Stendhal
Amiele
Stendhal

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Neuntes Kapitel

Ameliens Erziehung
und der Abbé Clement

Um die Zeit des Turmfestes starb der Pfarrer eines Dorfes unweit des Schlosses, und auf die Empfehlung der Herzogin verlieh der Erzbischof von Rouen die freigewordene Pfarre dem Abbé Clement, dem Neffen von Fräulein Anselma, die vor Amielens Einzüge allmächtig gewesen war. Der junge Priester war sehr blaß, sehr fromm, sehr gelehrt. Er war groß, hager und schwach auf der Brust. Er besaß aber einen bei seinem Beruf sehr schmerzlichen Fehler: er war gegen seinen Willen und trotz seines schwächlichen Leibes ein reger Geist. Es kam ihm schwer an. Aber dieser klarblickende Geist war es, der ihn, ungeachtet seiner niederen Herkunft, alsbald zu einer beachtenswerten Erscheinung im Salon der Frau von Miossens machte. Und gleich im Anfang hatte man ihm ziemlich deutlich beigebracht, daß man ihm, dem Vierundzwanzigjährigen, eine Pfarre mit 150 Franken Gehalt nur gegeben habe in der Erwartung seiner unbedingten Ergebenheit.

Die Herzogin nahm ihn mit in das Hautemaresche Häuschen zu Amiele. Er war überrascht über die Mischung von Anmut, lebhaftem, kühnem, scharfsichtigem Geist, beinahe völliger Unwissenheit in den Dingen des Lebens und grenzenloser Aktivität.

Ein Beispiel:

Eines Nachmittags, als die Herzogin im Begriffe war, in ihren Wagen zu steigen, um den Abend bei Amiele zu verbringen, in Gesellschaft des Abbé, kam mit der Pariser Post eine große Kiste an, die der beflissene Clement sogleich aufmachte. Es war ein prächtiges Bild darin, dessen Rahmen allein einige Tausend Franken wert war. Es stellte den jungen Fedor von Miossens dar, den einzigen Sohn der Herzogin, in der Uniform der Kriegsschule. Trotz ihrer Furcht vor der feuchten Abendluft ließ Frau von Miossens den Wagen aufschlagen, um das Porträt mitzunehmen und es ihrer geliebten Amiele zu zeigen. Sie wagte ihr Entzücken über das Bildnis nicht zu äußern, ehe sie nicht die Meinung ihres Lieblings gehört hatte.

In Amielens Zimmer erging sich die Herzogin in begeisterten Lobesworten, indem sie dabei ihre junge Freundin erwartungsvoll anblickte. Amiele sagte kein Wort. Nach allerlei vergeblichen Anspielungen, die eine Antwort hervorlocken sollten, sah sich die ungeduldige Herzogin genötigt, Amiele zu befragen, was sie über die Physiognomie des Dargestellten dächte.

Auf diese Frage antwortete Amiele, die den Rahmen bewunderte, dem Bilde selbst aber kaum einen Blick gönnte, einfach und ohne Hintergedanken, sie fände das Gesicht nichtssagend.

Der sonst so bescheidene und sich zurückhaltend benehmende Abbé lachte auf. Er hatte noch keine große Menschenkenntnis; diese Naivität war ihm ganz sonderbar.

Die Herzogin, die sich nicht ärgern und vor allem ihren Liebling nicht betrüben wollte, lachte mit. Der kleine Abbé, der in den tausend unerläßlichen Heucheleien, die der Verkehr im Schlosse mit sich brachte, schon beinahe erstickte, war von dieser reizenden Offenherzigkeit überrascht und entzückt. Ohne es zu merken, verliebte er sich in das junge Mädchen.

Dies ereignete sich um die Zeit, da Amiele durchaus in ihr Turmzimmer übersiedeln wollte. Eines Morgens hatte sich nun mit einem Male ihr Wille geändert. Als der Doktor Sansfin um 8 Uhr erschien, um seinen Morgenbesuch zu machen, teilten ihm die Hautemares zu seinem höchsten Erstaunen mit, Amiele sei vor mehr als einer Stunde im Wagen der Herzogin in das Schloß zurückgekehrt.

Frau von Miossens freute sich wie ein Kind über Amielens Wiederkunft. Allerdings, über jede andere Seltsamkeit des jungen Mädchens wäre sie genau so entzückt gewesen. Sowie irgend etwas sie in Anspruch nahm, vergaß sie das ewige Jammern über die Ausbreitung des Jakobinertums. Ihre Gesundheit war jetzt glänzender denn je, und was ihr das Wesentlichste war: die ersten Runzeln, die sich auf ihrer Stirn gezeigt hatten, waren wieder verschwunden; ebenso die gelbliche Hautfarbe.

Als Sansfin gegen Abend im Schlosse vorsprach, blieb er wie angewurzelt stehen, als er den ersten Salon betrat. Er hörte Lachen aus dem zweiten Salon, in dem sich die Herzogin aufhielt. Es war Amiele. Seit einer Viertelstunde lernte sie Englisch.

Frau von Miossens hatte in ihrer Jugend während der Emigration zwei Jahrzehnte in England gelebt, und sie bildete sich ein, englisch sprechen zu können. Der Abbé, der in Boulogne-sur-Mer geboren war und englisch so gut wie französisch redete, hatte den Einfall gehabt, Amiele solle diese fremde Sprache erlernen, um der Herzogin, sobald sie ihr Amt als Vorleserin wieder aufnähme, die Romane Walter Scotts vorlesen zu können.

Sansfin erkannte, daß er ausgespielt hatte; und da er die grundsätzliche Meinung hatte, daß ein mißlauniger Buckliger, der sich seine Verstimmung anmerken lasse, in dem Salon, wo er diese Unklugheit begeht, für alle Zeiten erledigt sei, so machte er auf der Stelle kehrt. Niemand nahm sein Verschwinden wahr.

Der biedere Abbé Clement war in seinen Gedanken immerdar bei Amiele, ohne sich über den Beweggrund dieser Anteilnahme klar zu werden. Er bildete sich ein, sie werde sich dermaleinst gutbürgerlich verheiraten, wobei ihr die ausgesprochene Gönnerschaft der Herzogin behilflich sein werde. In dieser Voraussicht unterrichtete er sie ein wenig in den Dingen, von denen sie nichts wußte und von denen man etwas wissen muß, um in der Gesellschaft nicht ausgelacht zu werden: in der Geschichte, Literatur usw. Diese Belehrung fiel etwas anders aus als die des Doktors; sie war nicht hart, scharf, der Sache auf den Grund gehend wie bei Sansfin, sondern mild, sich einschmeichelnd, gemütsreich. Auch der geringfügigsten Lehre ging irgendeine hübsche kleine Geschichte voraus, deren Schlußfolgerung sie sozusagen war, und der junge Lehrer war eifrig darauf bedacht, daß diese Folgerung von seiner Schülerin selbst gezogen wurde.

Oft verfiel sie tiefer Versonnenheit, für die der Abbé keine Erklärung fand. Dies geschah immer, wenn einer seiner Leitsätze in Widerspruch mit den schrecklichen Lebensregeln des Doktor Sansfin stand. Nach dessen Anschauung war z. B. die ganze Welt üble Komödie, ohne jede Grazie gespielt von groben Schurken und gemeinen Lügnern. Auch die Herzogin meine es nie so, wie sie es sage, immer nur darauf bedacht, die Menschen um sich zu nützlichen Dienern ihrer Feudalität zu erziehen. Anständige Frauen – hatte er einmal gesagt – seien ihre eigenen Feinde, denn dadurch, daß sie auf ihr reines Gewissen und ihre Tugend bauten, erlaubten sie sich allerhand Unklugheiten, die ein schlauer Feind ausnutzen könne; während hingegen eine Frau, die ihren Launen keine Zügel anlege, sich allein dadurch Genuß verschaffe. Und dies sei das einzig Wahre im Leben.

»Wie viele jungen Mädchen«, hatte Sansfin gepredigt, »sterben mit zwanzig Jahren. Was hat ihnen die brave Zurückhaltung genutzt, deren sie sich seit ihrem sechzehnten Jahre befleißigten? Was die Enthaltsamkeit von allen Freuden, die sie sich auferlegt, um die gute Meinung von einem halben Dutzend tonangebender Klatschbasen zu erringen? Manche dieser Frauen, die in ihrer Jugend nach den lockeren Sitten gelebt hatten, die in Frankreich vor der napoleonischen Zeit gang und gäbe waren, lachte sich obendrein ins Fäustchen angesichts des gräßlichen Zwanges, dem sich die jungen Mädchen von 1829 unterwarfen. Der Stimme der Natur gehorchen und allen seinen eigenen Launen folgen, ist doppelter Gewinn! Erstens schafft man sich Lust, und dies ist der einzige Sinn dieses Lebens, und zweitens bekommt die durch das Lebenselexier der Lust gestärkte Seele den Mut, die Komödie, die heutzutage das junge Mädchen spielen soll, nicht mitzumachen. Eine Gefahr freilich hat diese Lehre von der Lebenslust: die jungen Männer brüsten sich gern der ihnen gewährten Huld. Dagegen gibt es ein ergötzliches Mittel, das sich leicht anwenden läßt: Die Frau muß den Mann, der einem zum Werkzeug der Lust gedient hat, zur Verzweiflung bringen.«

Sansfin gab noch eine Menge Einzelheiten:

»Man darf niemals Briefe schreiben, oder, wenn man diese Schwäche hat, nie einen zweiten Brief abschicken, ehe man den ersten zurückgefordert hat. Ein Mann darf einer Frau niemals etwas anvertrauen, wenn er nicht die Möglichkeit in der Hand hat, sie für den geringsten Verrat zu strafen. Nie kann eine Frau für eine andere gleichen Alters ehrliche Freundschaft hegen.«

»Alles das ist engherzig,« erklärte er, »aber es entspricht den engherzigen Lügen, die von sämtlichen alten Weibern für unantastbare Wahrheit erklärt werden.«

Damit sich Amiele von der Nüchternheit dieser Lebensvorschriften erholen konnte, lieh er ihr das »Leben Talleyrands«, verfaßt von Eugen Guinot, einem geistvollen Manne.

Der Abbé war, wie schon gesagt, ahnungslos dermaßen in Amiele verliebt, daß ihn ihre zeitweilige Zerstreutheit schmerzlich berührte. Er gab ihr des berühmten Fénelon »Erziehung junger Mädchen« zu lesen. Indessen war Amiele bereits gewitzigt genug, um diese süßlichen Gedanken in glatter, auf Eitelkeit berechneter Form unanwendbar zu finden.

Sie sagte sich:

›Der Abbé hat etwas Liebenswürdiges in seiner Art, das dem Doktor gründlich abgeht. Wie unendlich verschieden ist Clements Humor von Sansfins Ironie! Dieser freut sich von Herzen, wenn er sieht, daß seinem Nächsten Unglück widerfährt; jener dagegen ist voller Liebe zur gesamten Menschheit.‹

Indem Amiele den Abbé bewunderte und fast ein wenig liebte, empfand sie doch auch Mitleid mit ihm, wenn sie sah, wie er die Bonhomie, die er besaß, in den anderen voraussetzte. Schon war sie eine kleine Menschenfeindin. Ihr Einblick in des Doktors Wesen hatte ihr den Beweis seiner Theorie geliefert, daß alle Menschen Schelme seien.

Um sich zu belustigen, erzählte sie eines Tages dem jungen Abbé, daß ihn seine Tante Anselma bei der Herzogin tüchtig schlecht gemacht hatte. Die alte Jungfer war nämlich empört über ihres Neffen Zuneigung zu Amielen, ihrer Rivalin bei der Herzogin. Sie hatte ihre ganze Hoffnung auf den Abbé gesetzt; er sollte der Herrschaft des Dorfmädels ein Ende machen.

Als Amiele das bestürzte und völlig ratlose Gesicht des Geistlichen bei dieser Eröffnung sah, fand sie ihn komisch und schaute ihn lange mit blinzelnden Augen an . . .

Sie glaubte hinter eine Wahrheit gekommen zu sein.

›Man kann ihn leiden,‹ sagte sie sich, ›aber aus ganz anderem Grunde als den Doktor. Der Abbé ähnelt dem jungen Miossens, wie ihn das Bild darstellt. Er sieht ein wenig beschränkt aus . . .‹

Das war ein Ausdruck, den die Herzogin gern anwandte. Durch ihr Leben in der guten Gesellschaft eignete sich Amiele rasch die Kunst an, ihre Gedanken in Schlagworten wiederzugeben.

Oft scherzte sie mit dem Abbé, wobei sie ihm Bosheiten sagte, aber in so zärtlicher Fassung, daß er sich in ihrer Nähe vollkommen glücklich fühlte. Und auch Amiele verspürte, wenn sie ihm zuhörte, wie die Mißlaune verflog, die sie zuweilen in den hohen weiten Räumen des ebenso prächtigen wie öden Schlosses anwandelte.

Die Herzogin hatte ein englisches Buch wieder vorgenommen, das sie vor Jahren sehr geschätzt hatte, und der Abbé erklärte Amielen, wie schändlich Burke die französische Revolution beurteile. Dieser Mann sei bestochen; man habe seinem Sohne einen guten Posten im Finanzministerium verschafft. Sansfin, der nur noch selten Gelegenheit hatte, mit Amiele zu plaudern, meinte, die Vorliebe der Herzogin für Burkes »Reflections« sei lächerlich. Vom Abbé Clement sprach er selten; aber seine Epigramme richteten sich dauernd wider ihn. Seiner Meinung nach war dieser Priester entweder ein Dummkopf, der die Staatsweisheit der Nationalversammlung zu begreifen unfähig war, oder aber er war ein Schalk wie alle anderen und trachtete nach einem fetten öffentlichen Pöstchen.

War nun Amiele im Begriffe, sich in den liebenswürdigen Abbé zu verlieben? Keineswegs. Der Himmel hatte ihr eine starke spöttische Seele verliehen, die für eine zärtliche Empfindung wenig empfänglich war. Und jedesmal, wenn sie des Abbé ansichtig ward, fielen ihr des Doktors Spöttereien ein, und wenn er den Adel oder die Kirche verherrlichte, sagte sie jedesmal zu ihm:

»Seien Sie aufrichtig, verehrter Abbé! Trachten Sie nach einer Stelle im Finanzministerium? Wollen Sie Burke nacheifern?«

Aber so wenig zugänglich sie Zärtlichkeiten war, um so stärkeren Eindruck machte eine witzige Plauderei auf sie. Die allzu nackte Bosheit des Doktors Sansfin verletzte zuweilen ihre noch jugendliche Seele; dann bedauerte sie, daß seine scharfe Gedankenwelt nicht das Gewand der Grazie hatte, in die Clement alles hüllte, was er sagte.

Damals war es, wo der Abbé Clement einem vertrauten Freunde in Boulogne folgendes Bild Amielens sandte:

»Das erstaunliche junge Mädchen, von dem ich zu oft rede, wie Du mir vorwirfst, ist noch keine Schönheit. Dazu ist sie ein wenig zu groß und zu hager. Ihr Kopf verspricht ein Prachtstück von normannischer Schönheit. Ihre Stirn ist prächtig hoch, kühn; ihr Haar aschblond; ihre Nase klein, tadellos, entzückend. Die Augen hat sie blau und ziemlich groß. Das Kinn ist mager, ein bißchen zu lang. Das Gesicht hat ovale Form: tadeln daran könnte man den Mund, dessen Winkel ein Geringes nach unten gehen, wie beim Hecht. Aber dieses Geschöpfes Herrin, eine Fünfundvierzigjährige, die neuerdings einen Nachsommer erlebt, weist auf die tatsächlichen Fehler des jungen Mädchens so oft hin, daß ich geradezu unempfindlich dafür geworden bin.«

 


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