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Zweites Kapitel
Die nächtliche Landung der Jacht

Ich kehrte in meine Höhlung zurück, um mir etwas Essen zu kochen, dessen ich sehr bedurfte, sowie auch um für mein Pferd zu sorgen, das ich am frühen Morgen etwas vernachlässigt hatte. Von Zeit zu Zeit ging ich an den Waldrand; aber an dem Holzhause war keine Veränderung zu erblicken, und auf den Dünen war den ganzen Tag über keine Menschenseele zu sehen. Der Schoner draußen auf der See war das einzige Lebenszeichen, soweit mein Blick reichte. Er kreuzte, dem Anschein nach ohne bestimmten Zweck, oder lag still, und so ging das Stunde auf Stunde; als aber der Abend dunkler wurde, kam der Schoner allmählich näher an den Strand. Ich wurde immer fester überzeugt, daß die Jacht Northmour und seine Freunde trug, und daß diese wahrscheinlich an Land kommen würden, sowie es ganz dunkel wäre; nicht nur weil dies zu der Geheimnistuerei in bezug auf die im Hause getroffenen Zurüstungen paßte, sondern auch weil vor elf Uhr die Flut nicht hoch genug gestiegen sein würde, um Graden Floe und die anderen Triebsandstellen zu bedecken, durch die der Strand gegen Eindringlinge verteidigt wurde.

Den ganzen Tag über war der Wind immer schwächer geworden, und infolgedessen auch der Seegang geringer; aber gegen Sonnenuntergang setzte der schwere Sturm vom vorigen Tage wieder ein. Als die Nacht einbrach, wurde es sofort pechfinster. Von der See her kamen böige Windstöße, die wie eine ganze Batterie Kanonen donnerten; ab und zu kam ein Regenguß, und je höher die Flut stieg, desto schwerer rollte die Brandung.

Als ich auf meinen Beobachtungsposten hinter den Holunderbüschen ging, wurde eine Laterne bis an die Mastspitze des Schoners hinaufgezogen; ich erkannte daran, daß er näher am Lande lag, als wie ich ihn in der letzten Dämmerung zuletzt gesehen hatte. Ich zog daraus den Schluß, daß es ein Zeichen für Northmours Helfer am Strande sein mußte; deshalb ging ich in die Dünen hinein und sah mich um, ob ich etwas Dementsprechendes bemerken könnte.

Ein schmaler Fußweg lief am Waldsaum entlang; er bildete die geradeste Verbindung zwischen dem Dünenhause und dem Herrenhause. Als ich in dieser Richtung ausspähte, sah ich keine Viertelmeile entfernt einen Lichtfunken, der sich schnell näherte. Nach dem Hin- und Herschwanken zu urteilen, schien es eine Laterne zu sein, die ein Mensch auf dem Fußwege trug. Diese Person stolperte offenbar von Zeit zu Zeit oder wurde durch besonders heftige Windstöße zurückgeschleudert. Ich versteckte mich wieder zwischen den Holunderbüschen und wartete neugierig auf das Herankommen der Gestalt. Sie stellte sich als eine Frau heraus, und als sie ein paar Ellen weit an meinem Hinterhalt vorüberkam, konnte ich die Züge ihres Gesichtes erkennen: die schweigsame und taube alte Frau, die Northmours Kindermädchen gewesen war, war seine Verbündete bei dieser geheimnisvollen Angelegenheit.

Ich folgte ihr in geringer Entfernung, indem ich mir die unzähligen Erhöhungen und Vertiefungen der Dünen zunutze machte; die Finsternis verbarg mich, und außerdem kam mir nicht nur die Taubheit der alten Amme, sondern auch das Tosen des Sturmes und der Brandung zustatten.

Sie ging in das Dünenhaus hinein, begab sich sofort in das obere Stockwerk hinauf, öffnete eines der Fenster, das nach der See hinausging, und setzte ein Licht hinein. Unmittelbar darauf wurde die Laterne von der Mastspitze des Schoners heruntergeholt und ausgelöscht. Der Zweck war erreicht, und die Leute an Bord waren sicher, daß sie erwartet wurden.

Die alte Frau nahm ihre Arbeiten wieder auf. Obgleich die anderen Fensterläden geschlossen blieben, konnte ich einen Lichtschimmer sich im Hause hin und her bewegen sehen; und Feuerfunken, die aus einem Schornstein nach dem anderen aufstiegen, zeigten mir an, daß die Kamine geheizt wurden.

Ich war jetzt überzeugt, daß Northmour und seine Gäste an Land kommen würden, sobald der Triebsandgrund unter Wasser wäre. Es war eine wilde Nacht, um ein Boot an den Strand zu bringen, und meine Neugier war mit einiger Unruhe vermischt, als ich daran dachte, wie gefährlich die Landung wäre. Mein früherer Freund war allerdings ein höchst exzentrischer Mensch. Aber eine solche Waghalsigkeit war beunruhigend und grenzte an Wahnsinn.

In dem Widerstreit meiner Gefühle ging ich dicht an den Strand und legte mich platt auf den Bauch in eine Kuhle, etwa sechs Fuß von dem schmalen Pfad entfernt, der zu dem Dünenhaus führte. Von dieser Stelle aus würde ich imstande sein, die Ankömmlinge zu mustern, und wenn sie sich als Bekannte erweisen sollten, konnte ich sie begrüßen, sobald sie gelandet waren.

Ziemlich lange vor elf Uhr, als der Wasserstand noch gefährlich niedrig war, erschien eine Bootslaterne dicht am Strande. Hierdurch aufmerksam gemacht, konnte ich eine andere Laterne bemerken, die sich noch in einer ziemlichen Entfernung draußen auf See befand, heftig hin und her geworfen wurde und zuweilen hinter hohen Wogen außer Sicht kam. Das Wetter, das immer schlimmer wurde, je mehr die Nacht vorrückte, und die gefährliche Lage der Jacht auf Legerwall hatten sie wahrscheinlich dazu gebracht, eine Landung so früh zu versuchen, wie dies überhaupt möglich war.

Kurze Zeit darauf kamen vier Matrosen, die eine sehr schwere Kiste trugen, und ein fünfter Mann mit einer Laterne dicht an mir vorüber; sie wurden von der alten Frau in das Dünenhaus eingelassen. Sie gingen wieder an den Strand hinunter und kamen dann mit einer anderen Kiste an mir vorüber, die noch größer, aber anscheinend nicht so schwer wie die erste war. Noch ein drittes Mal machten sie den Weg und bei dieser Gelegenheit trug einer von den Matrosen einen ledernen Handkoffer, die anderen einen Damenkoffer und eine Reisetasche. Dies erregte meine Neugier außerordentlich. Wenn sich unter Northmours Gästen eine Frau befand, so bedeutete das eine Veränderung seiner Gewohnheiten und eine Abtrünnigkeit von seiner Lieblingsauffassung des menschlichen Lebens, daß ich wohl berechtigt war, mich zu wundern.

Als mein Freund und ich das Dünenhaus bewohnt hatten, war dieses ein Tempel des Weiberhasses gewesen. Und jetzt sollte dessen Dach eine Angehörige des verabscheuten Geschlechtes beherbergen! Mir fielen ein paar Einzelheiten ein: einige Anzeichen von einer beinahe koketten Zierlichkeit, die mir am Tage aufgefallen waren, als ich mir die Zurüstungen in dem Hause angesehen hatte. Ihr Zweck war mir jetzt klar, und ich begriff selber nicht, wie ich so stumpfsinnig hatte sein können, ihn nicht sofort zu erkennen.

Während ich mich diesem Gedanken hingab, näherte eine zweite Laterne sich mir vom Strande her. Ein Matrose, den ich noch nicht gesehen hatte, trug sie. Er führte zwei andere Personen nach dem Dünenhause. Diese beiden waren ohne Frage die Gäste, für die das Haus in Stand gesetzt worden war, und ich spannte Augen und Ohren an, um sie genau zu betrachten, als sie an meinem Versteck vorüberkamen.

Die eine Person war ein ungewöhnlich großer Mann, mit einem Reisehut, den er über die Augen gezogen hatte, und in einem von oben bis unten zugeknöpften Hochlandsmantel, dessen Kragen er aufgeschlagen hatte, um sein Gesicht zu verbergen.

Man konnte weiter nichts erkennen, als daß er, wie schon gesagt, ungewöhnlich groß war, und daß er in sehr gebeugter Haltung nur mühsam gehen konnte. An seiner Seite, entweder sich an ihn anschmiegend oder ihn stützend – ich konnte nicht unterscheiden, was davon der Fall war – ging ein hochgewachsenes junges Weib von schlankem Wuchs. Sie war außerordentlich blaß; aber in dem Lichte der Laterne wurde ihr Gesicht so von dunklen wechselnden Schatten überspielt, daß sie ebensowohl so häßlich wie die Sünde sein konnte, als so schön wie ich sie später fand. Gerade als sie bei mir vorbeikamen, machte das Mädchen irgendeine Bemerkung, die in dem Tosen des Sturmes unterging.

»Still!« sagte ihr Begleiter; und in dem Tone, worin das Wort hervorgestoßen wurde, lag etwas, das mir durch Mark und Bein ging und mich aufregte. Das Wort schien aus einer Brust hervorzukommen, die von Todesangst gepeinigt wurde. Niemals in meinem Leben habe ich seitdem wieder eine Silbe so voll von Ausdruck vernommen; und ich höre sie noch jetzt zuweilen wieder, wenn in Fiebernächten mein Geist sich mit den alten Zeiten beschäftigt.

Als der Mann dieses Wort sprach, wandte er sich zu dem Mädchen, und ich erhaschte einen Blick auf einen starken roten Bart und auf eine Nase, die in der Jugend gebrochen zu sein schien; und seine hellen Augen funkelten in einer starken und offenbar ärgerlichen Aufregung aus seinem Antlitz hervor.

Die beiden gingen weiter und wurden ebenfalls in das Dünenhaus eingelassen.

Einzeln oder in Gruppen gingen die Matrosen wieder an den Strand hinunter. Der Wind trug zu mir den Klang einer rauhen Stimme herüber, die ihnen zuschrie: »schiebt ab!«

Dann näherte nach einer Pause eine andere Laterne sich mir. Es war Northmour allein.

Mein Weib und ich, eine Frau und ein Mann, haben uns oft übereinstimmend darüber gewundert, wie ein Mensch gleichzeitig so schön und so abstoßend sein könnte wie Northmour. Er trat auf wie ein vollendeter Gentleman; auf seinen Gesichtszügen lagen Klugheit und Mut so deutlich zu lesen; aber man brauchte ihn nur anzusehen, selbst wenn er seine liebenswürdigen Augenblicke hatte, um sofort zu erkennen, daß er die Gemütsart eines Sklavenschiffskapitäns hatte. Ich habe niemals einen Charakter gekannt, der so aufbrausend und so rachsüchtig gewesen wäre; in ihm vereinigte sich die Lebhaftigkeit des Südländers mit dem verbissenen, tödlichen Haß des Nordländers, und beide Züge standen deutlich auf seinem Gesicht geschrieben, das wie eine Art Warnungssignal wirkte. An Gestalt war er groß, kräftig und beweglich; Haar und Gesichtsfarbe waren sehr dunkel; seine Züge waren schön geformt, aber durch den beständigen drohenden Ausdruck entstellt.

In diesem Augenblick war er etwas bleicher als für gewöhnlich. Seine Stirn war gerunzelt, seine Lippen zuckten und im Gehen sah er sich scharf nach allen Seiten um, wie wenn er von Befürchtungen verfolgt würde. Und trotzdem kam er mir vor, wie wenn ein Ausdruck des Siegesbewußtseins auf seinem Gesicht läge: als ob er bereits viel vollbracht hätte und einem erstrebten Ziele nahe wäre.

Teilweise aus einem gewissen Zartgefühl – das allerdings zu spät kam – teilweise weil es mir Vergnügen machte, einen alten Bekannten zu überraschen, gedachte ich ihm meine Anwesenheit ohne Aufschub kundzugeben.

Ich sprang plötzlich auf, trat vor und sagte:

»Northmour!«

Niemals in meinem Leben habe ich eine so ungeheure Überraschung an einem Menschen gesehen. Er sprang auf mich zu, ohne ein Wort zu sagen; in seiner Hand blitzte etwas; und er stieß mit einem Dolch nach meinem Herzen. In demselben Augenblick traf ihn meine Faust, daß er zusammenstürzte. Ob meine eigene Schnelligkeit oder seine Unsicherheit dies herbeiführte, weiß ich nicht; jedenfalls streifte die Klinge nur meine Schulter, während der Griff und seine Faust mir einen heftigen Schlag auf den Mund versetzten.

Ich floh, aber nicht weit. Ich hatte oft und oft bemerkt, wie ausgezeichnet Sanddünen dazu geeignet sind, lange im Hinterhalt zu liegen, ungesehen vorzudringen oder sich zurückzuziehen. Keine zehn Schritte von der Stelle, wo Northmour den Angriff auf mich gemacht hatte, warf ich mich wieder ins Gras nieder. Die Laterne war zu Boden gefallen und erloschen. Aber wie groß war mein Erstaunen, als ich Northmour in großen Sätzen nach dem Dünenhaus laufen und in dieses hineinschlüpfen sah; ich hörte, wie er hinter sich den Türriegel zustieß, so daß das Eisen klirrte.

Er hatte mich nicht verfolgt. Er war davongelaufen. Northmour, den ich als den unversöhnlichsten und kühnsten Menschen kannte, war davongelaufen!

Ich konnte kaum meinen Sinnen trauen. Aber bei dieser seltsamen Geschichte, an der alles unglaublich war, kam es allerdings auf eine Unglaublichkeit mehr oder weniger nicht an. Denn warum würde das Dünenhaus so heimlich instand gesetzt? Warum war Northmour mit seinen Gästen in tiefster Nacht gelandet, in einem Wind, der ein halber Sturm war, zu einer Zeit, als der Triebsandgrund noch kaum mit Wasser bedeckt war?

Warum hatte er mich zu töten versucht? Hatte er meine Stimme nicht erkannt? Und vor allen Dingen – warum hatte er einen Dolch stoßfertig in der Hand gehalten? Ein Dolch oder auch nur ein scharfes Messer paßte gar nicht zu der Zeit, in der wir lebten. Und ein vornehmer Herr, der an der Küste seines eigenen Landbesitzes von seiner eigenen Jacht landet, ist für gewöhnlich nicht auf ein Handgemenge mit blankem Stahl vorbereitet – selbst nicht, wenn es bei Nacht und unter etwas geheimnisvollen Umständen geschieht.

Je mehr ich über die Sache nachdachte, desto unsicherer fühlte ich mich. Ich zählte mir die einzelnen Umstände der geheimnisvollen Geschichte noch einmal an den Fingern ab: Das Dünenhaus heimlich zur Aufnahme von Gästen zurechtgemacht; die Gäste gehen mit Lebensgefahr an Land und unter Umständen, die auch die Jacht in große Gefahr bringen. Die Gäste oder wenigstens einer von ihnen sind in einer ganz unverkennbaren, anscheinend aber grundlosen Angst; Northmour trägt einen bloßen Dolch in der Hand; Northmour sticht nach seinem besten Bekannten, als dieser ein einziges Wort sagt. Und endlich – das war nicht am wenigsten wunderbar – Northmour flieht vor dem Mann, den er zu töten versucht hat, und verriegelt sich, wie wenn er verfolgt würde, hinter der Tür seines Hauses. Das waren mindestens sechs verschiedene Gründe, um aufs höchste erstaunt zu sein. Jeder dieser Gründe fügte sich in die anderen ein, und alle zusammen bildeten eine zusammenhängende Geschichte. Ich schämte mich beinahe, meinen eigenen Sinnen zu trauen.

Während ich so voller Erstaunen in der finsteren Nacht dastand, begann ich heftige Schmerzen von den Verletzungen zu fühlen, die ich bei der Balgerei erhalten hatte. Ich schlich mich durch die Dünen und erreichte auf einem Umweg wieder den Schutz des Waldes.

Unterwegs kam wieder die alte Kinderfrau ein paar Schritte entfernt an mir vorüber; sie hatte wieder ihre Laterne in der Hand und war offenbar auf dem Rückwege nach dem Herrenhause von Graden. Dies war ein siebenter verdächtiger Umstand. Allem Anschein nach sollten Northmour und seine Gäste ihre Küche und Hausarbeit allein besorgen, während die alte Frau in der großen, leeren Kaserne, die ein Schloß genannt wurde, wohnen blieb. Es mußte unbedingt ein wichtiger Grund vorhanden sein, da man sich mit so vielen Unbequemlichkeiten abfand, um alles geheimzuhalten.

Mit solchen Gedanken beschäftigt, ging ich nach meiner Kuhle. Größerer Sicherheit halber trat ich die glühenden Kohlen meines Feuers aus und zündete meine Laterne an, um die Wunde an meiner Schulter zu untersuchen. Es war eine unbedeutende Schramme, obgleich sie ziemlich stark blutete; ich verband sie, so gut ich konnte – denn sie war ziemlich schwierig zu erreichen – mit ein paar Leinwandfetzen, nachdem ich sie mit kaltem Quellwasser ausgewaschen hatte.

Während ich hiermit beschäftigt war, erklärte ich in meinem Sinn Northmour und seinem Geheimnis den Krieg. Ich bin von Natur kein zorniger Mensch, und ich glaube, in meinem Herzen war mehr Neugier als Rache. Aber meine Kriegserklärung war ganz ernst gemeint, und um mich vorzubereiten, nahm ich meinen Revolver zur Hand, zog die Patronen heraus und reinigte die Waffe mit peinlichster Sorgfalt, worauf ich sie wieder lud. Meine nächste Sorge galt dem Pferd. Es konnte sich losreißen oder es konnte wiehern und auf diese Weise mein Lager im Strandwalde verraten. Daher beschloß ich, es aus meiner Nähe fortzuschaffen, und lange vor dem Anbruch der Morgendämmerung führte ich es über die Dünen in der Richtung auf das Fischerdorf zu.


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