Stendhal
Amiele
Stendhal

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Elftes Kapitel

Fedor von Miossens

Amielens erster Gedanke angesichts einer Tugend war der Argwohn, Heuchelei vor sich zu haben. Doktor Sansfin hatte ihr gepredigt:

»Die Gesellschaft teilt sich keineswegs, wie Toren glauben, in Reiche und Arme, anständige Leute und Schurken, sondern einfach in Betrüger und Betrogene. Das ist der Schlüssel zum Verständnis des 19. Jahrhunderts, der nachnapoleonischen Zeit, denn persönlicher Mut und Charakterstärke vertragen sich mit der Heuchelei nicht. Man ist kein Heuchler mehr, wenn man sein Bataillon persönlich ins Feuer führt. Solche Dinge ausgenommen, schöne Freundin, glaube ich an keine der Tugenden, die irgendwer besitzen soll. Beispielsweise redet eure Herzogin fortwährend von der Gutmütigkeit. Danach wäre dies eine Kardinaltugend. In Wahrheit bedeutet dies weiter nichts, als daß sie wie alle Damen ihres Ranges lieber mit Betrogenen als mit Betrügern zu tun haben will.«

Sansfin fügte hinzu:

»Glaube nun aber nicht etwa aufs Wort alles, was ich dir sage! Wende meine Lehre auf mich an! Weißt du, ob mich nicht irgendwelches Interesse veranlaßt, dich zu täuschen? Ich habe dir gesagt, für mich, der ich mich mit groben Leuten abgeben muß, die einen mit ihren Brutalitäten unterkriegen, wenn man ihnen nicht im Lügen gewachsen ist, sei es ein hohes Glück, ein Wesen gefunden zu haben, das natürlichen Geist besitzt. Die Pflege dieser Natürlichkeit und des Mutes zur Wahrheit gewährt mir so innige Freude, daß ich alles über mich ergehen lasse, was mit meiner Tätigkeit verknüpft ist, um durchs Leben zu kommen. Vielleicht ist alles, was ich dir sage, Lüge. Darum glaube mir nicht blind, sondern gib acht, ob du unter dem, was ich sage, nicht doch zufällig Wahrheit findest! Lüge ich, wenn ich dich auf ein Ereignis von gestern abend aufmerksam mache? Die Herzogin redet fortwährend von der Gutmütigkeit, und gestern abend und heute früh ist sie voller Freude über den Unfall ihrer Freundin, der Gräfin von Sainte-Foi, die vorgestern auf der Heimfahrt nach ihrem Schlosse, eine Viertelstunde von hier, mit dem Wagen umgeworfen und in den Straßengraben geschleudert worden ist.«

Nach diesen Worten verschwand Sansfin. Dies war seine Art, mit Amiele umzugehen. Seine Hauptabsicht war die: Amiele sollte sich bemühen, nachzudenken.

Als der Doktor fort war, sagte sie sich:

›In den Krieg kann ich nicht gehen. Charakterstärke aber kann ich nicht bloß an den anderen sehen, sondern hoffentlich auch selber betätigen!‹

Darin täuschte sie sich keineswegs. Die Natur hatte ihr eine Seele verliehen, wie man sie braucht, um die Kraftlosigkeit zu verachten. Gleichwohl unternahm die Liebe die ersten Stürme auf ihr Herz. Der Abbé Clement kam ihr wieder in den Sinn, und zwar unwillkürlich. In seinem armseligen schwarzen Rocke erschien der junge Mann magerer denn je. Er sah sehr blaß aus. Dies vermehrte Amielens zärtliches Mitleid. Sie wäre glückselig gewesen, wenn sie mit ihm über die rauhen Lehrsätze hätte reden können, die sie der Weltklugheit des Doktors verdankte.

Sie sagte sich:

›Vielleicht verdammt der Abbé die Liebe nur deshalb, weil es ihm der Erzbischof von Rouen anbefohlen hat, wenn er seiner Stelle nicht verlustig gehen wolle. In diesem Falle handelte er durchaus richtig, wenn er so spricht, und ich wäre eine Törin, die er insgeheim auslacht, wenn ich ihm auch nur ein Wort glaubte. Wenn er über die englische Literatur spricht, ist er ein ganz anderer; derlei liegt außerhalb des Interesses seines Erzbischofs, der vielleicht gar nicht Englisch kann. Man will mich über alles, was mit der Liebe zusammenhängt, irreführen. Dabei vergeht kein Tag, an dem ich nicht seitenlang über Liebesdinge lese. Gehören Liebesleute in die Klasse der Betrogenen oder der gescheiten Köpfe?‹

Diese Frage legte Amiele ihrem Orakel vor, dem Doktor Sansfin; der aber war viel zu gewitzigt, als daß er klipp und klar Bescheid gegeben hätte.

»Meine liebe Freundin,« hatte er erwidert, »merke dir: auf derlei Fragen verweigere ich glatt die Antwort. Bedenke jedoch, welche Riesengefahr in deinem Verlangen nach Aufklärung hierin liegt. Das ist so wie mit dem schrecklichen Geheimnis in einem der Märchen in Tausendundeiner Nacht, die dir soviel Spaß machen. Als der Held sich Gewißheit verschaffen will, da schießt ein ungeheurer Vogel vom Himmel herab und hackt ihm ein Auge aus.«

Über diese ausweichende Auskunft war Amiele sehr verstimmt.

»Alle täuschen sie mich in Hinsicht der Liebe!« klagte sie. »Folglich werde ich niemanden mehr um Aufklärung bitten und nur glauben, was ich mit eigenen Augen sehe.«

Die Riesengefahr, die der Doktor angedeutet hatte, reizte ihre Kühnheit.

»Ich will doch sehen, ob Gefahr dabei ist!« rief sie aus. »Das einzige, was ich tatsächlich von der Liebe weiß, ist das, was mir der Onkel mitgeteilt hat, der mir immer wieder vorhält, man dürfe mit einem jungen Manne nicht in den Wald gehen. Gut! Ich werde mit einem jungen Manne in den Wald gehen. Dann werden wir es haben! Und zu meinem kleinen Abbé Clement werde ich doppelt zärtlich sein, bis er ganz toll ist. War er gestern nicht äußerst spaßig, als er voll Zorn seine Taschenuhr herausriß? Wenn ich es mir getraut hätte, hätte ich ihn geküßt! Was für ein Gesicht hätte er wohl dazu gemacht?«

Amielens Wißbegier im Gebiete der Liebe war somit auf das höchste gespannt, als sie eines Tages ein Gespräch zwischen der Herzogin und Fräulein Anselma offensichtlich im Moment ihres Eintritts ins Zimmer zum Abbruch brachte. Es war also von ihr die Rede gewesen!

Die Herzogin hatte in der vergangenen Nacht einen Eilboten aus Paris empfangen. Es war am Vorabend der Revolution. Ein vertrauter Freund vermeldete ihr Einzelheiten, die sie um ihren Sohn bange machten. Die Truppen aus dem Lager von St. Omer seien im Anmarsch auf Paris, um die Verschwörung der liberalen Abgeordneten zur Räson zu bringen. Die Herzogin hatte den Boten sofort zurückgehen lassen, um ihrem Sohne die Nachricht zu geben, sie fühle sich von Tag zu Tag schwächer und bäte ihn um einen Beweis seiner Liebe, vielleicht um den letzten. Er solle binnen zwei Stunden nach Empfang ihres Briefes abreisen und auf drei Tage nach Carville eilen.

Der Besuch der Kriegsschule war eine der Entgleisungen des armen Herzogs. Sie war republikanisch, sogar in der napoleonischen Zeit.

»Ein Herzog von Miossens Republikaner!« sagte die Herzogin entsetzt. »Das wäre wirklich das allerschönste!«

Kaum war der Eilbote auf die geheimnisvollste Weise wieder fortgesandt, als der Doktor Sansfin auch schon die bevorstehende Ankunft des jungen Herrn wußte. Das war ein Ereignis, vor dem er Angst hatte.

Er sagte sich:

»Der junge Mann hat ein hübsches Gesicht. Er trägt Uniform. Die allein genügt, um ihn in Amielens Augen in napoleonische Gloriole zu stellen. Dann habe ich das allerliebste Ding verloren. Was hat es mich schon für Mühe gekostet, sie aus dem Banne des kleinen Abbé Clement zu ziehen. Seine Schüchternheit ist mir zu Hilfe gekommen. Bei dem jungen Herzog kann ich auf diese Bundesgenossin natürlich nicht rechnen. Der läßt sich von seinem gerissenen Kammerdiener lenken. Dieser Lakai ist imstande, sich mit Amiele zu verständigen, und dann habe ich das kleine Mädchen mit Mühe und Not zu einem geistreichen Wesen gemacht, lediglich damit ihre Schäferstunden mit dem jungen Herzog so pikant wie nur möglich ausfallen.«

Zwei Stunden später erschien der ehrenwerte Hautemare in seinem Sonntagsrock im Schlosse. Sein Kommen um 11 Uhr abends deutete auf Außergewöhnliches. Die erste Klingel am Tor des großen Hofes lärmte eine Viertelstunde lang, ehe Johann, der alte Diener, der die äußeren Türen unter sich hatte, wahrhaben wollte, daß es wirklich läutete.

Die Herzogin bildete sich ein, die Glocke klänge unheilvoll.

›Es ist irgend etwas in Paris passiert!‹ sagte sie sich. ›Welche Partei wird mein Sohn ergriffen haben? Du mein Gott, wie unselig, diesen Herrn von Polignac ins Ministerium zu nehmen! Es ist das Schicksal unserer armen Bourbonen, daß sie immer Schwachköpfe als Ratgeber berufen. Sie hatten Herrn von Villèle. Er ist freilich ein Bürgerlicher, aber um so besser hätte er die Bürgerlichen, die den Hof angreifen, gekannt. Die Kriegsschüler werden mit Geschützen nach den Tuilerien geführt worden sein, und die armen Jungen werden, von etwelchen Schmeicheleien des Königs verführt, das Schloß verteidigen wollen wie ehedem die Schweizer am 10. August . . .‹

In ihrer Ungeduld schellte sie allen ihren Kammerfrauen. Sie öffnete die Balkontür und stürzte halbbekleidet auf den großen Balkon.

»Schnell, Johann, schnell! Bequemen Sie sich endlich, aufzumachen!«

»Zum Donnerwetter!« brummte der alte Diener mißlaunig. »So spät aufmachen zu sollen! Madame, ich habe keine Lust, mich totbeißen zu lassen!«

»Sie haben wohl Angst vor den Leuten, die mein Tor belagern? Wer ist es übrigens?«

»Leute?« räsonierte der alte Mann weiter. »Um Ihre Hunde handelt es sich! Die Beester sind hinter mir her. Wie kann man auch englische Bulldoggen kommen lassen. Wo sich ein Engländer festbeißt, läßt er nie wieder los!«

Es währte eine gute Viertelstunde, bis Lovel, der englische Diener, geweckt und angezogen war. Er erfreute sich des Ruhmes, der einzige im ganzen Schlosse zu sein, der sich bei seinen Landsleuten, den Bulldoggen, Gehör zu verschaffen verstand.

Inzwischen klingelte der Küster, in der Meinung, man wolle ihm nicht öffnen, immer heftiger. Dieses laute Schellen, das Gekläff der Hunde, das Keifen Johanns und das Gefluche Lovels wandelten die Aufregung der Herzogin in einen regelrechten Nervenchok. Ihre Kammerfrauen mußten sie ins Bett tragen und ihr Riechsalz vor die Nase halten.

»Mein Sohn ist gefallen!« rief sie. »Bei seiner Rückkehr nach Paris hat der Bote die Revolution bereits im Marsche gefunden!«

In diese Vermutung hatte sie sich gänzlich verrannt, als man ihr meldete, der Einlaß Begehrende sei niemand weiter als der Küster aus dem Dorfe.

Johann hatte ihn beim Öffnen angegrobst:

»Ich wüßte nicht, wer mich daran hindern sollte. Ich brauche dem Lovel nur ein Wort zu sagen, und die Hunde beißen Ihnen die Knochen kaputt!«

»Abwarten!« hatte der Schulmeister geantwortet. »Nachts gehe ich nie aus ohne Säbel und Pistole!«

Die Herzogin vernahm die letzten Worte dieses Wortwechsels. Sie war nahe daran, abermals in Ohnmacht zu fallen, diesmal aus Wut. Da erschien Hautemare, ebenfalls in höchster Wut, in ihrem Schlafzimmer.

»Gnädige Frau,« begann er, »bei allem Respekt, den ich Ihnen schulde, muß ich mir doch unbedingt meine Nichte Amiele zurückerbitten. Es schickt sich nicht, daß sie unter einem Dache mit Ihrem Herrn Sohn wohnt, der sich das Vergnügen machen könnte, eine anständige Familie zu schänden . . .«

»Was muß ich hören, Herr Küster?« erwiderte die Herzogin. »Das erste Wort, das Sie sich mir gegenüber erlauben, nachdem Sie zu ungebührlicher Stunde das ganze Schloß in Aufruhr versetzt haben, ist keine Entschuldigung? Sie kommen mitten in der Nacht her als sei dies hier der Dorfplatz!«

»Frau Herzogin,« begann der Küster von neuem in wenig ehrerbietigem Tone, »ich bitte um Entschuldigung und zugleich um meine Nichte! Meine Frau wünscht nicht, daß Amiele Ihren Herrn Sohn kennenlernt.«

»Was fällt Ihnen ein, von meinem Sohne zu sprechen?« schrie die Herzogin, ganz außer sich.

»Er kann in der Frühe ankommen, und wir wollen nicht, daß er unsere Nichte sieht!«

›Großer Gott!‹ dachte die Herzogin bei sich. ›Die Pariser Verschwörung hat sogar unser Dorf verrückt gemacht! Aber ich darf mich mit diesem dreisten Burschen nicht überwerfen. Er steht beim Proletariat in Ansehen. Das beste wäre, ich verbringe den Rest der Nacht in meinem Turme. In Rouen wird es Mord und Totschlag geben ganz wie in Paris. Nach Rouen kann ich mich also nicht retten! Ich muß meine Zuflucht in Le Havre suchen. Dort wohnen eine Menge Kaufleute, die große Lager voll Waren besitzen. Obwohl sie im Grunde Jakobiner sind, werden sie doch aus Eigennutz eine Weile Widerstand leisten. Meine Cousine, die Larochefoucauld, wurde zu Beginn der Revolution ermordet, weil der Mob erfuhr, daß sie sich Postpferde bestellt hatte. Ich muß den biederen Hautemare auf meine Seite bringen. Leute seines Schlages rutschen vor einem Geldstück auf den Knien. Im Notfalle gebe ich ihm zwei Dutzend Goldstücke, damit er mir Postpferde besorgt.‹

Während dieser Überlegung blieb die Herzogin stumm. Der Küster, den die Schikanen der Bedienten grimmig gemacht hatten, vermeinte, dies Stillschweigen bedeute Weigerung. In frechem Tone sagte er deshalb:

»Madame, geben Sie meine Nichte heraus! Zwingen Sie mich nicht, daß ich sie mir gewaltsam hole, an der Spitze aller meiner Freunde vom Dorfe!«

Diese Unverschämtheit war entscheidend.

Die Herzogin warf ihm einen bösen, haßerfüllten Blick zu; dann aber sagte sie in bestrickendem Tone:

»Verehrter Herr Hautemare, Sie mißverstehen mich gründlichst! Ich will Ihnen Ihre Nichte wiedergeben, aber ich überlegte mir eben, daß die frische Nachtluft ihr Brustleiden verschlimmern könnte. Gehen Sie, bitte, sagen Sie, die Kutsche soll angespannt werden! Ersuchen Sie Fräulein Anselma, daß sie Amiele beim Ankleiden behilflich ist! Ich selbst werde mich auch ankleiden.«

Hautemare tat sein möglichstes, um im Zorn zu bleiben. Ohne seine Nichte konnte er unmöglich heimkehren. Er malte sich den schrecklichen Auftritt aus, den er in diesem Falle von seiner Frau zu erwarten hatte.

Die Herzogin wies ihn energisch aus dem Zimmer. Er verließ es. Sofort stürzte sie an die Tür und schob schleunigst alle drei Riegel vor.

Nachdem sie dies getan, kam ein Moment der Ruhe über sie.

›Da haben wir die Bescherung!‹ sagte sie sich. ›Meinetwegen! Ich nehme meine Diamanten, mein Gold und den falschen Paß, den mir der gute Doktor verschafft hat!‹

In diesem Augenblick war sie höchst energisch. Ohne jemandes Hilfe öffnete sie eine kleine Klappe unter einem der Füße ihres Bettes. An dieser Stelle hatte der Teppich einen Ausschnitt, der sich mit Leichtigkeit lostrennen ließ. Ein gewöhnliches Kästchen enthielt ihre Brillanten. Das Gold machte ihr mehr Mühe. Es waren an die sechs Pfund. Die Edelsteine nebst einem Bündel Banknoten barg sie in ihrem Korsett. Das Gold steckte sie in den Muff. Alles das war in fünf Minuten erledigt.

Sodann eilte sie in das Zimmer Amielens, die sie in Tränen fand. Anselma hatte ihr eben ob der Zudringlichkeit ihres Onkels, in so lächerlicher Stunde das Schloß zu alarmieren, grobe Vorwürfe gemacht.

Angesichts von Amielens Tränen vergaß die Herzogin all die Sorgen, die sie noch eben um sich selbst gehabt hatte. Ihr Mut war im Moment so groß, daß sie laut und herzlich auflachte, als Amiele die Frage tat, wie weit der Brand um sich gegriffen habe. Anselma hatte nämlich auf ihre Frage nur Scheltworte erwidert, und so glaubte sie, es brenne im Schlosse.

»Es ist weiter gar nichts los, Kindchen!« sagte die Herzogin. »Es ist wieder einmal Revolution im Dorfe. Beruhige dich aber! Ich bin mit allem versehen. Wir retten uns nach Le Havre und gehen von dort schlimmstenfalls auf ein paar Wochen nach England. Wenn ich dich bei mir habe, werde ich genau so glücklich sein wie hier im Schloß!«

Bei aller Zärtlichkeit und Zuneigung für Amielen hielt es die Herzogin doch für klug und weise, ihren Sohn nicht zu erwähnen. Sie war entschlossen, etliche Stunden im Turm zu verbringen und daselbst Fedors Ankunft in Carville zu erwarten. Im Falle einer starken Erregung der Bevölkerung wollte sie in der Nacht auf einem Umwege, seitwärts der Heeresstraße, in das Schloß zurückkehren, um ihren Sohn zu treffen.

Amiele bewunderte den großen Mut der Herzogin.

Sie sagte sich:

›Diese großen Damen sind uns Frauen aus dem Volke tatsächlich überlegen. Gewiß, ich hätte keine Angst, mit der Herzogin auf der großen Straße und über den Dorfplatz zu fahren, mag dort alle Welt schreien: ’Hoch der Kaiser!‘ oder ’Hoch die Republik!‘ Wenn die Leute den Wagen der Herzogin zertrümmern, werde ich ihr den Arm reichen, und wir werden stolz durch das Dorf zu Fuß gehen. Iwan und Matthias, die beiden Hilfsglöckner, stehen mir sicherlich bei; und Iwan ist ein starker Mann. Furcht habe ich also keine, aber ich bin ernst und gespannt. Unsere Gnädige hingegen scherzt und bringt uns zum Lachen . . .‹

In der Tat war die Herzogin von bewundernswürdiger Kaltblütigkeit. Anselma und Johann erhielten von ihr tausend Franken in Silbertalern mit der Anweisung, sie unter die gesamte Dienerschaft zu verteilen. Niemand durfte sie begleiten. Ausdrücklich wiederholte sie mehrfach, sie käme am nächsten Tage zurück.

Man hatte den Landauer, der ein prächtiges Wappen auf jedem Schlage trug, angespannt. Obgleich die Zeit drängte, befahl sie, einen kleineren geschlossenen Wagen zu nehmen, der kein Wappen hatte und somit weniger auffiel. Endlich stieg sie mit Amiele und Hautemare ein.

Der Küster war erschöpft. Eine Stunde lang den Wüterich zu spielen, hatte ihn außerordentlich angestrengt. Jetzt hatte er vor Schlappheit Tränen in den Augen; er wußte kaum mehr, was er schwatzte.

Beim Einsteigen hatte die Herzogin Amielen zuflüstern können:

»Dieser Mann darf nichts von unseren Plänen wissen! Vielleicht haben ihn die Jakobiner in ihrem Garne.«

Nachdem sie zehn Minuten gefahren waren, sagte Amiele:

»Gnädige Frau, es ist alles ruhig!«

Der Wagen fuhr mitten durch das Dorf. Vor dem Gemeindeamt brannte friedlich die Laterne. Kein Geräusch ward hörbar; nur aus einer Stube der ersten Stockes drang lautes Schnarchen.

Die Herzogin lachte auf und umarmte Amielen, die vor Rührung und Anhänglichkeit weinte. Mehrere Minuten lang überließ sich die Herzogin ihrem Freudenausbruche. Hautemare war starr vor Staunen.

Die Herzogin hatte den Gedanken:

›Den Argwohn dieses Mannes muß ich verscheuchen!‹

Sie sagte zu ihm:

»Verehrter Hautemare, sind Sie zufrieden mit dem Mute, den ich habe, um Ihre Nichte zu ihrer Tante zurückzubefördern? Sie haben den Schlüssel zum Turm. Schließen Sie ihn auf und machen Sie im zweiten Stocke Feuer! Ich will mich ein bißchen niederlegen, und wenn Frau Hautemare es gestattet . . .« (dem Küster entging die Ironie dieser Worte!) ». . . und weil ich mich vor Gespenstern fürchte, soll Amiele in dem Feldbette neben mir schlafen.«

Sie war so klug gewesen, Hautemare nicht zu fragen, woher er wisse, daß Fedor erwartet werde.

›Er steht offenbar mit den Jakobinern in Verbindung!‹ dachte sie. ›Die Wahrheit sagt er mir doch nicht. Es ist also besser, ihn gar nicht erst stutzig zu machen. Später erfahre ich den ganzen Zusammenhang durch meine kleine Amiele.‹

Jetzt, wo Hautemare gewiß war, von seiner Frau keine Gardinenpredigt zu hören, schämte er sich der groben Worte, die er zur Herzogin gesagt hatte. Frau Hautemares Zorn aber war angesichts der Zuvorkommenheit der vornehmen Dame, die ihr die Nichte persönlich wieder zuzuführen geruhte, völlig verraucht. Sie zog sich an und goß Tee auf. Daß Amiele im Turme schlafen sollte, erlaubte sie ohne weiteres.

Der Küster trug den Tee in den zweiten Stock, fragte, ob die gnädige Frau noch Befehle habe, und zog sich unter tausend Kratzfüßen zurück.

 


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