Stendhal
Amiele
Stendhal

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Letztes Bruchstück

niedergeschrieben am Dienstag, den 15. März 1842 (acht Tage vor Beyles Tod)

[Vorbemerkung: Offenbar plante Stendhal eine gründliche Umarbeitung des ganzen Romans. In dieser neuen Fassung steht Fabian wohl an Stelle von Hans Berville; vgl. S. 120 ff.]

Eines Tages sagte Amiele zu Sansfin:

»Ich habe einem Tapezierer, dem jungen Fabian, vierzig Franken gegeben, damit er mich in puncto Liebe aufklärt.«

Sansfin ist voller Wut und Enttäuschung. Er verläßt Amielens Stube. Im Gang, der zum Salon der Herzogin führt, wo sie inmitten von vier oder fünf Damen aus der Nachbarschaft Hof hält, treffen sich Sansfin und Fabian, der im Begriff ist, den Damen vorgestellt zu werden. Sorgfältigst gekleidet, erscheint er dem Arzt noch geckenhafter denn sonst. Am meisten ärgert ihn Fabians wundervoll gebügeltes Hemd. Eine der Kammerfrauen, die ihn umschmeichelt, hat es ihm hergerichtet.

Der junge Mann gab einem unglücklichen Einfalle nach und warf dem Arzt ein ziemlich geschmackloses Witzwort zu, in der Absicht, ihm das seltsame Abenteuer anzudeuten, das seine Stellung zur schönen Amiele gründlich geändert hatte. Nur zu gut verstand Sansfin den Scherz. Das Herz stand ihm still. Er riß aus seiner rechten Rocktasche den Dolch, den er für den bisher nicht eingetretenen Fall, ob seines körperlichen Gebrechens beleidigt zu werden, immer bei sich trug. Ebenso blitzschnell vergegenwärtigte er sich, daß sein Pferd, genügend angespornt, zwölf Kilometer in der Stunde zurückzulegen vermochte und ihn vor der Verfolgung des Landgendarms von Carville sicherte. Kaum war Fabian sein übler Witz entschlüpft, so antwortete ihm auch Sansfin schon, indem er ihm mitten in das Bruststück seines schön gebügelten und kokett sich spreizenden Hemds einen Dolchstoß versetzte. Fabian hatte beim Aufblitzen der Waffe gerade noch rechtzeitig Angst bekommen. Eine leichte Wendung zur Seite rettete ihm das Leben. Das Hemd war von zarter Hand so steif und glatt gebügelt, daß die Dolchspitze abglitt. Die Hautwunde war belanglos. Gleichwohl glaubte der junge Mann, er sei dem Tode verfallen. Schreiend wollte er in das Zimmer der Herzogin stürzen.

»Unsinn! Es ist nichts weiter! Morgen ist schon nichts mehr daran zu sehen!«

Mit diesen Worten, die Sansfin in seiner Geistesgegenwart ausrief, packte er den jungen Mann an seiner schönen Krawatte, wobei er sie rettungslos zerknüllte.

Fabian nahm es wahr.

»So kann ich mich den Damen unmöglich zum ersten Male präsentieren«, sagte er sich. »Ich sehe ja wie ein schmutziger Arbeiter aus.«

Das machte ihn wütend, und er schrie den Arzt an:

»Sie haben mich auf sechs Wochen arbeitsunfähig gemacht! Das soll Ihnen teuer zu stehen kommen. Mein Vater hat in Paris die besten Beziehungen. Übrigens wird die Frau Herzogin, der ich die Spuren Ihres Attentats zeigen werde, es nicht hingehen lassen, daß man ihre Handwerker halbtot sticht.«

Sansfin ward sich während dieser Worte klar, daß er in der ganzen Gegend erledigt war, wenn der hübsche junge Mann in seinem blutbefleckten Hemd im Salon vor den Damen erschien.

›Das Gescheiteste wäre,‹ sagte er bei sich, ›ich machte diesen Liebsten Amielens gänzlich kalt. Wenn ich nicht das Pech habe, daß mich einer der Lakaien überrascht, stecke ich die Leiche dort in den Kleiderschrank und nehme den Schlüssel mit. Nachts muß mir Amiele eigenhändig helfen, den toten Pariser Schwerenöter verschwinden zu lassen. Ein Mann wie ich ist jeder Lage gewachsen.‹

Da kam ihm ein Gedanke, wie ihn nur ein Normanne haben kann:

›Ich werde dem Kerl ein paar hundert Taler bieten! Irgendwie muß ich meine Torheit sühnen. Ein Lebender ist schließlich bequemer als ein Toter!‹

»Wenn du auf der Stelle mit mir das Schloß verläßt und keinem Menschen etwas verrätst, will ich dir ein Jahresgeld von hundert Talern aussetzen. Du stirbst vor Hunger. Dein geiziger Vater ist erst sechzig Jahre alt. Ehe du ihn beerbst, können noch fünfzehn bis zwanzig Jahre vergehen. Wohingegen du ein schönes Leben führen kannst mit den hundert Talern im Jahre, die ich dir sofort vor dem Notar und zwei Zeugen verschreiben werde.«

Fabian, immer noch voll Wut über seine zerknüllte Krawatte, wollte sich mit Gewalt losreißen. Da packte ihn Sansfin am Halse und erwürgte ihn beinahe.

»Ich stoße dir den Dolch ins Auge!« knirschte er. »Dann bist du dein Lebelang einäugig oder gleich ganz tot! Nimm die hundert Taler Jahresgeld – oder . . .«

Er drückte noch fester zu.

Kaum noch atmend lispelte Fabian:

»Ich nehme das Geld!«

Sansfin hielt ihm mit der Hand den Mund zu und führte ihn eine geheime Treppe hinunter. Ein paar Minuten später waren sie im Freien.

 


 


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