Stendhal
Amiele
Stendhal

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Achtzehntes Kapitel

Stechpalmengrün

Am anderen Morgen waren die Wiesen noch naß, aber das Wetter war herrlich. Um 3 Uhr stand Amiele an einer Brücke, dreißig Schritte abseits der Heeresstraße.

Fedor ahnte nicht, daß die Entführung bereits an diesem Tage stattfinden sollte.

Amiele sagte zu ihm:

»Ich war so traurig, so gerührt, als ich das Haus und die armen alten langweiligen Leute verließ, daß ich nicht wieder zurück mag.«

Der junge Mann war schon nicht mehr der vom Tage zuvor. Er war überrascht und verwirrt. Erst als ihm Amiele darlegte, daß sie sich mit ihrem Passe und einen Mietswagen nach B*** begeben und daselbst ein oder zwei Tage auf ihn warten werde, bekam er seine Geisteskräfte wieder, und Amiele sah, wie er sich freute.

Sie fragte ihn, ob die Westen aus Paris angekommen seien. Er hatte ihr nämlich tags zuvor lang und breit von einer Auswahlsendung köstlicher Westen erzählt, die ihm sein Schneider angekündigt hatte. Eine besonders, grau auf grau gestreift, solle entzückend sein; ebenso eine Jagdweste der allerneuesten Mode.

Wie er ihr so ausführlich von der grau auf grau gestreiften Weste vorschwärmte, hatte sich Amiele gesagt:

›Offenbar hat er es gern, wenn ich ihm allerlei Einzelheiten aus meinem häuslichen Leben erzähle, denn er erzählt mir ja auch alles, was ihn berührt.‹

Diese kluge Einsicht gebot ihrer Geringschätzung halt.

»Wie gesagt,« begann sie von neuem, »ich reise bis B*** allein, und Sie kommen dahin nach, sobald die Angelegenheit mit den neumodischen Westen Sie nicht mehr im Schlosse zurückhält.«

»Wie grausam Sie sind! Sie mißbrauchen den Geist, den Ihnen der Himmel geschenkt hat. Sie wissen doch, daß Sie meine erste Liebe sind!«

Er sprach voller Grazie, und an netten, feinen, gewinnenden Einfällen fehlte es ihm nie. Amiele ließ ihm in dieser Hinsicht Gerechtigkeit widerfahren. Aber der Gedanke an die grau auf grau gestreifte Weste verdarb ihr die Stimmung.

»Es ist schon aus Vorsicht besser, wenn ich allein reise,« sagte sie, »denn im Falle, daß sich meine armen Pflegeeltern an unseren Nachbar, den Gendarmen Bonel, wenden, können Sie keinesfalls wegen Entführung vor Gericht kommen. Übrigens könnte ich tatsächlich beschwören, daß Sie sehr wenig der Entführer sind! Also aus Vorsicht werden Sie morgen an unserem Hause vorbeifahren. Und auch sonst lassen Sie sich im Dorfe sehen!«

Zunächst machten Amiele und Fedor einen Spaziergang im Walde. Überall standen große, drei bis vier Zoll tiefe Wasserlachen, die zu fortwährenden Umwegen nötigten. Amiele, in Gedanken bei ihren Pflegeeltern, war trübsinnig und nachdenklich. Nachdem sie reichlich lange geschwiegen hatte, sagte sie zum Herzog in festestem Tone:

»Hätten Sie den Mut, mich auf Ihr Pferd zu nehmen und mich in die Nähe von Bayeux, ans andere Ende des Waldes, zu bringen? Dort nehme ich mir einen Wagen. Wenn man mich verfolgen sollte, wird niemand an die Möglichkeit denken, daß ich den Weg durch den jetzt so versumpften Wald genommen haben könne.«

Fedor stand, zu Boden blickend, da und hörte gar nicht, was sie noch sagte. Die grausame Frage: »Hätten Sie den Mut?« hatte in ihm den französischen Ritter erweckt.

»Sie sind gräßlich unfreundlich!« sagte er zu Amiele. »Und ich muß ganz toll sein, daß ich Sie liebe . . .«

»Sie brauchen mich nicht zu lieben!« rief sie. »Man sagt, die Liebe mache demütig. Aber ich täusche mich wohl stark. Hat Ihr Herz wirklich einen anderen Beruf, als sich ernstlich mit den köstlichen Westen zu beschäftigen, die Ihr Schneider aus Paris schickt?«

In diesem Moment gab sich Fedor die größte Mühe, Amiele nicht zu lieben, aber er fühlte, es ging über seine Kraft, sie nicht mehr sehen zu wollen. Er lebte ja nur den ganzen Tag über in der einen Stunde, die er mit ihr verbrachte. Also sagte er ihr eine Menge entzückender Dinge mit ziemlichem Feuer und mit einer Anmut, die anfing, starke Wirkung auf Amiele zu haben.

Als sie sich versöhnt hatten, hob er sie aufs Pferd, nicht ohne allerlei Schäkereien, die einem Verliebten Freude machen. Wo hätte er ein hübscheres, frischeres und vor allem pikanteres Geschöpf finden können? Es fehlte ihr bloß ein wenig an Fülle. »Das ist der Fehler der ganz Jungen!« sagte er sich.

In der Kunst, in den Sattel zu kommen, war er ein Meister. Er sprang hinter ihr auf. Unterwegs ward ihm wiederholt die Erlaubnis zu teil, sie zu küssen.

 

Amiele war bald in B***. Sie erwartete Fedor am nächsten Tage; aber er kam nicht.

›Es fällt mir nicht ein, hier auf ihn zu lauern!‹ sagte sie sich. ›Vielleicht war es ihm nicht möglich, seine Koffer nach Rouen aufzugeben. Aber brauche ich denn dies Puppengesicht? Ich besitze drei Napoleons. Das genügt, bis Rouen zu kommen.‹

Beherzt setzte sie sich in die Abendpost. Es waren bereits vier reisende Kaufleute drin. Das Benehmen dieser Leute empörte sie. Wie ganz anders war doch der Herzog!

Es ward ihr ängstlich zumute. Sie griff sogar zu ihrer Schere und sagte zu ihren Mitreisenden:

»Meine Herren, ich nehme vielleicht eines Tages einen Geliebten, aber keinen von Ihnen! Sie sind mir zu häßlich. Die Hände, die die meinen zu drücken versuchen, sind Hufschmiedshände, und wenn man sie nicht augenblicklich zurückzieht, werde ich sie mit meiner Schere schneiden.«

Und dies tat sie zur großen Verwunderung der Commis voyageurs.

Zur Entschuldigung der vier Kaufleute sei gesagt: erstens: Amiele war viel zu hübsch, um allein reisen zu können, – zweitens: war nichts an ihr problematisch, nur ihre Augen. Ihr Blick war derart lebendig, daß er auf grobe Naturen, die sich wenig auf die Nuancen verstehen, herausfordernd wirken konnte.

Abends um 9 Uhr kam Amiele in N*** an. Bei ihrem Eintritt in den Speisesaal des Gasthofs fand sie an der Tafel ein ganzes Dutzend reisender Krämer. Sie ward der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit und alsbald allseitiger Komplimente.

In der Postkutsche hatte sie die Erfahrung gemacht, daß ein scharfes, im Notfalle verletzendes Wort besser wirkte als sonst was. Einer der Kommis belästigte sie auf das frechste. Er behauptete Amielen zu kennen und begann Liebesabenteuer von ihr zum besten zu geben.

»Sie sind wohl gewohnt, auf den ersten Blick zu siegen?« fragte sie ihn.

»Gewiß!« erwiderte er. »Und die schönen Normanninnen haben mich wahrlich nicht schmachten lassen!«

»Sie machen mir seit einer halben Stunde den Hof auf Ihre Weise. Ich bin Normannin und stolz darauf. Sagen Sie mir bloß, wie kommt es, daß ich Sie lächerlich und blöd finde?«

Alle Anwesenden lachten. Der Don Juan riß vor Wut seinen Stuhl um und verließ den Saal.

Einen häßlichen, aber schüchternen jungen Mann zeichnete Amiele aus. Sie sprach ihn in liebenswürdiger Weise an. Er ward über und über rot und vermochte kaum zu antworten. In wenigen Minuten hatte sie in ihm einen Beschützer gefunden.

Leise riet er ihr, die Wirtin um Tee und um ihre Gesellschaft zu bitten.

»Sie erwerben sich ihre Protektion für die Nacht gegen drei Franken!«

Amiele befolgte diesen guten Rat und lud dann den schüchternen jungen Mann ein, mit ihr und der Wirtin den Tee zu trinken. Er war Provisor in einer Apotheke.

»Habe ich nicht recht,« sagte er zur Wirtin, nachdem er ihren Tee gelobt hatte, »das Fräulein ist viel zu hübsch, um allein reisen zu können? Ihre Augen sprühen zu sehr. Sie müßten Stumpfsinn heucheln. Aber da eine solche Metamorphose unmöglich ist, so will ich ihr ein Rezept geben.«

Das Wort »Metamorphose«, mit besonderem Nachdruck ausgesprochen, imponierte der Gasthofsbesitzerin.

Mit steigender Wichtigkeit fuhr der Apotheker, zu Amielen gewandt, fort:

»Wir zerstoßen die Blätter der Stechpalme. Sie wissen, sie sind am Rande zackig und wunderschön grün. Würden Sie es über sich bringen, solch grünes Pulver auf eine Ihrer Wangen zu reiben?«

Der Vorschlag erregte fröhliches Lachen.

»Wozu aber diese Maßregel?« fragte Amiele.

»Solange Sie das Grün nicht von der Wange waschen, werden Sie garstig aussehen, und wenn Sie den Fleck nicht mit dem Taschentuch verbergen, wird keiner dieser Schwätzer Sie mit seinen galanten Anträgen anöden.«

Man lachte, bis es elf schlug.

»Die Apotheke wird gleich geschlossen«, rief die Wirtin.

Rasch ließ sie noch eine Schachtel Stechpalmengrün holen. Der Apotheker stellte sich vor den Spiegel, rieb sich eine Wange ein und zeigte sich dann den Damen. Er sah abscheulich aus.

»Mademoiselle,« sagte er zu Amiele, »Ihre Koketterie wird einen kleinen Kampf mit der Sehnsucht nach Ungestörtheit bestehen. Sie haben es in Ihrer Macht, morgen früh, wenn Sie in die Postkutsche steigen, ebenso garstig auszusehen wie ich!«

Amiele war höchst vergnügt über das Rezept, aber ehe sie einschlief, dachte sie länger als eine Stunde an Fedor.

›Wie verschieden die Menschen sind!‹ sagte sie sich. ›Dieser Apotheker ist nicht auf den Kopf gefallen und versteht seine Sache. Und doch guckt der Trottel hervor. Was für einen salbungsvollen Ton er annahm, als er den Erfolg seines Rezeptes bemerkte! Diese gescheiten Leute erwecken in mir kein anderes Verlangen als das: zu schweigen. Mit meinem kleinen Herzog kann ich stundenlang plaudern. Leider sage ich ihm zuviel Lieblosigkeiten . . .‹

Fedor traf auch am nächsten Tage nicht ein. Sie vermeinte dies Ausbleiben dahin deuten zu müssen: er habe Charakter. Dadurch stieg er im Ansehen bei ihr.

Sie sagte sich:

›Ich habe ihn zu sehr mit der Grau-auf-grau-Gestreiften geärgert. Jetzt rächt er sich. Um so besser. Ich hätte ihn nicht dazu für fähig gehalten.‹

Wiederum waren die reisenden Kaufleute in der Überzahl im Gasthofe. Amiele warf einen Blick in den Speisesaal und ging wieder in ihr Zimmer, um sich die eine Wange leicht grün zu pudern. Die Wirkung war großartig.

Während der Tafel kam die Wirtin zehnmal in den Saal, um sich das Spiel anzusehen. Lachend bemerkte sie die mürrischen Gesichter der Commis voyageurs, die Amiele betrachteten. Der Wirt, der den Vorsitz hatte, glaubte den Grund der Heiterkeit seiner Ehehälfte zu wissen, und lachte auch. Er überhäufte das arme Mädchen, das eine so garstige Flechte im Gesicht hatte, mit Aufmerksamkeiten, und jedesmal, wenn sie mit ihm sprach, lachte er sich von neuem halbtot.

Mitten bei Tisch erschien der Herzog. Als er Amiele erkannte, war sein Gesicht entzückend. Aber der arme junge Mann konnte keinen Bissen essen, so betroffen war er ob des grünen Flecks, mit dem die abscheuliche Farbe eine der Wangen seiner Freundin verunstaltete.

Amiele glühte vor Ungeduld, mit ihm zu reden.

›Sollte ich ihn lieben? Wer weiß? Wäre das die seelische Seite der Liebe?‹

Sie war nicht gewohnt, ihren Launen Zügel anzulegen. Vor dem Nachtisch erhob sie sich, und wenig später stand auch der Herzog auf. Aber wie sollte er ihr Zimmer finden? Sollte er danach fragen?

Er hielt einen Kellner an; er nannte ihn »du«.

»Habe ich mit Ihnen die Schweine gehütet, daß Sie mich duzen?« entgegnete dieser schroff.

Der Herzog war noch nie ohne Duval gereist. Er drückte einem anderen Kellner einen Franken in die Hand. Der geleitete ihn vor die Tür Amielens, die ihn zum ersten Male in ihrem Leben voll Ungeduld erwartet hatte.

»Ah! Sie sind doch gekommen, Verehrtester!« begrüßte sie ihn. »Lieben Sie mich trotz meines Malheurs?«

Sie bot ihm die grüne Wange zum Kuß.

Fedor benahm sich heldenhaft. Er küßte sie, wußte aber kaum etwas zu sagen.

»Ich gebe Ihnen Ihre Freiheit wieder!« sagte Amiele zu ihm. »Kehren Sie heim! Eine Geliebte mit Flechten im Gesicht mögen Sie nicht!«

»Der Teufel soll mich holen: doch!« erklärte der Herzog und blieb Held. »Sie haben Ihren guten Ruf für mich auf das Spiel gesetzt. Ich werde Sie niemals verlassen!«

»Brav!« sagte Amiele. »Küß mich noch einmal! Ich will dir gestehen, ich habe eine Flechte, die aller Vierteljahre zum Vorschein kommt, besonders im Frühjahr. Fühlen Sie Verlangen, diese Wange zu küssen?«

Es war das erstemal, daß Fedor einen Widerhall seiner Liebkosungen verspürte.

»Ich habe Ihre Liebe erobert!« rief er und küßte sie leidenschaftlich. Und erstaunt fügte er hinzu: »Ihre Haut ist genau so frisch und samtig wie sonst!«

Amiele tauchte ihr Taschentuch in Wasser, preßte es auf ihre Wange und warf sich in Fedors Arme.

Wenn er nicht so überglücklich und so schüchtern gewesen wäre, so hätte er alles haben können, was er so heiß begehrte. Aber als er kühner wurde, war es etwas über eine Minute zu spät.

»In Rouen!« erklärte Amiele. »Nicht eher!«

Dann scherzte sie über seine späte Ankunft und erzählte ihm, daß sie eine Beute der Commis voyageurs geworden wäre ohne den Schutz des Provisors. Der Herzog berichtete ihr von der riesigen Verlegenheit, in der er sich befunden hatte. Er hatte die Dummheit begangen, zu sehr ins einzelne zu lügen. Er hatte seiner Mutter vorgemacht, er habe einen Ausflug nach Le Havre vor, mit Pariser Freunden, die er mit Namen nannte. Die Herzogin, die sie alle persönlich kannte, hatte sofort mitreisen wollen. Erst am nächsten Tage log Fedor dazu, einer seiner Freunde käme in nicht ganz gesellschaftsfähiger Begleitung, mit einer sehr begabten Kabarettsängerin . . .

Mehr wollte die Herzogin nicht hören.

»Genug! Geh allein! Oder besser: geh gar nicht!«

Und nun hatte es eines halben Tages bedurft, bis er die Erlaubnis erhielt.

»Ja, ja,« sagte er, »so geht's, wenn ich Duval nicht da habe! Alles fasse ich falsch an!«

»Aber ich, ich mag den Duval nicht!« sagte Amiele. »Ich will keinem schwachen König angehören. Sie sollen selbständig handeln!«

»Gut!« erklärte Fedor, indem er ihr die Hand küßte. »Somit befehle ich, daß wir unverzüglich nach Rouen aufbrechen.«

Es wurden Pferde bestellt, und am nächsten Tage, früh 5 Uhr, fuhr das Liebespaar in Rouen ein.

 


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