Stendhal
Amiele
Stendhal

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Der Hutmacher von Périgueux

In Versailles, inmitten der frömmelnden und über alles stöhnenden Gesellschaft, kam Graf Neerwinden vor Langeweile um; aber er war in erster Linie ein kluger Kopf, und ein Schachzug seiner ungewöhnlichen Klugheit wendete sein Geschick. Um trotz seiner Verarmung, die ruchbar zu werden begann, ein Liebling der Welt zu bleiben, faßte er den Entschluß, einer betagten vornehmen Dame, der Marquise von Sassenage, den Hof zu machen. Sie war eine der wichtigsten Förderinnen der Kongregation. Seine kernige Natur, seine gierige Eitelkeit verschafften der Marquise Zerstreuung. Ihre Langeweile nahm ab. Um ihn an sich zu ketten und ihn zu weiterer Huldigung zu verpflichten, machte sie ihm den Vorschlag, ein Mann der Kirche zu werden.

Der Graf, der es wie selten einer verstand, seinen Namen zu barer Münze zu machen, entgegnete ihr würdevoll:

»In diesem Falle sterben die Neerwindens aus. Ich bin der Letzte meines Geschlechts, und ich schulde es dem Ruhme Frankreichs ebenso wie dem glorreichen Namen meines Vaters, der ein Freund Jourdans war, daß ich in einer so wichtigen Frage meine Schwester zu Rate ziehe.«

Die Marquise hielt es für ihre Pflicht, der Baronin, die dauernd krank war und der ob ihrer großen Frömmigkeit die Häuser des alten Adels von Périgueux offen standen, diesen Ausspruch durch ihren Beichtvater zu übermitteln. Zufällig lag auch dieser krank darnieder, und so nahm es der Bischof, Monsignore von N***, höchstpersönlich auf sich, die vielvermögende reiche Betschwester aufzusuchen. Er gehörte selber zum guten Béarner Adel; einer seiner Ahnen hatte unter Ludwig XV. das rote Band getragen. Und es fügte sich, daß seine Worte über den Zusammenbruch des Adels der Baronin zu Herzen gingen. Sein Beileid war für sie die höchste Schmeichelei: in den Augen dieses Edelmannes war also auch sie von echtem Adel!

Zwei Tage darauf änderte die Baronin ihr Testament. Sie vermachte all ihr Hab und Gut ihrem Bruder Ephraim, Grafen von Neerwinden, den sie bis dahin so sehr verwünscht hatte. Diese Erbschaft belief sich auf ungefähr zehn Millionen; aber es war eine Bedingung dabei: er mußte sich vor seinem vierzigsten Lebensjahre verheiraten!

Kurz darauf sandte sie ihm, dieweil sein Grafentitel ihre Phantasie behexte, sie, die ihm seit zwei Jahren todfeindlich war, einen Scheck auf 10 000 Franken. Zugleich kündigte sie ihm ein dauerndes Jahresgeld in der nämlichen Höhe an und gab ihm zu verstehen, daß er ihr Haupterbe werde.

Graf Neerwinden bekam den Brief um 4 Uhr, gerade als er zum Diner zur Marquise von Sassenage gehen wollte. Man erwartete ihn daselbst.

Seiner Freude oder Überraschung gönnte er keine zwei Sekunden. Die von der Eitelkeit beherrschten Herzen haben eine angeborene Furcht vor seelischen Erregungen, weil der Weg zur Lächerlichkeit damit gepflastert ist.

»Wie kann ich das zu einer zündenden Anekdote ausbauen,« fragte er sich, »die mir im Klub Ehre macht?«

Er fuhr nach Paris, stürmte in Amielens Zimmer hinauf und riß, ohne dem Freudenschrei der guten Madame Legrand Beachtung zu schenken, Amielens Tür auf. Ihr zu Füßen stürzend, rief er:

»Ihnen danke ich mein Leben! Meine Leidenschaft für Sie hat mich bewogen, das Pistol in die Luft abzuknallen. Sobald ich wieder klar sah und Ihrer göttlichen Schönheit gedachte, habe ich meinen wirtschaftlichen Zusammenbruch meiner Schwester enthüllt. Das Blut der Neerwinden hat sich nicht verleugnet. Sie hat mir einen anständigen Scheck übersandt, und Sie haben gerade noch Zeit, sich für die Oper anzukleiden!«

Der Gedanke, in einer Stunde in der Oper zu sitzen, tilgte in Amielen gründlichst das traurige Bild vom erschossenen Grafen Neerwinden. Sie fuhren bei etlichen Geschäften vor, um Kleid, Hut und Schal der jungen Provinzlerin einer Verwandlung teilhaft werden zu lassen.

Am Abend, nach 7 Uhr, besorgte Neerwinden, auf den das Schuldgefängnis zufolge von vier Haftbefehlen wartete und der nichts sein eigen nannte als den Scheck auf 10 000 Franken, alles das, was zur Ausrüstung einer Frau der großen Welt gehört. Die Ladeninhaber machten ihre Verbeugungen: dieser Käufer benahm sich, als begehe er Gnadenakte.

Auf der Weiterfahrt zum Opernhause sagte Neerwinden:

»Es bangt mir vor Ihrem Herrn Vater, dem Unterpräfekten. Hat er Glück bei der Wahl, wird man ihm eine Verfügung, die Rückkehr seiner Tochter zu erzwingen, nicht verweigern . . . und was wird dann aus meiner Liebe?«

Die letzten Worte hatten einen kühlen Klang.

Amiele sah ihn an und lächelte.

»Nennen Sie sich Madame de Saint-Serve!« fuhr er fort. »Ich wähle diesen Namen, weil ich im Besitze eines schönen Auslandspasses auf den Namen Saint-Serve bin.«

»Damit erbe ich aber auch das Vorleben dieser Dame: schöne Dinge!«

»Sie war ein junges Mädchen, nicht so hübsch wie Sie. Aber ihr Vater war ebenso gefährlich. Sie ging ihm durch, und wir hielten es für angebracht, sie auf dem Passe als die Frau ihres Geliebten zu bezeichnen. Im Auslande ist das besser!«

Die Wiederauferstehung des Grafen machte in der Oper den Eindruck eines Ereignisses, und der Gipfel von Neerwindens Glück war der unverkennbare große Erfolg der Madame de Saint-Serve.

Nach der Oper brachte Neerwinden Amielen in eine kleine Wohnung in der Rue Neuve-des-Mathurins.

»Glauben Sie mir,« sagte er zu Amiele, noch im Rausche der Oper, »es ist das beste, Sie sehen Frau Legrand nicht wieder! Sie könnte verbreiten, daß Madame de Saint-Serve und Fräulein Amiele ein und dieselbe sind. Schreiben Sie mir auf einem Zettel auf, was Sie Frau Legrand ungefähr schulden. Irgendwer wird morgen zu ihr gehen, die Sache bezahlen und ihr eine Empfehlung von Ihnen ausrichten.«

Am anderen Tage ließ er sich nirgends blicken. Seine Freunde unterhandelten mit seinen Gläubigern. Mit Ausnahme der Opernbesucher galt er aller Welt für tot.

 

Neerwinden war ein Meister der Selbstbeherrschung. Er wußte alles zu berechnen. Eines nur fürchtete er: Schmutz, der sein geliebtes Ich berühren könnte, und Niederlagen der Eitelkeit. Alles andere ließ ihn kalt. Sein scheuer kühler Charakter war im Zeitalter des Ehrgeizes und der Mißlaune geformt. Vor 1789 hätte man ihn unendlich langweilig gefunden.

Um 1828 hatten die Frauen in Frankreich nicht viel zu sagen. Neerwinden, der nicht geschaffen war, ihnen zu gefallen, verdankte den Glanz seines Rufes zwei Duellen und vor allem seinem mißtrauischen düsteren Blick, der unerschütterlichen Mut verriet. Sein ein wenig slawischer, aber rassiger Gesichtsausdruck hatte durch einen Anflug von Schwermut oder körperlichem Leid etwas Ungewöhnliches, Verführerisches. Trotz gewisser Widersprüche sagten seine kalten Züge gleichwohl nie etwas, was sie nicht sagen sollten; in wunderbarer Vollendung verbargen sie die häufigen Verstimmungen einer eisigen Seele, die nur die Leidenschaft des Ichkults kannte. Die leiseste Vorahnung von persönlichem Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Ein guter Bekannter hatte einmal von ihm gesagt: »Ein gerissener Regisseur, den der dumme große Haufe für einen Künstler hält!«

Bei seinem klugen, immer auf den Eindruck berechneten ernsten Wesen, fühlte sich Neerwinden am wohlsten in einer Gesellschaft von zwanzig Personen. Er war ängstlich bemüht, sich elegant auszudrücken; feinsinnigen Menschen ging er damit auf die Nerven. Er redete und erzählte leidenschaftlich gern, aber, derb wie er im Grunde war, merkte er nicht, wenn er mißfiel.

Diese Manie zu reden, zu erzählen, über alles zu urteilen, bereitete ihm die qualvollste Pein, wenn ihm irgend jemand etwas vorwegnahm. Zu allem, was gesagt ward, hatte er sofort bissige Bemerkungen, so daß in seiner Gegenwart jedwede Unterhaltung stockte. Vertraut mit ihm zu verkehren, war qualvoll. Sein leidender, zum mindesten finsterer und mißtrauischer Gesichtsausdruck ließ eine witzige neckische Stimmung nicht aufkommen, jene kleinen Anzüglichkeiten, die just der Reiz der französischen Plauderei sind. Sie erheischt einen gewissen Grad von Vertraulichkeit bei den Zuhörern, mit deren Eigenliebe sie ihr Spiel treibt.

Die anderen mochten von der Philosophie der Duldsamkeit und dem Wunsche, friedsam miteinander auszukommen, noch so durchdrungen sein: Neerwindens fortwährende Einwürfe verhinderten auch die einfachste Erörterung.

Amiele vermochte sich über alles das nicht im mindesten klar zu werden. Sie war gutmütig, ehrlich, fröhlich, glücklich, ohne Bosheit in ihres Herzens Grunde. Sie hatte keine Ahnung von den Gründen, die ihm das Leben verleideten. Sie war entzückt über die Rolle, die er ihr in der Gesellschaft zu spielen gab, über das höhere Niveau, auf das er sie gehoben hatte. Wenn sie etwas sagte, hörte man ihr mit wahrer Andacht zu; dies weckte und verfeinerte ihren Geist. Sie plauderte glänzend.

Sie sagte sich:

›Wem verdanke ich dieses Wohlwollen von vornherein, sogar von Leuten, die bei unseren Diners zum ersten Male erscheinen? Einzig und allein dem Ansehen, das der Graf errungen hat! Aber offenbar entnervt ihn die Mühe, die er dabei hat. Daher seine schlechte Laune, wenn wir miteinander allein sind. Also: vermeiden wir es nach Möglichkeit, unter vier Augen zu sein! Sowie ich heim bin, schwindet mein Behagen. Allein mit mir, wird er bitter, fast feindselig, während er vor der Welt feierlich-höflich ist. Gewiß trete ich ihm zunahe, wenn ich das Wort an ihn richte, sogar, wenn ich ihn um seine Meinung frage.‹

Alle diese Grübeleien, die Amiele mehr bloß fühlte als klar erlebte, überkamen Amiele mehr und mehr wenn sie vor dem Spiegel stand, um sich das Haar zu lösen.

›Vor kaum einer Minute‹, sagte sie sich, ›als ich meinen Hut abnahm, saß noch Lachen auf meinen Lippen, und jetzt schau ich finster drein. Ich muß mir Gewalt antun, um nicht in Zorn zu verfallen. Großer Gott, und so ist's alle Abende! Es kommt mir fast vor, als unterliege dieser imposante Mann den Anstrengungen, die er machen muß, um in der Gesellschaft Herr und Meister zu bleiben, und wenn er müde ist, ist er mißlaunig . . .‹

Sie lief in ihr Schlafzimmer und schloß sich ein.

Dies geschah acht Tage nach jenem ersten Opernabend. Amiele besaß den mühelosen Mut, den völlig natürliche Menschen haben.

»Was soll das heißen?« schrie der Graf in grimmigem Tone, als er das Geräusch des Sichverschließens vernahm.

Zu ihrer Belustigung ahmte Amiele den garstigen groben Ton ihres Geliebten nach:

»Das soll heißen, daß ich Euer hochedlen Gegenwart überdrüssig bin!«

›Meinetwegen!‹ sagte sich Neerwinden. ›Habe ich es nötig, mich über ein Geschöpf aufzuregen, von dem alle Welt weiß, daß es mein eigen ist? Die Hauptsache ist und bleibt, daß sie mir mit ihren Mienen und dem Geist, der meines Geistes ist, vor den anderen Ehre macht. Gelegentlich werde ich sie strafen, diese kleine Zimperliese. Ich werde warten, bis sie mich zu sich ruft. Und vor allem, ich werde ihr niemals merken lassen, daß ich mich über ihre Verrücktheit ärgere.‹

Was war der seelische Kern des seltsamen Wesens dieses Mannes? Die unheilvolle Manie, anders zu scheinen als er war. Das ist eine der Hauptursachen der Trübseligkeit des neunzehnten Jahrhunderts. Neerwinden kam vor Angst beinahe um, man könne ihn nicht für einen waschechten Grafen halten.

Das Unglück eines scheinbar so festen Charakters war vor allem eine geradezu kleinmütige Schwäche. Der einfachste alltäglichste Scherz von der Sorte, die schon bei ihrer Geburt an Geistesarmut stirbt, verstimmte ihn auf acht Tage. Sodann war ihm sein Vater, ein Held, den ganz Frankreich, ganz Europa gekannt hatte, der General Boucaud, Graf von Neerwinden, viel zu wenig im Gedächtnis; um so mehr aber sein Großvater Boucaud, ein kleiner Hutmacher in Périgueux.

Die geringfügigste Erwähnung dieses Metiers, ja, wenn irgendwer nur sagte: »Ich will mir einen Hut kaufen!« verleitete Neerwinden, den Sprecher mißtrauisch anzusehen. Dann war er den ganzen weiteren Tag ungenießbar. Unaufhörlich grübelte er bei sich darüber nach: »Soll ich diese Anzüglichkeit überhören? Oder muß ich darüber erbittert sein?«

Seit seinem sechzehnten Lebensjahre folterte ihn der Satz: »Ein kleiner Hutmacher, der seinen Laden in einer der Vorstädte von Périgueux gehabt!« War es nicht wenig wahrscheinlich, daß man den Enkel des Hutmachers Boucaud für einen Uredelmann hielt? Wenn man in seiner Gegenwart den Namen »Boucaud« sprach, so ward er puterrot; daher stammte sein unbeweglicher Gesichtsausdruck. Er mußte eine gewisse Unruhe verbergen, die ihn in einem fort quälte; daher seine unvergleichliche Geschicklichkeit im Pistolenschießen.

Die rechte Geliebte, die ihm die Ruhe und alsbald das Glück seines Lebens gewährt hätte, wäre eine hochgeborene Frau gewesen. Hundertmal am Tage hätte sie ihm zurufen müssen:

»Gewiß, edler Ephraim, du bist wirklich ein Graf. Du hast alles, was ein echter Edelmann besitzen muß, sogar die Aussprache. Am Hofe zu Versailles pflegte man ›piquieu‹ (für pitié) zu sagen; du sagst auch ›piquieu‹! Du hast die nämlichen kleinen Lächerlichkeiten wie die Zeitgenossen Talleyrands!«

Neerwinden hätte Flügeladjutant bei einem Fürsten sein sollen, dessen Rechte nicht ganz klargestellt gewesen wären. Die Etikette war sein Steckenpferd; ihre Probleme beglückten ihn. Er gehörte zu jenen Leuten, die sich einbilden, Orgien, Skandal, sonderbare Worte, ewiges Witzeln über alles, selbst über das, was alle Welt achtet, erhebe sie über die anderen. Ein merkwürdiger Hang für den Enkel eines Handwerkers!

 


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