Stendhal
Amiele
Stendhal

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Dreizehntes Kapitel

Die Abreise

Unverzüglich wurden alle Vorkehrungen zur Reise getroffen, die Doktor Sansfin angeregt hatte. Die Herzogin versprach sich unermeßlich viel davon. Le Havre war weiter entfernt von Paris als Carville. Außerdem schmeichelte sie sich, auf der Strecke Carville–Le Havre niemandem bekannt zu sein. Sie war wirklich recht leidend und verließ den Turm nicht. Der Reisewagen ward im Schlosse gepackt.

Abends 8 Uhr, als die Postpferde am Turm eintrafen, sah man auf der Straße Paris-Carville die gewöhnliche Post kommen, die Trikolore am Bock.

»Bei Gott,« rief die Herzogin aus, als sie mit ihrem Sohne und Doktor Sansfin in ihrem Reisewagen Platz nahm, »wie bin ich froh, daß ich Ihnen voll vertraut habe!«

Der Doktor wollte den Platz zur Seite der Herzogin durchaus nicht annehmen. Fedor, den diese Höflichkeit ärgerte, setzte sich, sowie man ein Viertelstündchen aus dem Dorfe war, auf den Bock neben den Kutscher.

Sansfin war glücklich. Im Augenblick, wo das endgültige Ergebnis der Revolution in Carville bekannt werden würde, weilte er in der Ferne, und für lange Zeit hatte er jedwede geistige Verbindung zwischen dem eleganten und urbanen jungen Herzog und der reizenden Amiele unmöglich gemacht.

Unterwegs fanden die drei Reisenden überall nichts als Neugier. Alle Welt fragte sie nach neuen Nachrichten aus Paris. Sie antworteten mit Gegenfragen, indem sie erklärten, aus der Nachbarschaft zu kommen. Und bei der Ankunft im Posthause zu Le Havre wies die Herzogin hochmütig ihren Paß vor, der auf die Namen: Frau Miaussante und Sohn lautete. Sie hatte Fedor genötigt, auf seine Uniform zu verzichten. Der junge Mann war trostlos.

»Während sich die anderen schlagen,« wehklagte er, »drückt sich der Herzog von Miossens nicht nur, sondern versteckt sogar seinen Rock!«

In Le Havre richteten sie sich in einem Privathause ein, bei Bekannten des Doktors. Er besorgte eine Kammerjungfer und zwei Diener, von denen keiner wußte, wer Frau Miaussante eigentlich war.

Von persönlichen Besorgnissen frei, überstand die Herzogin die ersten Tage der Verzweiflung, die ihr das unglaubliche Ergebnis der Julirevolution verursachte. Als sie die Verbannung des Königs Karl nach England vernahm, begab sie sich mit ihrem Sohne nach Portsmouth, während Sansfin nach Paris fuhr, nachdem er die Herrschaften an das Schiff begleitet und sich alsdann eine blauweißrote Rosette in das Knopfloch seines Rockes gesteckt hatte. Bei seinen Freunden von der Kongregation übertrieb er die Gefahren, die er in Carville durchgemacht hatte.

Acht Tage darauf machte der »Moniteur« bekannt, daß Doktor Cäsar Sansfin zum Unterpräfekten in der Vendée ernannt worden war. Jetzt hatte er nichts anderes im Kopfe als der neuen Regierung seine Treue zu beweisen. Die Kongregation gab ihm allerhand gute Empfehlungen. Seine ärztliche Tätigkeit in Garville hatte ihm sieben- bis achttausend Franken im Jahre gebracht; es graute ihm davor, in Paris in Uniform und Degen einherstolzieren zu sollen.

Er sagte sich:

›In Carville war man an meinen Buckel gewöhnt.‹

Acht Tage nach seiner Ernennung ward er krank und nahm Urlaub nach Carville.

Amiele war bei ihrer Tante verblieben. Drei Tage nach der Abreise der Herzogin kamen vier riesige Pakete an, die den Handwagen des Schlosses beinahe ausfüllten. Es waren Kleider aller Art und Wäsche, ein Geschenk der Herzogin. Diese Gunstbezeigung war besonders rührend, weil die hohe Dame, als sie am 27. Juli vor der Wegfahrt eine Stunde im Schlosse weilte, diese Sendung vor ihren Augen einschnüren und umständlich hatte versiegeln lassen. Sie traute der Ehrlichkeit ihres Personals nicht so recht. Das war eine kluge Maßregel, denn Fräulein Anselma war übelster Laune, als sie die Pakete erblickte. Ihre Verstimmung steigerte sich zur Wut, als sie sah, daß Amiele im Dorfe verblieb, ihr aber keinen Besuch machte.

Amiele dachte gar nicht daran; sie hatte genug damit zu tun, die tolle Freude zu verbergen, die sie verzehrte. Jeden Morgen, beim Erwachen, empfand sie von neuem ihr Glück, wenn sie sich vergegenwärtigte, daß sie nicht mehr in dem feudalen Schlosse wohnte, wo alle Menschen alt waren und wo von zehn Worten, die gesprochen wurden, neun nichts als Tadel enthielten. Die einzige ihr unliebsame Beschäftigung war der Brief, den sie täglich an die Herzogin schreiben mußte. Wenn sie ihre Gedanken nicht fest am Zügel hielt, mißlangen ihr diese Briefe, aber sie hatte nicht die Geduld, sie in diesem Falle nochmals zu schreiben. Sie wußte wohl, daß sie eine höfliche Vermahnung zu erwarten hatte, aber der Gedanke daran war ihr lästig und sie unterdrückte ihn sofort. Alles in allem waren ihr vom Schloß, acht Tage nachdem sie es verlassen, nur drei Dinge in der Erinnerung verblieben, drei Dinge, die Amielen als Sinnbild der abscheulichsten Mißlaune galten: die Feudalität, der zeremonielle Prunk und das wohlgefällige Gerede von kirchlichen Dingen.

Nichts kam ihr lächerlicher und zugleich widerlicher vor als affektiertes gewichtiges Benehmen und die strenge Gewohnheit, über alles, sogar über die unterhaltsamsten Dinge, kühl und gemessen, gewissermaßen ablehnend, zu reden. Nicht ohne Bedauern gestand sie sich diese Eindrücke ein; auch sah sie ein, daß die Dankbarkeit, die sie der Herzogin zweifellos schuldete, die Abneigung aufwog, die ihr das Wesen dieser großen Dame einflößte. Sie hätte ihre Gönnerin völlig vergessen, wenn sie nicht durch die täglichen Briefe immer wieder an sie erinnert worden wäre. Ihr Widerwillen vor allem, was ihr den Aufenthalt in dem langweiligen Schlosse ins Gedächtnis zurückrief, war so stark, daß er sogar die Eitelkeit besiegte, die im Herzen einer Sechzehnjährigen etwas so Natürliches ist. Als sie am Tage nach der Abreise der Herzogin herunterkam und Frau Hautemare Guten Morgen sagte, war diese höchlichst erstaunt, Amiele in ländlicher Kleidung zu sehen. Sie trug sogar die landesübliche Haube, die die hübschen Gesichter der Dorfmädchen in der Gegend von Bayeux verunziert.

 


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