Stendhal
Amiele
Stendhal

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»Amiele« ist in Civitàvecchia, Rom und Paris in der Zeit vom 1. Oktober 1839 bis zum 15. März 1842 entstanden. Am 10. August 1839 war Beyle nach einem dreijährigen Urlaub nach Italien zurückgekehrt; am 23. März 1842 ist er in Paris gestorben. Somit ist der Roman seine letzte große Arbeit. Sie ist unvollendet geblieben; man darf annehmen, daß der Umfang in vollendetem Zustande mindestens dreimal größer wäre, und daß keines der vorliegenden Kapitel in dieser Fassung verblieben wäre.

Die erste Niederschrift vom ersten Kapitel trägt das Datum: 1. Oktober 1839. Die im Nachlasse (in der Grenobler Stadtbibliothek) gefundenen Pläne und Entwürfe deuten darauf hin, daß die Niederschrift des weiteren in der Hauptsache im Jahre 1841 erfolgt ist. Beyle verließ Civitàvecchia am 22. Oktober 1841 und kam am 8. November in Paris an.

Erstdruck des Fragments:

Stendhal (Henri Beyle). Lamiel. Roman inédit. Publié par Casimir Stryienski. Paris, Librairie moderne, Maison Quantin, 7 Rue Saint-Benoit, 1889. 8°, XXII und 342 Seiten; dazu ein Faksimile (Kroki von Carville). Zwölf Exemplare auf holländischem Büttenpapier.

 

Der Roman hat in der Handschrift mehrfach seinen Titel geändert. Ursprünglich lautete er: »Un village de Normandie«; später »Lamiel« und »Amiele«.

Im Nachlaß haben sich folgende Aufzeichnungen zur »Amiele« gefunden:

I

Wenn die Erzählung allzu belastet wird von Philosophie (Psychologie?), so ist es diese, die den Eindruck des Neuen auf den Geist des Lesers macht, nicht die Erzählung an sich.

Bei jeder Begebenheit muß man sich fragen: soll ich das philosophisch berichten oder rein erzählerisch, nach dem Vorbilde Ariosts?

[Civitàvecchia,] am 1. Oktober 1839

II

Allzuviel Gründlichkeit in der Schilderung eines Charakters verdirbt die komische Wirkung. Folglich ist der größere Teil dessen, was ich über den Doktor Sansfin geschrieben habe, nur Grundmauer.

[Civitàvecchia,] am 19. Februar 1840

III

Ich mache keinen richtigen Plan. Wenn mir dies je beigekommen ist, verekelte es mir den Roman. Ich suchte mich bei der Niederschrift dessen zu erinnern, was mir bei der Festlegung des Planes vorgeschwebt hatte, aber das Arbeiten des Gedächtnisses zerstört mir die Einbildungskraft. Ich habe ein sehr schlechtes Gedächtnis; es ist sehr zerstreut.

Die Seite, die ich schreibe, gibt mir die Idee der nächsten ein . . .

Einen Plan mache ich mir nur in ganz groben Zügen. Ich verbrauche mein Feuer mit törichtem Modeln am Ausdruck und oft unnützen Beschreibungen, die ich am Ende meiner Arbeit wieder tilgen muß. So habe ich im November 1839 mein Feuer verbraucht, um Carville zu beschreiben und den Charakter der Herzogin (von Miossens) . . .

Civitàvecchia, am 25. Mai 1840

IV

Meine Fähigkeit, wenn ich welche habe, ist die des Improvisators. Ich vergesse alles Niedergeschriebene. Ich könnte vier Varianten über ein und dasselbe Romanmotiv schreiben und keine bleibt mir im Gedächtnisse.

[Civitàvecchia,] am 8. März 1841

V
Zur Zeitfolge des Romans

Madame de Miossens, geboren 1778, bringt 1810, in London, ihren einzigen Sohn Fedor zur Welt. 1814 kehrt sie nach Paris zurück.

Amiele, geboren 1814, ist vier Jahre jünger als Fedor de Miossens. Vier Jahre alt (1818) wird sie von den Eheleuten Hautemare aus dem Rouener Findelhaus nach Carville gebracht.

Doktor Cäsar Sansfin, geboren 1790, ist zur Zeit des Besuchs der »Mission« in Carville (1818), als er die vier Initialen in die Asche am Kamin im Schlosse der Frau von Miossens zeichnet, 28 Jahre alt . . .

Die Szene des »Feuerzaubers« in der Kirche ereignet sich im Jahre (1818).

Als Fedor Amiele liebt, im Jahre 1830, ist Fedor zwanzig und Amiele sechzehn Jahre alt.

Civitàvecchia, am 6. März 1841

VI
Die Gestalten des Romans

(1826)

Die Herzogin de Miossens, achtundvierzig Jahre alt.

Fedor de Miossens, sechzehn Jahre alt.

Amiele, zwölf Jahre alt.

Doktor Sansfin, buckliger Arzt, achtundzwanzig Jahre alt.

Hautemare, Schulmeister, und seine Frau.

Fräulein Anselma, Kammerfrau.

Pfarrer Dusaillard, neunundvierzig Jahre alt.

Abbé Clement, siebenundzwanzig Jahre alt.

Die Missionsgesellschaft.

Madame Legrand, Besitzerin des Gasthofs zum *** in Paris, Rue de Rivoli.

Der Graf von Neerwinden.

Pierre Valbayre, ein Verbrecher.

VII
Die Charaktere der Gestalten

Die Herzogin von Miossens

Trotz ihrer achtundvierzig Jahre (anno 1826) hat die Herzogin die rassigste Figur. Sie ähnelt ganz und gar der Madame Dudeffant auf jenem Porträt, das man vielfach der »Correspondance« von Horace Walpole beigegeben findet. Ihre Jugend hindurch hatte sie auf den Hingang ihres Schwiegervaters warten müssen, der erst mit achtzig Jahren (1818) starb, ehe sie ihren Titel Marquise mit dem einer Herzogin tauschen durfte. Als einfache Markgräfin, allerdings von Uradel, und als Tochter eines der höchsten Ordensträger erheischte sie von der Gesellschaft des Faubourg Saint-Germain bereits die Ehren, die man damals einer Herzogin zukommen ließ. Aber da sie weder eine Schönheit ersten Ranges war, noch ein Vermögen à la Rothschild besaß, noch auch den Geist einer Staël, so gewährte ihr das Faubourg von 1817 diese Ehrbezeigungen nicht.

Fedor von Miossens

Der Herzog von Miossens, ein in jeder Beziehung scharmanter, aber charakterloser junger Mann, attackiert Amiele zunächst, ohne sie ernst zu nehmen.

Er ist groß, sehr schlank, fast zu mager. Hat urvornehme, ein wenig langsame Bewegungen. Langen Hals, kleinen Kopf, sehr edle Stirn, eine scharfgeschnittene ungemein geistreiche Nase, einen schön gezeichneten Mund, der jedoch leidenschaftslos ist, sehr schmale Lippen, das Kinn etwas zu massig. Sein Haupthaar ist von herrlichstem Blond. Sein kleiner Schnurrbart, ebenso sein schmaler dünner Backenbart, gelblich. Gesamteindruck: ein vollendet edler und schöner Kopf für einen Pariser Salon. Seine ganze Erscheinung wirkt außerordentlich distinguiert. Seine Art sich zu kleiden erscheint überaus schlicht; vergleicht man sie mit der üblichen Art der jungen Leute um ihn, so erkennt man, daß sie unnachahmlich ist. Er spricht gern von seinen Hunden, die er vergöttert, und von seinen Pferden; aber es klingt keineswegs affektiert, weil er wirklich Anteil an den Tieren hat. Sobald er allein ist, langweilt er sich. Es ist ihm unmöglich, die Unterhaltung gewöhnlicher Leute anzuhören. Sie belastet ihm das Leben. Konventionelle Plauderei ist ihm entsetzlich.Nach einer Randbemerkung hat Stendhals Freund während der Kaiserzeit, der Baron Louis Pepin de Bellisle, (1810) Auditor im Staatsrat, der Gestalt des jungen Herzogs de Miossens als Modell gedient; ebenso wohl der Baron Martial Daru, der jüngere Bruder von Beyles hohem Gönner, dem Grafen Pierre Daru. (Über beide Freunde findet man Näheres im »Leben eines Sonderlings« von Arthur Schurig, Leipzig 1821).

Doktor Sansfin

Sansfin ist einer jener klugen Buckligen, über deren unglaubliche Torheiten man staunt. Das eben Geschehene faßt er blitzschnell auf, aber er ist unfähig, über etwas Großes folgerichtig nachzudenken. Auch sonst ist er sehr lächerlich.

Allmählich kommt Sansfin auf die Absicht, die Herzogin [von Miossens] zu verführen. Inzwischen entwickelt sich Amiele. Dann wird sie krank. Sansfin will sie entjungfern. »Ich?« ruft er bei sich aus. »Ich Mißgebilde der Natur! Das wäre ein Triumph!«

Hat Dominique [d. h. Stendhal] genug Geist, Sansfin zu einer komischen Figur zu gestalten?

Die Eitelkeit, Sansfins einzige Leidenschaft, seine reizbare und gereizte Leidenschaft, bringt ihn dazu, vor Amiele zu prahlen, er könne die Herzogin verführen. Er veranlaßt Amiele, an der Tür zu horchen. Die Herzogin überhäuft ihn mit Beleidigungen. Diese zu erfinden, wird mir keine Verlegenheit bereiten. Es kommt aber darauf an, daß sie komisch wirken. Sansfin muß immer ertappt werden, darf aber nie den Mut verlieren (Modell für mich: Herr Cl. de Riz.)

Sansfin ist ein begabter Arzt wie der Doktor Prévost [in Genf]. Die Furcht, sich durch sein Gebrechen lächerlich zu machen, treibt ihn zu Taten.

Sansfin besitzt einen lebhaften Geist, doch ohne Tiefe. Er hat keine Intuition, aber durch seine Klugheit ergründet und zergliedert er alles Vorhandene und ihm Widerfahrende.

Sein Haß drückt auf seine Eitelkeit, und seine Eitelkeit auf seinen Haß.

Amiele

Der Grundzug von Amielens Charakter ist maßlose Abscheu vor seelischer Kleinheit.

Amiele ist groß, wohlgebaut, ein wenig mager, von frischen Farben, sehr hübsch, gut gekleidet wie eine Kleinstädterin in guten Verhältnissen. Auf der Straße macht sie allzu rasche Schritte; springt über die Rinnsteine und hüpft auf das Trottoir. Der Grund von soviel Unschicklichkeit? Sie denkt zu viel an das Ziel, dem sie zueilt und das sie möglichst rasch erreichen will, und denkt nicht genug an die Leute, die sie beobachten können. Beim Ankauf einer Nußbaumkommode, die in ihrem Stübchen ihre Sachen vor dem Verstauben bewahren soll, entwickelt sie die nämliche, wenn nicht noch mehr Passion wie in einer Angelegenheit, die vielleicht für ihr ganzes Leben von Wichtigkeit ist. Sie behandelt und wertet just jedwedes Ding stets je nach Laune und Stimmung, nie nach Vernunftgründen.

Sie lebt ins Blaue hinein, dem Ziele zu, das sie gerade rasch zu erreichen trachtet, oder sich in irgendeiner Orgie verlierend. Selbst im wildesten Genuß strebt ihre glühende Phantasie nach noch Maßloserem und vor allem nach Gefahr, denn Wollust ohne Gefahr ist ihr keine Wollust. Dies bewahrt sie im Laufe ihres Lebens zwar nicht vor verbrecherischem Verkehr, wohl aber vor minderwertigen Gesellen. Seelen ohne Mut schrecken vor Amiele zurück.

Übrigens hat ihre Kühnheit im zügellosen Genusse doppeltes Gesicht. In geldarmer Gesellschaft muß mit diesem wenigen Geld geleistet werden, was nur menschenmöglich ist, allerlei, was sich verlohnt, acht Tage darauf noch erwähnt zu werden. Die kleinen Gaunereien, die rechts und links an den Dummen, die ihr Unstern an die Stätte der Orgie führt, verübt werden, erhöhen den Reiz des Berichts. Ist die Gesellschaft reich, so müssen wahrhaft denkwürdige Dinge geschehen, Dinge, die wert sind, in der Geschichte eines neuen Mandrin [vgl. S. 35] verewigt zu werden.

Die Zeit vertrödeln, war Amielen nicht gegeben. Dazu war sie zu passioniert. Es war ihr unmöglich, gemächlich und gemütlich hinzuleben. Nur wenn sie krank war, brachte sie es fertig, nichts zu tun.

Es war eine Folge ihrer bizarren Bewunderung des legendären Räuberhauptmanns, daß es sie kleinlich und lachhaft dünkte, die Leute durch Geist belustigen zu wollen. Es wäre ihr leichter gefallen als manch anderm, durch Witz zu glänzen, aber diese Art Erfolg überließ sie den schwachen Seelen. Einigermaßen herzhafte Geschöpfe, so meinte sie, zeigen sich durch Taten, nicht durch Worte.

Amiele bedient sich ihres Geistes nur ganz selten, und nur, um ihren Spott zu äußern, und hart zu äußern, über alles das, was der Welt als Tugend gilt. Dabei erinnert sie sich des frommen Geschwätzes, das sie ehedem im Hautemareschen Hause gelangweilt hat.

Amiele hat nacheinander vier Liebhaber, Spiegelbilder der hauptsächlichen Eigenschaften der französischen Jugend von 1830. Amiele nimmt sie hin, als läse sie einen Roman. Jede dieser Liebschaften währt ein Vierteljahr. Darauf immer ein halbes Jahr lang Reue; dann folgt die neue.

 

[Modelle zu Amiele:] Ich bin ihr begegnet in den Straßen von der Bastille zum Tore Saint-Denis und auf dem Dampfer von Honfleur nach Le Havre. Ihr Kopf ist der edelste Typ der normannischen Schönheit: prächtige hohe Stirn, aschblondes Haar, eine wunderhübsche vollendet geformte kleine Nase, nicht gerade große blaue Augen; mageres, fast zu langes Kinn. Gesicht meisterhaft oval; man könnte höchstens daran den Mund tadeln, der ein wenig die Form und die hängenden Winkel des Maules eines Hechtes hat. [Vgl. S. 76.]

Pierre Valbayre

Einbrecher. Ein hübscher blonder Mensch. Amielens Amour-passion. Die Tatkraft zu großen Verbrechen geht ihm übrigens ab.

Marc Pintard

Einbrecher und Mörder. Energische Natur. Hat schreckliche Blatternarben. Grundhäßlich. Hat wolliges schwarzes Haar. Ein kühner Mensch.

[Stendhal hat bei der Ausführung seines Romans aus den beiden Verbrechern eine einzige Gestalt gemacht.]


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