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John Nicholson, der Pechvogel

Erstes Kapitel
in welchem John den Wind sät

John Varey Nicholson war dumm; indessen spreizen Dümmere als er sich jetzt im Parlament und preisen sich selber als die Urheber ihrer Auszeichnung. Er hatte schon als Knabe eine Anlage gehabt fett zu werden, und neigte dazu, die Oberfläche des Lebens lustig und leicht zu nehmen; und vielleicht war diese Geistesanlage die erste Ursache seiner Mißgeschicke. Abgesehen von dieser Andeutung, schweigt die Philosophie über seinen Lebenslauf, und der Aberglaube tritt auf mit der bequemeren Erklärung, daß die Götter ihn nicht lieb hatten.

Sein Vater – dieser eisenfeste alte Herr – hatte sich schon vor langer Zeit auf den hohen Thron der »Disruption Principles« gesetzt. Was das für Prinzipien sind – und trotz ihrem grimmigen Namen sind es ganz unschuldige Prinzipien – das würde keine noch so wortreiche Erklärung dem gewöhnlichen englischen Durchschnittsverstand begreiflich machen; aber für einen Schotten erweisen sie sich oft als salbungsvoll nahrhaft, und Herr Nicholson fand in ihnen die Milch der Löwen. Um die Zeit, wenn die Kirchenvorsteher in Edinburgh zu ihren Jahresversammlungen sich treffen, sah man ihn in Gesellschaft verschiedener Geistlicher mit roten Köpfen den »Hügel« herabsteigen: Sie sehr wortreich, er nur orakelhafte Kopfbewegungen, kurze Verneigungen und das strenge Schauspiel seiner vorgestreckten Oberlippe zu der Unterhaltung beitragend. Die Namen Candlish und Begg kamen oft bei diesen Gesprächen vor, gelegentlich beschäftigten sich die Reden mit dem Residuary Establishment und den Taten eines gewissen Lee. Ein Fremdling in dem abgeschlossenen kleinen theologischen Königreich Schottland hätte zuhören können und würde buchstäblich kein Wort verstanden haben. Und Herr Nicholson – der kein Dummkopf war – wußte dies und war darüber wütend. Er wußte, daß es draußen eine große Welt gab, für die die Disruption Principles wie das Geschnatter von Baumaffen waren; die Zeitung brachte ihm erkältende Ahnungen davon; er hatte Engländer getroffen, die ihn leichthin gefragt hatten, ob er nicht zur Schottischen Kirche gehöre, und die sich dann für seine Beleuchtung dieser interessanten Frage nicht sehr interessiert hatten. Es war eine böse, wilde, aufrührerische Welt, die in Gleichgültigkeit versunken war. Und wenn er in sein eigenes Haus am Randolph Crescent (Südseite) eintrat und die Tür hinter sich schloß, dann schwoll sein Herz von einem Gefühl der Sicherheit. Hier wenigstens war eine Zitadelle, die für Abtrünnige zur Rechten, oder Radikale zur Linken, uneinnehmbar war. Hier war eine Familie, in der die Gebete täglich zur selben Stunde stattfanden, in der die Bücher, die zum Lesen am Sabbat ausgewählt wurden, makellos waren; in der ein Gast, der zu irgendeiner falschen Meinung hingeneigt hätte, sofort wäre zurechtgewiesen worden; und über welcher die ganze Woche, und besonders dicht an Sonntagen, ein Schweigen herrschte, das seinem Ohr angenehm war, und ein Trübsinn, den er behaglich fand.

Frau Nicholson war mit etwa dreißig Jahren gestorben und hatte ihm drei Kinder hinterlassen: eine Tochter, die zwei Jahre, und einen Sohn, der ungefähr acht Jahre jünger war als John; dazu John selber, den unglücklichen Träger eines Namens, der in der englischen Geschichte verrufen ist. Die Tochter, Maria, war ein gutes Mädchen – pflichteifrig, fromm, schwerfällig, aber so leicht zu erschrecken, daß es ganz gefährlich war, sie anzureden.

»Ich glaube, darüber möchte ich lieber nicht sprechen, bitte,« pflegte sie zu sagen, so daß auch der Kühnste schweigen mußte, weil er sah, daß es ihr unverkennbar peinlich war. Dies galt von jedem Thema – Anzug, Vergnügungen, Moral, auch Politik, bei welcher aber die Formel etwas anders lautete, nämlich: »Mein Papa denkt anders darüber!« – und sogar Religion, außer wenn dieses Thema mit einem besonders winselnden Tonfall berührt wurde.

Der jüngere Bruder, Alexander, war kränklich, klug, ein Freund von Lesen und Zeichnen und voll von satirischen Bemerkungen.

In ihrer Mitte stelle man sich nun das natürliche, unbeholfene, unintelligente und lustige Tier John vor. Ungeheuer artig im Vergleich mit anderen Jungen, obgleich nicht annähernd den Ansprüchen des Hauses am Randolph Crescent entsprechend; voll von einer tölpelhaften Zärtlichkeit, voll von Liebkosungen, die niemals sehr warm aufgenommen wurden; voll von plötzlichem und lautem Gelächter, das in diesem stillen Hause wie etwas Verfluchtes klang.

Herr Nicholson selber besaß eine große Anlage zum Humor – Humor von der schottischen Art: verstandesmäßig, sich mit der Beobachtung der Menschen beschäftigend. Sein eigener Charakter zum Beispiel – wenn er ihn hätte an einem andern beobachten können – wäre für ihn ein seltener Leckerbissen gewesen; aber seines Sohnes albernes Gewieher wegen eines zerbrochenen Tellers und dessen alberne, beinahe leichtsinnige Bemerkungen waren ihm peinlich als Anzeichen eines schwachen Geistes.

Außerhalb der Familie hatte John sich schon in frühen Jahren – ungefähr so wie ein Hund hinter einem Marquis herlaufen mag – an die Schritte Alan Houstons geheftet. Das war ein Bursche, ungefähr ein Jahr älter als er, faul, ein bißchen wild. Erbe eines guten Vermögens, das sich noch in den Händen eines strengen Vormundes befand, und so königsmäßig mit sich selbst zufrieden, daß er Johns Ergebenheit als etwas Selbstverständliches hinnahm. Diese Freundschaft war für Herrn Nicholson bittere Galle; sie führte seinen Sohn aus dem Hause, und er war ein eifersüchtiger Vater; sie hielt ihn von der Kanzlei fern, und er war ein gestrenger Lehrherr; und endlich war Herr Nicholson ehrgeizig in bezug auf seine Familie – für welche und die Disruption Principles er ausschließlich lebte – und es war ihm ein verhaßter Anblick, seinen Sohn neben einem faulen Bummler die zweite Geige spielen zu sehen. Nach einigem Zögern befahl er, die Freundschaft solle aufhören – ein unvornehmer Befehl, obgleich er anscheinend durch prophetischen Geist eingegeben war. John sagte nichts und setzte sich heimlich über den Befehl hinweg.

John war beinahe neunzehn, da wurde er eines Tages früher als gewöhnlich aus seines Vaters Kanzlei freigelassen, wo er die praktische Handhabung des Gesetzes studierte. Es war Sonnabend, und abgesehen davon, daß er ungefähr vierhundert Pfund Sterling in seiner Tasche hatte, die er bei der Bank der Britischen Linnengesellschaft einzahlen sollte, hatte er den ganzen Nachmittag zu seiner freien Verfügung. Er ging durch Princes Street und freute sich des milden Sonnenscheins und der kleinen Brise Ostwindes, die die Flaggen auf jener Terrasse von Palästen flattern und die grünen Bäume im Park sich biegen ließ. Die Regimentskapelle spielte drunten im Tal unter dem Schloß; und als die Pfeifer einsetzten, hörte er ihre wilden Klänge mit stürmischer fließendem Blut. Irgend etwas entfernt Kriegerisches erwachte in ihm, und er dachte an Fräulein Mackenzie, die er am Abend beim Essen treffen sollte.

Nun ist nicht zu leugnen, daß er auf dem nächsten Wege hätte nach der Bank gehen sollen; aber gerade auf diesem Wege war das Billardzimmer des Gasthofes, wo Alan beinah sicher zu finden war, und die Versuchung war zu stark. Er ging in das Billardzimmer und wurde gleich bei seinem Eintritt von dem Freund begrüßt, der das Queue in der Hand hielt.

»Nicholson,« sagte er, »du mußt mir bis Montag ein Pfund oder zwei pumpen.«

»Da bist du gerade an den Rechten gekommen!« antwortete John. »Ich habe zwei Pence in der Tasche.«

»Unsinn, du kannst ja was beschaffen. Geh zu deinem Schneider und pump ihn an; alle Schneider tun das. Oder ich will dir was sagen: versetze deine Uhr.«

»O ja – das wäre gerade so was!« rief John. »Und mein Vater?«

»Was wird der davon wissen? Er zieht dir doch nicht nachts die Uhr auf – oder?«

Worauf John in das seinem Vater so unangenehme Gelächter ausbrach.

»Nein, im Ernst: ich bin in der Patsche,« fuhr der Versucher fort. »Ich habe etwas Geld an einen Herrn hier verloren. Ich gebe es dir heute abend wieder, und du kannst das Pfand am Montag wieder auslösen. Komm! Es ist doch schließlich nur eine kleine Gefälligkeit. Ich würde ganz gewiß viel mehr für dich tun.«

Worauf John sich aufmachte und seine goldene Uhr unter dem falschen Namen John Froggs, Pleasance Nummer 85, versetzte. Aber die Ängstlichkeit, die ihn vor der Tür einer so zweideutigen Höhle – einer Pfandleihe – überkam, und die erforderliche Anstrengung, das Pseudonym zu erfinden (das ihm aber aus irgendeinem Grunde durchaus zu dieser Sache zu gehören schien), hatten mehr Zeit in Anspruch genommen, als er geglaubt hatte – und als er mit der Beute nach dem Billardsaal zurückkam, hatte die Bank schon ihre Tore geschlossen.

Dies gab ihm einen bösen Stoß. »Eine geschäftliche Angelegenheit vernachlässigt!« Er hörte im Geist diese Worte von der schneidenden Stimme seines Vaters gesprochen und zitterte – und dann schlug er sich den Gedanken aus dem Kopf. Denn schließlich – wer brauchte es zu erfahren? Er mußte eben die vierhundert Pfund bis zum Montag bei sich tragen, dann konnte er seine Versäumnis heimlich wieder gutmachen; und mittlerweile hatte er seinen freien Nachmittag, konnte auf dem Wandsofa des Billardsaales sitzen, seine Pfeife rauchen, eine Pinte Ale schlürfen und die bescheidenen Wonnen der Bewunderung so recht nach Herzenslust auskosten.

Kein Mensch kann so bewundern wie ein Jüngling. Von allen Leidenschaften und Freuden der Jugend ist Bewunderung die am weitesten verbreitete und am wenigsten verfälschte; und jeder Blitz aus Alans schwarzen Augen; jeder Blick auf seinen Lockenkopf; jede anmutige Handbewegung, jede ungezwungene Haltung, die er in der Ruhe einnahm, wenn er darauf wartete, wieder an den Stoß zu kommen – ja sogar seine Hemdsärmel und Manschettenknöpfe wurden von John in einer strahlenden Glorie gesehen. Er fühlte sich selber wertvoll durch den Besitz dieses königlichen Freundes, streichelte in sich diesen Gedanken und schwamm in lauen, himmelblauen Lüften; seine eigenen Mängel waren überwundene Schwierigkeiten – Dinge, mit denen er sich sogar brüsten konnte. Nur wenn er an Fräulein Mackenzie dachte, fiel auf seine Seele ein Schatten von Bedauern; diese junge Dame verdiente etwas Besseres als den häßlichen John Nicholson, den seine alten Schulkameraden noch immer bei seinem Spitznamen »Dickchen« riefen. Und er hatte das Gefühl: wenn er mit einer solchen sorglosen Anmut mit Alan ein Queue einkreiden oder auf den nächsten Stoß warten könnte – dann könnte er sich dem Gegenstand seiner Schwärmerei mit einem weniger niederdrückenden Gefühl von Minderwertigkeit nähern.

Bevor sie sich trennten, machte ihm Alan einen höchst aufregenden Vorschlag: er würde diese Nacht gegen zwölf Uhr bei Colette sein, sagte er.

Warum sollte John nicht dorthin kommen und sich sein Geld holen?

Zu Colette zu gehen – das hieß allerdings Leben sehen! Es war unrecht; es verstieß gegen die Gesetze; es war ein, wenn auch etwas schmutziges, Abenteuer! Wenn es bekannt wurde, war es gerade so eine Heldentat, die einen jungen Mann bei den ernsthafteren Menschen endgültig um alle Achtung brachte, ihn aber in den Augen der stürmischen Jugend mächtig hob. Übrigens war »Colette« keineswegs eine Lasterhöhle; eine solche Bezeichnung anzuwenden, wäre eine ungeheuerliche Übertreibung gewesen; und wenn es eine Sünde war, dorthin zu gehen, so war es eine Sünde, die sich nur auf den Stadtbezirk erstreckte und gegen die Gemeindeordnung verstieß. Colette – ich weiß nicht genau, ob ich den Namen richtig schreibe, denn ich stand niemals in brieflichem Verkehr mit diesem gastlichen Ausländer – Colette war ganz einfach ein Speisewirt, der keine polizeiliche Erlaubnis hatte, aber Soupers nach elf Uhr abends gab, um welche Zeit alle Edinburgher Gaststätten geschlossen werden. Wenn man zu einem Klub gehörte, konnte man um dieselbe Stunde ein viel besseres Abendessen bekommen, ohne auch nur um ein Jota an öffentlicher Achtung zu verlieren. Aber wenn man kein Klubmitglied war und Hunger hatte, oder wenn man eine Neigung zu Geselligkeit nach Eintritt der Polizeistunde hatte, dann war Colette der Rettungshafen. Man wurde sehr schlecht verpflegt. Die Gesellschaft bestand nicht aus Angehörigen des Senats oder der Kirche; indessen war jenes einzige Mal, als ich den Gesetzen meines Landes ins Gesicht schlug, meinen guten Ruf in meine beiden Hände nahm und mich in dieses gefährliche Speisehaus wagte, der jüngere Nachwuchs der Rechtsanwaltschaft sehr zahlreich vertreten. Und Colettes Gäste, von einem aufregenden Bewußtsein erfüllt, daß sie unrecht taten, und daß »die zweihändige Maschine«, nämlich der Schutzmann, vor der Tür stand, waren vielleicht zu etwas fieberhaften Ausschreitungen aufgelegt. Aber das Lokal war in keiner Weise sehr schlimm, und es erscheint mir jetzt, über den Zwischenraum der Jahre hinüber, etwas sonderbar, wie es zu einem gefährlichen Ruf gekommen sein mag.

Genau in demselben Geiste, wie jemand über einen Plan debattiert, das Matterhorn zu besteigen oder Afrika zu durchqueren, erwog John Alans Vorschlag und nahm ihn mit ungeheurer Kühnheit an. Als er heimging, wogten die Gedanken an diesen Ausflug von den sicheren Stätten des Lebens in eine wilde, gefährliche Gegend in seinem Innern und kämpften in seiner Phantasie mit dem Bilde des Fräuleins Mackenzie – unangebrachte und doch freundliche Gedanken; denn bedeutete jeder von ihnen, daß er seine Vorsätze ganz ungewöhnlicher Weise um einen Pflock zurückzustecken hatte? Lockte ihn nicht jeder und warnte ihn zugleich, zu seinem besseren Selbst zurückzukehren?

Der Widerstreit dieser beiden Erwägungen regte ihn jedenfalls mehr als gewöhnlich auf; und als er nach Hause kam, vergaß er ganz und gar die vierhundert Pfund in der Innentasche seines Überziehers und hängte diesen samt seinem reichen Inhalt an den für ihn bestimmten Haken des Kleiderständers; und hiermit besiegelte er sein Schicksal.


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