Stendhal
Amiele
Stendhal

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Siebzehntes Kapitel

Der Pass

Die Liebelei spann sich weiter, in der nämlichen Tonart. Amiele war Fedors unumschränkte wie launenhafte Gebieterin. Nach vierzehn Tagen wurden die Stelldicheins häufiger, weil Amiele sich zu langweilen begann, wenn sie den hübschen Jungen nicht quälen konnte. Er war toll vor Liebe. Sie tat von früh bis abends nichts als neue Quälereien zu ersinnen.

»Kommen Sie morgen in Schwarz!« befahl sie ihm eines Tages.

»Ich werde gehorchen. Wozu aber dies Trauerkostüm?«

»Ein Vetter von mir ist neulich gestorben. Er war Käsefabrikant.«

Sie amüsierte sich über den Eindruck, den diese Todesanzeige auf den jungen Kavalier machte.

›Wenn dies je ruchbar wird,‹ sagte er sich melancholisch, ›ich bin auf immerdar erledigt!‹

Er bat seine Mutter, nach Paris zurückkehren zu dürfen. Sie erlaubte es nicht. Wahrscheinlich hätte er auch nicht den Mut gehabt, dort zu verbleiben.

Als er am anderen Tag zum Stelldichein ging, nach einer Holzschuhmacherhütte in einem entfernten Walde, sagte er sich:

›So leugne einer noch die Ausbreitung des Jakobinertums! Ich trage Trauerkleider um einen Proleten!‹

Wie Amiele ihn prompt in Schwarz kommen sah, rief sie ihm zu:

»Küsse mich!«

Der liebe Junge weinte vor Freude, aber Amiele verspürte nichts als das Glück ihrer Macht. Sie erlaubte ihm, sie zu umarmen, weil ihr die Tante an diesem Tage eine heftigere Szene denn je gemacht hatte, wegen ihrer häufigen Zusammenkünfte mit dem jungen Herzog. Das ganze Dorf redete bereits davon. Umsonst wählte Amiele immer neue Orte.

Seit drei Tagen machte es ihr besonderes Vergnügen, sich von Fedor die kleinsten Einzelheiten seines Pariser Lebens erzählen zu lassen. Darüber vergaß sie alle Vorsicht.

Der Tag neigte sich längst. Amiele und ihr Freund kamen aus dem Gehölz und schlenderten dem Dorfe zu. In gewinnender Natürlichkeit und mit viel Witz schilderte Fedor, wie er in Paris den Tag totschlug.

Plötzlich gewahrte Amiele von weitem ihren Onkel Hautemare, der eben einem Wagen entstieg, den er gewiß für teures Geld gemietet hatte, um ihr nachzuspüren. Bei seinem Anblick war ihre Geduld zu Ende.

»Haben Sie Ihren treuen Duval noch?«

»Gewiß!« erwiderte Fedor lachend.

»Schicken Sie ihn mit dem Auftrage, irgend etwas zu holen, nach Paris!«

»Ich entbehre ihn höchst ungern.«

»Sie weinen wie ein kleines Kind, wenn die Wärterin weggeht! Übrigens, versuchen Sie nicht, mich zu finden, solange Duval noch in Carville ist! Dort kommt mein Onkel. Er rennt mir nach. Schade, daß ich ihn nicht wegschicken kann wie Sie! Leben Sie wohl!«

Hautemare hielt ihr eine endlose, sehr unangenehme Rede. Zu Hause wiederholte sich das. Frau Hautemare ergriff das Wort und hörte nicht gleich wieder auf. Amiele verlor vor Ekel jedwedes Gefühl. Sie hätte sich ohne Überlegung in einen Strom gestürzt, um ihren Onkel oder ihre Tante zu retten, wenn sie ins Wasser gefallen wären. Sobald die beiden aber zu ihr, die sich bei ihnen so langweilte, von ihren weißen Haaren redeten, die durch ihr Benehmen entehrt würden, waren ihr die Alten widerlich.

Am Schlusse seines pathetischen Wortschwalls verlangte der Küster von Amielen, sie solle ihm ihr Wort geben, daß sie tags darauf nachmittags nicht ausgehen werde. Sie hatte keinen ernstlichen Grund der Weigerung, und ihre Ehre war ihre Religion. Hatte sie einmal ihr Wort gegeben, so durfte sie es nicht brechen.

Als der Herzog sie an keinem der gewohnten Trefforte fand, war er verzweifelt. Nach einer Nacht voll Hin- und Herüberlegen hatte er seiner Gebieterin den Mann geopfert, der sein Herr und Meister war. Er behielt nur eines im Auge: dem Diener den Anlaß zu seiner Verbannung zu verheimlichen. Deshalb überhäufte er ihn mit Gunstbezeigungen und gab ihm den Auftrag, Erkundigungen über das Leben seines besten Freundes, des Vicomte D***, einzuziehen. Es handle sich darum, die Hand von Fräulein Ballard, der Tochter eines reichen Lederfabrikanten, zu erringen. Ein gemeinsamer Freund habe ihm mitgeteilt, der Vicomte sei sein Mitbewerber.

Drei Tage goß es in Strömen. Dieses mißliche Wetter im Verein mit den Strafpredigten der Hautemares tilgte in Amielens wenig sentimentalem Herzen jedwedes Mitleid mit der künftigen Vereinsamung der beiden alten Leute.

Am vierten Tage regnete es weniger. Aufs Geratewohl ging Amiele nach der Hütte im Walde. Sie trug derbe Holzschuhe, eine wollene Haube auf dem Kopf und einen Umhang aus ölgetränktem Segeltuch.

Es war eine Stunde Weg.

In der Hütte fand sie den Herzog durch und durch naß. Sie bemerkte, daß er sich um sein Pferd gekümmert hatte, kein bißchen um sich selbst. Er war zwei Stunden unterwegs gewesen.

»Ich habe alle unsere anderen Plätze abgaloppiert«, berichtete er ihr, sichtlich alles andere denn verliebt und leidenschaftlich. »Mein Sperber macht nicht mehr mit. Sie machen sich kein Bild von dem Dreck hierzulande.«

»Doch! Ein Landkind wie ich kennt das. Ich liebe Ihren Sperber, weil er Sie lächerlich macht. Im Augenblick liegt er Ihnen tausendmal mehr am Herzen als die, die Sie als Ihre Herzenskönigin verhimmeln. Mir ist es gleichgültig, aber Sie macht es lächerlich!«

Es war wirklich so. In den Abbé Clement hatte sich Amiele ehedem beinahe verliebt. Den Herzog beachtete sie aus Neugier. Sie studierte ihn.

Sie sagte sich:

›Das ist also der Typ eines jungen Mannes der besten Gesellschaft! Ich glaube, wenn ich mich entscheiden müßte, nähme ich immer noch lieber den blöden Hans, der mich für 2 Taler liebte. Ich bin gespannt auf die Miene, die er zu meinem Vorschlag machen wird. Er hat seinen Duval nicht, dessen Geschick und Frechheit alle seine Sorgen in Geldopfer verwandelt. Wie wird sich der gute Kerl zu helfen wissen? Vielleicht gar nicht! Vor lauter Hilflosigkeit wird er nicht wissen, wie er mich in seine Arme nehmen soll. Wir werden ja sehen!‹

»Lieber Fedor, der arme Sperber ist naß wie eine Ratte, und Sie haben keine Decke für ihn. Er wird sich erkälten. Ich rate Ihnen, ziehen Sie Ihren Rock aus und decken Sie ihn damit ein. Und anstatt mit mir zu plaudern, sollten Sie den Gaul im Walde hin und her führen.«

Der junge Mann gab vor Sorge um sein Pferd keine Antwort. Amiele hatte also recht.

»Ich habe Ihnen noch mehr zu sagen«, fuhr sie fort. »Vernehmen Sie die schlimme Botschaft! Das Glück sucht Sie heim!«

»Wieso?« fragte Fedor verdutzt.

»Ich will mit Ihnen durchbrennen! In Rouen werden wir zusammen wohnen. In ein und demselben Zimmer! Verstehen Sie?«

Der Herzog war vor Erstaunen ganz starr. Ein Schauer überlief ihn. Amiele auch.

»Eine Liebschaft mit einem Dorfkind steht wohl nicht im Einklange mit Ihrer Ehre?« fuhr sie fort. »Ich möchte sie greifbar vor mir haben, Ihre angebliche Liebe. Oder besser gesagt: ich möchte Sie überzeugen, daß Ihr Herz nicht stark genug ist, um zu lieben.«

Er sah so lieb aus, daß Amiele ihm zum zweiten Male, seit sie sich kannten, sagte:

»Küsse mich! Aber ordentlich . . . Oh, meine Haube!«

Hierzu muß man wissen, daß es nichts Häßlicheres und Komischeres gibt als die wollenen Hauben, die in der Normandie von den jungen Frauen getragen werden.

»Ach ja!« sagte Fedor lachend, nahm ihr die Haube ab, setzte ihr seine Jagdmütze auf und küßte sie mit einer Innigkeit, die den Reiz des Unvorhergesehenen für Amiele hatte. Der Spott verflüchtigte sich aus ihren Augen.

»Wenn du immer so wärst, liebte ich dich!« rief sie aus. »Wenn Ihnen der Handel zusagt, den ich Ihnen vorschlage, so werden Sie mir einen Paß besorgen, denn ich habe Furcht vor der Polizei. Sie versehen sich mit Geld, beurlauben sich bei Ihrer Frau Mutter, mieten in Rouen eine nette Wohnung – und wir leben zusammen, wer weiß wie lange, mindestens vierzehn Tage, bis Sie mir langweilig sind . . .«

In einem Freudentaumel wollte Fedor sie von neuem küssen.

»Nein!« wehrte Amiele ab. »Sie küssen mich nur, wenn ich es gebiete. Ich habe meine Verwandten satt mit ihren ewigen Moralpredigten. Um ihnen einen Streich zu spielen, schenke ich mich Ihnen. Ich liebe Sie nicht. Sie sind nicht wahr und natürlich! Sie schauen immer aus, als spielten Sie Komödie. Kennen Sie den Abbé Clement, den armen jungen Mann, der nur den einen abgeschabten schwarzen Rock hat?«

»Was soll der arme Kerl hier?« fragte der Herzog, hochmütig lächelnd.

»Er sieht aus, als ob er denke, was er sagt, und im Augenblick, wo er es sagt. Wenn er reich wäre und einen Sperber besäße, würde ich mich an ihn wenden!«

»Sie machen mir eine Haß-, keine Liebeserklärung!«

»Dann lassen wir Rouen! Tun Sie nichts von dem, was ich Ihnen nicht aufgetragen habe! Was mich anbelangt: ich lüge nie, und nie übertreibe ich!«

Fedor lächelte.

»Meine Liebe ist so heiß,« sagte er, »daß ich am Ende dies schöne Marmorbild erwärme! Aber mit dem Paß hat es seine Schwierigkeit . . . Wenn Duval dawäre!«

»Ich wollte gerade einmal sehen, was Sie ohne Duval sind!«

»Sind Sie solch ein Machiavell?«

Allmählich begriff Fedor sein Glück. Eine Weile blieb er so, daß sich Amiele einbildete, sie sei bereits in Rouen. Aber schließlich erreichte er nichts als daß sie ihn eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang heimschickte.

Sie rief ihn zurück. Es war so naß im Walde, daß sie bis zur Landstraße mit auf seinem Pferde reiten wollte.

Sie so dicht bei sich zu haben, war zuviel für Fedors Vernunft. Er war trunken vor Liebe, und er zitterte dermaßen, daß er kaum die Zügel halten konnte.

»Du!« flüsterte ihm Amiele zu. »Dreh dich um und küsse mich so viel du willst!«

 

In seinem Glücksrausch verriet Fedor Charakter. Er begab sich geradenwegs zu einem seiner Waldwärter, einem ausgedienten Soldaten, gab ihm Geld und bat ihn, er solle einen Paß für eine weibliche Person besorgen.

Lairel überlegte lange.

Er war ein Mann von festem Willen und einigem Mutterwitz.

Es fiel ihm nichts ein.

Zum ersten Male in seinem Leben war Fedor von Miossens genötigt, selber nachzudenken und einen Gedanken zu erfassen.

Bald erschien ihm eine Möglichkeit.

»Sie haben eine Nichte«, sagte er zu dem Waldwärter. »Lassen Sie ihr einen Paß ausstellen. Sagen Sie, sie hätte in Forges eine Erbschaft gemacht. Das liegt über Rouen hinaus. Sie müsse in Rouen einen Anwalt befragen und sodann in Dieppe einen Vetter, der miterbe. Schließlich müßte sie unter Umständen nach Paris. Also, bester Lairel: Paß nach Rouen, Dieppe, Paris! Den Paß überbringen Sie mir, und drei Tage später erklären Sie dem Gemeindevorstand, das Dokument sei ihr abhanden gekommen und nun graue ihr vor der weiten Reise. Sie bleibe da, denn ein verlorener Paß sei eine schlechte Vorbedeutung. Ich lasse Ihnen aus Rouen einen Brief zugehen, in dem die Erbschaft mitgeteilt wird und in dem steht, daß die Reise Ihrer Nichte nötig sei . . .«

»Ich bin bereit, dies Punkt für Punkt zu tun«, erklärte Lerail. »Aber die Ehre! Der Name meiner braven Nichte wird von irgendeinem Dämchen getragen werden, die Euer Gnaden sich aus Paris kommen läßt . . .«

»Das könnte stimmen!« gab der Herzog zu. »Ändern Sie die Schreibweise des Namens Ihrer Nichte ein wenig! Wie heißt sie doch?«

»Johanna Bertha Laviele, neunzehn Jahre alt.«

Fedor riß ein Blatt aus dem Wirtschaftsbuche des Waldwärters und schrieb darauf:

»Johanna Gerta Leviail.«

»So! Versuchen Sie, den Paß auf diesen Namen zu bekommen!«

»Es ist erst 9 Uhr«, sagte Lairel. »Der Vorstand sitzt in der Kneipe. Ich werde ihm das Ding schon abluchsen. Wenn er nicht erst zum Pfarrer läuft, ist der Hammel unser!«

Noch am selben Abend, ein Viertel vor 12 Uhr, kam der Waldwärter ungeachtet des scheußlichsten Wetters auf das Schloß und händigte dem jungen Herrn einen Paß aus, lautend auf den Namen:

»Johanna Gerta Leviail.«

Der Herzog schenkte ihm so viele Napoleons, wie Lairel Frankstücke erwartet hatte.

Am nächsten Morgen um acht ging Fedor an Hautemares Haustür vorüber, den Paß in der Hand.

Amiele sah ihn.

»Er ist doch nicht so unbeholfen!« sagte sie sich. »Oder sollte Duval zurück sein?«

Auf einmal, völlig gegen ihre Erwartung, empfand sie Mitleid mit den beiden alten Leuten, die sie zu verlassen im Begriffe stand.

Sie schrieb ihnen einen ausführlichen, wohlgefügten Brief. Gleich in den ersten Worten schenkte sie ihrer Tante alle ihre schönen Kleider. Sodann versprach sie, in acht Wochen wieder da zu sein, ohne »gegen ihre Pflichten gefehlt« zu haben. Zum Schluß riet sie ihren lieben Pflegeeltern, auszusprengen, sie sei mit ihrer Einwilligung in ihre Heimat bei Orléans zu einer alten kranken Tante gereist, die sie pflegen solle.

 


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