Stendhal
Amiele
Stendhal

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Einundzwanzigstes Kapitel

Der Graf Neerwinden

Eines Abends war Amiele noch mitternachts bei Frau Legrand. Zu ihrer Belustigung hatte sie sich unterfangen, das Gefallen des behäbigen Herrn Legrand zu erregen. Sie stellte gerade völligen Mangel an Phantasie an ihm fest, als man auf der Straße und alsbald vor dem Hotel großen Lärm vernahm.

»Schon wieder der Graf Neerwinden!« rief Frau Legrand.

Neerwinden war, was man in Paris einen liebenswürdigen jungen Mann nennt. Seine Beschäftigung war, kreuzvergnügt ein Vermögen von ursprünglich 80 000 Franken Jahresertrag durchzubringen. Dieses hatte ihm sein Vater, der General Graf von Neerwinden hinterlassen. Das war erst drei Jahre her, und schon war er genötigt gewesen, sein eigenes Haus zu verkaufen und sich in einem Hôtel garni zu bescheiden.

An diesem Abend äußerte sich Neerwindens übermäßiger Alkoholgenuß darin, daß er wie ein Wasserfall redete und nicht zu bewegen war, sein Zimmer aufzusuchen.

»Wozu erst zwei Stiegen hinaufklettern?« sagte er. »Morgen muß ich doch wieder hinunter.«

Frau Legrand, die es versuchte, Neerwinden in sein Zimmer zu führen, bekam auch nichts anderes aus ihm heraus.

Die beiden Lakaien, die ihn hergebracht, verschwanden.

Er drohte, das »verfluchte Hauspersonal« niederzuboxen, worauf diese Leute Frau Legrand ersuchten, sie von der weiteren Bedienung dieses »unangenehmen Gastes« zu entbinden.

Diesen Ausdruck griff der angeheiterte junge Mann sofort auf.

»Unangenehm?« rief er. »Durchaus nicht unangenehm! Im Gegenteil, seit ich hier im Hause wohne, hat sie noch kein Sterbenswörtchen geredet. Tut nichts! Das ist gerade das Charakteristische, das Eigenartige an dieser jungen Dame. Aber ich werde sie erziehen! Sie rennt ja geradezu. Man müßte sich schämen, mit ihr zu gehen. Auch versteht sie nicht, einen Schal zu tragen. Ich werde ihr imponieren – oder der Teufel soll mich holen! Sie haben ja alle kapituliert. Das heißt, sie ist nicht wie die Andern, und ich, ich soll in mein Zimmer hinauf. Ich bin auch nicht wie die Andern. Jeder Andere geht auf sein Zimmer. Ich nicht. Habe ich nicht recht, Frau Legrand, zu was soll man in sein Zimmer hinauf, wenn man morgen doch wieder herunter muß?«

Dieses Geschwätz dauerte eine gute Stunde. Frau Legrand war in starker Verlegenheit. Sie war in einem guten Hause Jungfer gewesen, bei der Gräfin Damas, und hatte vor Rang und Titeln kolossalen Respekt. Einem jungen Edelmann, der sich standesgemäß zugrunde richtete, hätte sie um keinen Preis der Welt irgendwie Zwang angetan. Dessenungeachtet mußte er unbedingt zu Bett gebracht werden. Schon dachte sie daran, den Hausknecht und die Küchenjungen wecken zu lassen, als der Graf abermals sein Vorhaben mit Amiele zu erläutern begann.

Da rief Frau Legrand das junge Mädchen, das bei ihrer ersten Erwähnung geflüchtet war, und bat sie, dem Grafen von Neerwinden zu befehlen, in sein Zimmer zu gehen.

»Liebe Frau Legrand,« wandte Amiele ein, »bedenken Sie, daß der junge Mann daraufhin das Recht hat, mich morgen anzusprechen!«

»Ach, morgen weiß der von heute überhaupt nichts mehr!« erwiderte Frau Legrand. »Ich kenne ihn. Es ist nicht das erstemal, daß er in diesem Zustande heimkommt. Ich muß ihn aber nun doch in aller Höflichkeit ersuchen, sich ein anderes Hôtel zu wählen. In seiner Erhabenheit duzt er mein Personal. Natürlich will keiner etwas mit ihm zu tun haben.«

»Er betrinkt sich also öfters?« fragte Amiele.

»Tag für Tag, glaube ich! Sein Leben ist ein Potpourri von Torheiten. Er setzt seine Ehre darein, für den Tollsten der jungen Lebewelt zu gelten. In der letzten Zeit war er wenigstens nicht ganz so voll wie heute. Den Kutscher, der ihn hergefahren, den hat er übrigens auch verhauen.«

›So! Dann ist er von etwas derberem Schrot und Korn als mein kleiner Herzog!‹ dachte Amiele bei sich. Daß er den Droschkenkutscher verprügelt hatte, belustigte sie. Und als Frau Legrand ihre Bitte wiederholte, ging sie an die Treppe und sagte gebieterisch:

»Graf Neerwinden, begeben Sie sich augenblicklich auf Nummer 12!«

Der übermütige junge Mann hörte auf zu reden, starrte Amiele einen Augenblick an und meinte dann gelassen:

»Nicht übel! Alle anderen sagen zu mir, ich solle in mein Zimmer hinauf. Dieses kluge Menschenkind, eben aus der Provinz eingetroffen, meint, ich hätte meine Zimmernummer vergessen. Man befiehlt mir: Begeben Sie sich augenblicklich auf Nummer 12! Schön! Das nenne ich wahre Höflichkeit! Und niemand soll von einem Neerwinden sagen, er gehorche dem Befehl einer schönen Dame nicht! Obendrein einer, die gerade keinen Liebsten hat. Jamais! Fräulein Amiela, ich komme Ihrem Befehle nach und begebe mich auf Nummer 12. Ausgerechnet Nummer 12. Weder Nummer 11 noch auch Nummer 13. Pfui Teufel, die 13 ist eine üble Nummer . . . Ich begebe mich augenblicklich auf Nummer 12. Jawoll!«

Er ergriff den Leuchter, den ihm Frau Legrand reichte, und stieg entschlossen die Treppe hinauf und nach Nummer 12, wobei er immer von neuem wiederholte, daß er niemals einer jungen Dame etwas abschlüge, die gerade keinen Liebsten habe.

Am anderen Morgen thronte er im Lehnstuhle seines Zimmers, einen prächtigen Schlafrock angetan, als der Portier des Hôtels eintrat.

»Du kommst wie gerufen«, bewillkommte ihn der junge Mann. »Berichte mir mal, wie Seine Durchlaucht heute nacht nach Haus gekommen ist! Ein bißchen angesäuselt, was?«

»Herr Graf,« erwiderte der Portier im groben Tone des beleidigten Lakaien, »wenn Sie nicht anders mit mir reden, gebe ich keine Antwort!«

Neerwinden warf ihm ein Fünffrankenstück hin.

Der Portier hob es auf und holte aus, als wolle er ihm die Münze an den Kopf werfen.

Neerwinden lachte unbändig. Einer der Schauspieler des Théâtre Français fiel ihm in einer bestimmten Rolle ein, in der des Moncade.

Der Lakai wurde blaß vor Wut.

»Ich weiß nicht, was mich abhält,« sagte er, »Ihnen den Mammon ins Gesicht zu werfen? Ich habe bloß Angst, eine der schönen Porzellanvasen von Madame zu treffen . . .«

Er ging an das offene Fenster, sah einen Augenblick hinaus und warf dann das Geldstück auf die Straße hinunter. Es rollte bis zur nächsten Straßenecke, wo sich ein Dutzend Gassenbengel darum balgten.

Dieses Schauspiel beschwichtigte den Portier sichtlich. Im Bewußtsein seiner körperlichen Überlegenheit erklärte er dem Grafen:

»Wenn Sie Ihr anmaßendes Benehmen beibehalten wollen, so halten Sie sich eigene Bediente, die sich das gefallen lassen! Sie hätten Ihr Geld hübsch zusammenhalten müssen. Sollten nicht dem Schuldgefängnis zusteuern! Wer den großen Herrn spielen will, darf vor allem kein armer Schlucker sein. Was hätte Ihr Herr Vater, der ehrenwerte General, gesagt, wenn er es erlebt hätte, daß sein Sohn vor Sonnenuntergang nicht auszugehen wagt?«

»Na, lieber Schorsch, da Sie den ersten Fünfer zum Fenster hinausgeschmissen haben, nehmen Sie diesen zweiten für Ihre guten Ratschläge!«

Georg nahm das Fünffrankenstück. Von einem General des Kaisers hätte er einen Fußtritt hingenommen. Derart geheiligt ist das Andenken Napoleons im französischen Volke. An die dahingegangene Republik erinnert es sich nicht. Die Fürstengestalten tragen die großen Erinnerungen der Völker.

Neerwinden war entzückt über den Abschluß, den sein dummer Streich gefunden hatte. Er gehörte zu denen, die sich langweilen, wenn sie nichts zu tun haben. Sein Herz hatte keinen Inhalt.

›Das wäre erledigt!‹ sagte er sich. ›Jetzt zu Frau Legrand! Soll ich diese ehemalige ehrenwerte Kammerzofe von oben herab behandeln, von der Höhe meines verluderten Mammons, oder soll ich den guten Kerl spielen? Natürlich: den guten Kerl! Da hätte ich doch beinahe die schöne Amiela vergessen! Die muß ich haben! Was ist das eigentlich für ein Mädel? Hat sie bereits ihren Schatz, diese Dame aus Hinterpommern? Vielleicht hat sie mir meine gestrige Bezechtheit schwer übelgenommen. Also: gut und lieb! Madame Legrand wird mir eine Standpauke halten, aber dabei erfahre ich das nötige über Amiele!‹

Allmählich bekam er seinen klaren Kopf wieder. In seinem Prunkgewand stieg er die Treppe hinab.

Unten begann er:

»Verehrteste Frau Legrand, gütigste Freundin, Sie müssen mir einen Tee machen! Und erzählen Sie mir ein bißchen, was ich gestern abend beim Nachhausekommen gefaselt und verbrochen habe . . . Ah, Mademoiselle Amiele!«

Er tat, als bemerke er sie eben erst, und machte ihr die ehrerbietigste Verbeugung.

»Ich würde auf der Stelle tausend Taler zahlen,« fuhr er fort, »wenn Sie gestern abend vor 11 Uhr in Ihr Zimmer hinaufgegangen wären. Unser Fest begann um acht. Mir ist so, als hätte ich es 10 Uhr auf den diversen Uhren schlagen hören. Das ist meine letzte deutliche Erinnerung. Alles Spätere ist wüstes Chaos in meiner Seele . . .«

Frau Legrand unterbrach ihn:

»Bei Gott, lieber Herr Graf, ich bin trostlos, Ihnen Unangenehmes eröffnen zu müssen. Keiner meiner Dienstboten will Sie weiter bedienen. Sie haben sie alle vor den Kopf gestoßen, und ich kann meine leidlichen Leute nicht wegschicken, weil sie sich weigern, Dienste zu tun, zu denen sie nicht verpflichtet sind. Mein Mann ist mit mir im Einklang: wir ersuchen Sie, sich nach einem anderen Quartier umzusehen! Die Fremden müssen eine üble Meinung von unserem Hôtel bekommen, wenn sie Auftritte wie den gestrigen sehen. Sie haben in einem fort von wenig anständigen Dingen geredet!«

»Ich wette, von der Liebe!« lachte Neerwinden. »Nichts im Leben interessiert mich noch, weder die Gäule noch das Jeu! Ich bin anders als die anderen jungen Leute. Wenn ich kein zärtliches Wesen habe, mit dem ich ein Herz und eine Seele bin, bin ich schwermütig. Der Tag wird mir dann so lang wie ein Jahrhundert. Um auf andere Gedanken zu kommen, lasse ich mich zu Gelagen einladen, und weil mein Herz leer ist, so . . .«

»Schwindler!« rief Frau Legrand, die ihre ernste Miene aufgab. »So gefühlvoll reden Sie nur, weil noch ein paar andere Ohren als bloß die meinen Ihnen zuhören. Haben Sie wirklich die Kühnheit, zu behaupten, Sie liebten etwas anderes als ein schönes Pferd oder einen gut gemachten Anzug von moderner Farbe, der Ihnen gut steht, vormittags, wenn Sie durch das Bois de Boulogne promenieren, oder abends, in Ihrer Loge in der Oper, oder hinter den Kulissen?«

»Trefflichste Frau Wirtin, Sie sagen mir, ich solle mir eine eigene Wohnung und eigene Diener halten! Glauben Sie, ein Neerwinden wohne zu seinem Vergnügen in einem Gasthofe, wenn er auch noch so anständig ist und allen anderen als Vorbild gelten kann? Sie vergessen, daß ich zur Zeit ruiniert bin! Ich weiß ja nicht einmal, ob ich in zehn Wochen noch das armselige Zimmer bezahlen kann! Zum Glück besitze ich die Natur meiner Vorfahren. Frau von Maintenon, eine Verwandte von mir, war im Gefängnis geboren, hatte einen unadeligen Witzemacher geheiratet, den Scarron, und sie ist trotz alledem als die Gattin des größten Königs gestorben, der je auf Frankreichs Thron gesessen hat. Sehen Sie: es gibt Tage, wo mich mein Gefängnis verdrießt, denn, offen und ehrlich, ein Gasthof, und ist er noch so gut gehalten, mit einem Personal, das mir gegenüber streikt, ein solcher Gasthof ist für mich ein Gefängnis. Verdenken Sie mir es wirklich, wenn ich mich hin und wieder in der Weinlaune verliere, um alle meine Misere zu vergessen? Nehmen Sie mich ruhig ernst in meiner vorübergehenden Armut. Ich bin toll verliebt. Und ich kenne mich. Die Liebe ist kein alter Witz. Bei mir ist sie eine folgenschwere Leidenschaft. Ich liebe wie jene mittelalterlichen Ritter, die aus Liebe zu großen Taten begeistert wurden . . .«

Amiele war blutrot geworden. Neerwinden beobachtete es.

›Dies schöne Geschöpf ist mein!‹ sagte er sich. ›Sie wird in der Oper Aufsehen erregen. Nur muß ich sie anständig anziehen. Und eines, Neerwinden! Solch eine junge Gazelle mußt du hinter hohem Gitter halten. Sonst springt sie dir über die Schranken. Seien wir vorsichtig!‹

Neerwinden machte auf Amiele den Eindruck eines glänzenden und sehr unterhaltsamen jungen Mannes. Gleichwohl hatte er nicht ein Wort gesprochen, das nicht auswendig gelernt gewesen wäre. Gerade darum war der Eindruck um so tiefer. Seine ganze wechselvolle Beredsamkeit war ausgeklügelt und auf die Kontrastwirkung berechnet. Entzückende Unbedachtsamkeiten wechselten ab mit rührsamen Improvisationen.

Er sah die Wirkung, die dies auf das junge Mädchen hatte. Amiele, die in einer Ecke des Boudoirs saß, sagte kein Wort; aber bei der Stelle, wo der junge Mann seine Lage schilderte, wechselte sie die Farbe. Frau Legrands Vorwürfe und Ratschläge gaben ihm die natürlichste Gelegenheit, von sich selbst zu sprechen, und davon machte er sattsam Gebrauch.

 


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