurde nur noch durch eilige Schritte verspäteter Kirchgänger gestört. Nach der Uhr über dem Kamin, wie auch nach diesen noch deutlicher sprechenden Anzeichen, hatte der Gottesdienst noch nicht lange begonnen; und wenn Vater Nicholson wirklich in die Kirche gegangen war, konnte der unglückselige Sünder annehmen, daß fast zwei Stunden eines verhältnismäßig weniger entsetzlichen Unglücks vor ihm lagen. Aber wenn sein Vater zurückkam, war unfehlbar der höchste Grad wieder da. Das wußte er – das sagten ihm jede zusammenzuckende Fiber in seinem Körper und das plötzliche Schwindelgefühl in seinem Hirn, das ihn bei dem bloßen Gedanken an dieses Unglück erfaßte.

Anderthalb Stunden, vielleicht eindreiviertel Stunden, wenn der Pastor langatmig war – dann würde wieder die Folter beginnen, vor der er sogar in dem dumpfen Weh des Augenblicks zurückschrak, wie vor Feuer.

Er sah wie in einer Vision den Familienkirchenstuhl, die Sitzpolster, die Bibeln, die Gesangbücher – Maria mit ihrem Riechfläschchen, seinen Vater mit der Brille auf der Nase, mit kritisch-aufmerksamem Gesicht. Und plötzlich packte ihn eine Entrüstung, die nicht unberechtigt war. Es war unmenschlich, zur Kirche zu gehen und einen Sünder in schwebender Pein zu lassen – ohne Bestrafung, ohne Vergebung! Und in dem Augenblick, da die Urteilskraft in ihm erwachte, wurde die fromme Verehrung seines Vaters gemindert, aber die Angst vor dem Vater wuchs nur; und diese beiden Strähne des Fühlens zogen ihn in dieselbe Richtung.

Und plötzlich kam über ihn eine wahnsinnige Angst, sein Vater hätte ihn eingesperrt. Dies Gefühl hatte keinen vernünftigen Grund; es war wahrscheinlich nicht mehr als eine Erinnerung an ähnliche unglückliche Augenblicke während seiner Kinderzeit, denn des Vaters Zimmer war stets der Ort gewesen, wo Gericht gehalten und Strafe vollstreckt wurde; aber dieser Gedanke traf seine Seele so scharf, daß er sofort nach der Tür gehen mußte, um festzustellen, daß er unbegründet war.

Im Gehen stieß er an eine Schieblade des Schreibtisches, die offen gelassen war. Es war die Geldschieblade! – ein Zeichen, wie verstört sein Vater gewesen war. Die Geldschieblade – vielleicht ein Fingerzeig der Vorsehung! Wer will das entscheiden, da sogar Gottesgelehrte über Vorsehung und Versuchung verschiedener Meinung sind? Oder wer, der ruhig in seiner eigenen Gartenlaube sitzt, will Gericht halten über das Tun eines armen gehetzten Hundes, der eine Angst hat wie ein Sklave, sich empört wie ein Sklave, genau wie John Nicholson an eben diesem Sonntag sich ängstete und sich empörte?

Seine Hand war in der Schieblade, beinahe bevor sein Geist die Hoffnung begriff, die er daraus entnehmen konnte. Er hob sich auf die Höhe seiner neuen Situation, setzte sich auf seines Vaters Stuhl und schrieb auf seines Vaters Löschblattunterlage den folgenden kläglichen Verteidigungs- und Abschiedsbrief:

 

Mein lieber Vater – ich habe das Geld genommen, aber ich will es zurückzahlen, sobald ich dazu imstande bin. Du wirst niemals wieder etwas von mir hören. Ich habe es in keiner Weise böse gemeint; darum hoffe ich, du wirst versuchen, mir zu verzeihen. Ich wünschte, du möchtest Alexander und Maria von mir Lebewohl sagen – aber nicht, wenn es dir nicht recht ist. Ich konnte nicht warten, bis du wiederkamst – wirklich nicht. Bitte versuche, mir zu vergeben. Dein dich liebender Sohn

John Nicholson.

 

Nachdem er die Münzen eingesteckt und den Brief geschrieben hatte, konnte er nicht zu früh vom Schauplatz dieser Missetaten verschwinden. Er erinnerte sich, daß sein Vater einmal, wegen eines leichten Unwohlseins, mitten im zweiten Choral aus der Kirche fortgegangen und heimgekommen war. Darum durfte John nicht einmal einen zweiten Anzug zusammenpacken. So wie er war, schlüpfte er aus der Türe des Vaterhauses heraus, und da stand er in dem kühlen Frühlingssonnenschein, in der kühlen Frühlingsluft und in der tiefen Sonntagsstille der Stadt, die das Krächzen der Krähen ihn um so deutlicher empfinden ließ. Keine Menschenseele war am Randolph Crescent, keine Menschenseele in der Queensferry Street. Diese Einsamkeit im Freien und das Gefühl, daß er entronnen war, gaben John wieder Mut; und in einem leidenschaftlichen Gefühl von Abschiednehmen wagte er sogar die Gasse hinaufzugehen und stand eine Weile, ein seltsamer Peri an den Toren eines seltsamen Paradieses, am westlichen Ende der St. Georgs-Kirche. Drinnen sangen sie; und ein eigentümlicher Zufall fügte es, daß es die Melodie von »Saint George, Edinburgh« war, wonach die Kirche den Namen trägt – der erste Choral, der in dem Chor dieser Kirche gesungen worden war. »Wer ist dieser König der Ehren?« sangen die Stimmen drinnen; und John hatte dabei ein Gefühl, wie wenn hiermit für ihn alle christlichen Gebräuche aufhörten, denn von nun an sollte er ein Wilder sein wie Ismael, sollte sein Leben in der Fremde, heimatlos und unter gottlosen Menschen verbringen.

So wandte er seiner Heimatstadt den Rücken – nicht, weil ihn Abenteuerlust trieb, sondern aus reiner Untröstlichkeit und Verzweiflung – und machte sich zu Fuß auf den Weg nach Kalifornien, zunächst aber nach Glasgow.


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