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Viertes Kapitel
Die zweite Aussaat

Es ist nicht meine Aufgabe, John Nicholsons Abenteuer, deren viele waren, zu erzählen, sondern einfach seine augenblicklicheren Mißgeschicke, deren mehr waren als er wünschte, und, vom menschlichen Standpunkt aus, mehr als er verdiente. Wie er nach Kalifornien kam; wie er beschwindelt, bestohlen, geprügelt wurde und hungern mußte; wie er zuletzt von mitleidigen Menschen aufgenommen wurde, durch sie wieder etwas von seinem Selbstgefühl zurückerhielt, und wie er als Buchhalter bei einer Bank in San Franzisko ankam – das würde zu langwierig zu erzählen sein. Auch trugen diese Erlebnisse nicht die Marke des besonderen Nicholsonschen Schicksals; denn sie waren nicht anders, als viele Tausende anderer junger Abenteurer an denselben Tagen und Orten sie erlebten. Nachdem er aber einmal den Posten bei der Bank erhalten hatte, gelangte er für eine gewisse Zeit in äußerst glückliche Umstände. Dies muß ich näher erklären, da diese glücklichen Umstände nur einen Umweg zu neuem Mißgeschick bildeten.

Er hatte das Glück, in einem »Billigen Keller«, wie der technische Ausdruck lautet, einen jungen Mann kennenzulernen und mit Hilfe seines Monatsgehalts, das er bei sich hatte, den neuen Bekannten aus einer Lage zu erretten, die für den Augenblick Schande und für die Zukunft eine mögliche Gefahr bedeutete. Dieser junge Mann war der Neffe eines der Magnaten von Nob Hill, die die Börse von San Francisco befingern – nicht viel anders als bescheidene Abenteurer bei uns zu Hause in einem Parkwinkel zu sehen sind, wie sie den einfachen Kunstgriff mit »Erbse und Fingerhut« zu handhaben wissen: nämlich zu ihrem eigenen Vorteil und zur Entmutigung der Spielwut des Publikums.

So stand es in seiner Macht – und da er von dankbarem Gemüt war, so lag es auch in seinem Wunsch – John auf den Weg zum Reichtum zu bringen. Und ohne Denken oder Mühen, ohne auch nur etwas von dem Spiel zu verstehen, das er spielte, sondern durch einfaches Kaufen und Verkaufen dessen, wovon man ihm sagte, er solle es kaufen oder verkaufen, sah John, ein Spielzeug des Glücks, sich plötzlich im Besitz von elf- bis zwölftausend Pfund Sterling oder, wie er es rechnete, von mehr als sechzigtausend Dollars.

Warum er diesen Reichtum zu erlangen verdient hatte, das war ein Problem, das seine Philosophie ihm ebensowenig lösen konnte, wie das Problem, warum er früher zu Hause Schande geerntet hatte. Gewiß war er in seiner Stellung bei der Bank fleißig gewesen, aber nicht fleißiger als der Kassierer, der sieben kleine Kinder hatte und mit dem es sichtlich bergab ging. Auch war der Schritt, der zu diesem Glück geführt hatte – ein Besuch in einem »Billigen Keller« mit einem Monatsgehalt in der Tasche – keine Handlung von so überirdischer Tugendhaftigkeit oder auch nur Weisheit, daß sie die Gunst der Götter zu verdienen schien. Vielleicht fühlte er dies, oder vielleicht verspürte er einen Schwindel wie Menschen auf einer Wellenschaukel – jetzt himmelhoch, jetzt höllentief – trotz ängstlichem Anklammern; oder vielleicht fürchtete er, heimtückische Menschen möchten den Ursprung seines Vermögens in der Führung seines Kassenbuches bei der Bank argwöhnen – genug, er blieb auf seinem Posten als Buchhalter, sagte von seinen neuen Verhältnissen kein Wort und trug sein Geld zu einer anderen Bank in einer anderen Stadtgegend. Diese Heimlichkeit, so unschuldig sie zu sein scheint, war der erste Schritt zu der zweiten Tragikomödie in Johns Dasein.

Während der ganzen Zeit hatte er niemals nach Hause geschrieben. War es Mißtrauen oder Scham, oder auch ein bißchen Ärger, oder reine Saumseligkeit, oder weil er (wie wir gesehen haben) kein Geschick zum Briefschreiben hatte, oder weil es (wie ich manchmal anzunehmen versucht bin) in der Menschennatur ein Gesetz gibt, das junge Leute, welche sonst durchaus keine Biester sind, davon abhält, diese einfache Handlung der Pietät zu erfüllen – kurz und gut, Monate und Jahre waren verflossen, und John hatte niemals geschrieben. Die Gewohnheit des Nichtschreibens war eigentlich schon in ihm eingewurzelt, bevor er sein Vermögen gewann, und nur die Schwierigkeit, dieses lange Schweigen zu brechen, hielt ihn davon zurück, sofort das Geld zurückzuzahlen, das er gestohlen oder – wie er es zu nennen vorzog – geborgt hatte. Vergeblich saß er vor einem Briefbogen und wartete auf eine Eingebung der Muse; diese himmlische Nymphe flüsterte ihm nur die Worte »Mein lieber Vater« zu und blieb dann hartnäckig stumm. Und dann knitterte John plötzlich den Briefbogen zusammen und beschloß, das Geld persönlich nach Hause zu bringen, sobald er »eine gute Gelegenheit« hätte. Und dieses nicht zu verteidigende Zögern war der zweite Schritt, der ihn in die Schlingen des Glücks hineinführte.

Zehn Jahre waren vergangen, und John war bald dreißig. Er hatte die Versprechungen seiner Knabenjahre gehalten und war jetzt von einer behaglichen Körperfülle, die sich der Korpulenz näherte; er hatte angenehme Züge, gutmütige Augen, ein liebenswürdiges Benehmen, ein stets bereites Lachen, einen langen, sandgelben Backenbart, einen Anflug von amerikanischem Akzent, großes Verständnis für die amerikanische Art von Spaßhaftigkeit und eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Allerhöchsten Persönlichkeit, deren Namen ich nicht nennen will. So sah äußerlich der Mann aus, wie man ihn in der Gesellschaft sehen konnte. Inwendig war er trotz seinem stattlichen Leibe und seinem höchst männlichen Backenbart mehr eine alte Jungfer als ein Mann von neunundzwanzig Jahren.

Als er eines Tages, und zwar war es der Tag vor dem Beginn seines vierzehntägigen Urlaubs, die Market Street hinunterbummelte, fiel sein Blick zufällig auf einige Eisenbahnplakate, und rein zum Zeitvertreib rechnete er sich aus, daß er zum Weihnachtsfest zu Hause sein könnte, wenn er am nächsten Morgen abreiste. Eine drängende Phantasie erfüllte ihn mit Wünschen, und in einem Augenblick entschloß er sich, zu reisen.

Er hatte noch viel zu tun: seinen Koffer zu packen; einen Kreditbrief bei der Bank zu nehmen, deren reicher Kunde er war; gewisse Geschäfte für die andere Bank durchzuführen, bei der er ein bescheidener Angestellter war. Und wie nun einmal die menschliche Natur ist, so kam es, daß von allen diesen Geschäften gerade das letzte vernachlässigt wurde. Die Nacht fand ihn nicht nur mit eigenem Gelde ausgerüstet, sondern wieder einmal (wie bei jener früheren Gelegenheit) mit einer beträchtlichen Summe fremden Geldes beladen.

Nun wohnte zufällig in demselben Kosthaus wie John ein Mitangestellter von ihm, ein ehrlicher Mann, aber mit einer sogenannten Schwäche für geistige Getränke, die übrigens in diesem Fall eine »Stärke« hätte genannt werden können, denn das Opfer war schon seit Wochen ohne die geringste Unterbrechung ständig betrunken gewesen. Diesem Kollegen vertraute der unglückselige John einen Brief mit Wertpapieren an, den er an den Geschäftsführer der Bank überschrieben hatte. Freilich kam es ihm dabei vor, wie wenn er an seinem Treuhänder eine gewisse Verschwommenheit der Augen und Schwerfälligkeit der Zunge bemerkte – aber er war zu voll von Hoffnungen, um sich aufhalten zu lassen, brachte die warnende Stimme in seiner Brust zum Schweigen und übergab mit einer und derselben Handbewegung das Geld dem Buchhalter und sich selber den Händen des Schicksals.

Ich verweile, selbst auf die Gefahr hin langweilig zu werden, bei Johns winzigsten Irrtümern, da sein Fall dem Moralisten so große Rätsel aufgibt; aber wir sind jetzt mit diesen fertig, das Verzeichnis ist geschlossen; der Leser hat das Schlimmste von unserem armen Helden gehört, und ich überlasse es ihm, selber darüber zu urteilen, ob jener Trunkenbold oder ob John am meisten schuld hatte.

Wir haben jetzt das Schauspiel eines Menschen zu verfolgen, der weiter nichts als ein Spielball des Unglücks war, dessen unverdiente Mißgeschicke selbst ein Humorist nicht ohne Mitleid und ein Philosoph nicht ohne Unruhe ansehen kann.

In derselben Nacht betrank der Buchhalter sich so sackstrippenmäßig, daß selbst seine besten Freunde darüber erstaunt waren. Er wurde schleunigst aus dem Kosthause an die Luft befördert; gab seinen Koffer bei einer ihm völlig unbekannten Frau ab, die nicht einmal seinen Namen deutlich verstand; irrte umher, er wußte selber nicht wo, und wurde schließlich in ein Krankenhaus in Sacramento eingeliefert. Hier lag der verbummelte Kerl, unter der undurchdringlichen Anonymität seiner Bettnummer verborgen, noch einige weitere Tage, ohne von irgend etwas eine Ahnung zu haben, besonders aber nicht davon, daß die Polizei ihn suchte. Zwei Monate waren gekommen und gegangen, bevor der in der Genesung befindliche Kranke des Hospitals in Sacramento als Kirkman, der aus San Francisco verschwundene Buchhalter, festgestellt wurde; und dann vergingen auch noch weitere zwei Wochen, bis die ihm vollständig unbekannte Frau aufgestöbert und sein Koffer zur Stelle geschafft werden konnte, worauf Johns Brief endlich mit unerbrochenem Siegel und unverletztem Inhalt zu seiner Bestimmung gelangte.

Unterdessen war John in seinen Urlaub gefahren, ohne der Bankleitung ein Wort zu sagen – das war nicht in der Ordnung; und mit ihm war eine gewisse Summe Geldes verschwunden – und das war zu arg, um bemäntelt zu werden. Aber man wußte, daß er bummelig war, und glaubte, daß er ehrlich sei; außerdem hatte der Geschäftsführer ihn gern; und so wurde wenig gesagt, wenn auch gewiß mancherlei gedacht, bis die vierzehn Tage zu Ende waren und der Augenblick da war, wo John hätte wieder erscheinen sollen. Dann begann allerdings die Sache finster auszusehen; und als nun Nachforschungen angestellt wurden und man entdeckte, daß der vermögenslose Buchhalter viele Tausende Dollars angesammelt und dieses Geld heimlich bei einer Konkurrenzbank niedergelegt hatte, da verließen ihn auch die standhaftesten von seinen Freunden, die Bücher wurden nach früheren, kunstvollen Fälschungen durchsucht, und obgleich keine entdeckt wurden, so war man doch allgemein überzeugt, daß die Bank einen Verlust erlitten haben müsse. Der Telegraph wurde in Bewegung gesetzt, und der Geschäftsfreund der Bank in Edinburgh, wohin John, wie man wußte, sich beträchtliche Summen hatte überweisen lassen, erhielt den Auftrag, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen.

Nun war dieser Geschäftsfreund der Kalifornischen Bank zugleich ein Freund des alten Herrn Nicholson; die Geschichte von Johns bösem Verschwinden aus Edinburgh war ihm wohl bekannt; er reimte sich eins mit dem anderen zusammen und eilte, die erste Nachricht von diesem Skandal nicht der Polizei, sondern seinem Freunde zu überbringen. Der alte Herr hatte seinen Sohn längst als einen Toten angesehen; Johns Platz hatte ein anderer eingenommen; die Erinnerung an seine Verfehlungen war zu einem jener alten Schmerzen geworden, die allerdings gelegentlich wieder aufwachen, die wir aber stets durch eine Willensanstrengung verscheuchen können. Daß nun der längst Verlorene zu neuer Schande wieder auferstand, war doppelt bitter.

»Mac Even,« sagte der alte Mann, »die Sache muß wenn möglich vertuscht werden. Wenn ich Ihnen einen Scheck über diese Summe gebe, deren Fehlen die Bank bestimmt festgestellt hat, könnten Sie es dann auf sich nehmen, die Geschichte ruhen zu lassen?«

»Das will ich tun,« sagte Mac Even. »Ich will die Verantwortung dafür auf mich nehmen.«

»Sie verstehen,« fuhr der alte Herr Nicholson fort, mit fester Betonung, aber mit aschgrauen Lippen, »ich tue das um meiner Familie willen, nicht für den unglücklichen jungen Mann. Sollte es sich herausstellen, daß der andere Verdacht richtig ist, und daß er große Summen unterschlagen hat, dann muß er auf seinem Bett so liegen, wie er es sich gemacht hat.«

Dann sah er mit einem Kopfnicken und eigentümlichem Lächeln zu Mac Even auf und sagte: »Leben Sie wohl,« – und Mac Even bemerkte, daß der Fall zu schwer war, um den alten Mann trösten zu können; er empfahl sich und dankte auf seinem Heimweg Gott, daß er keine Kinder hatte.


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