Friedrich Spielhagen
Sturmflut
Friedrich Spielhagen

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Ferdinande war, als Ottomars Schritt über den Flur die knarrende Treppe hinab verhallte, aufgesprungen und ein paarmal in dem kleinen Zimmer hin und her geschritten, dann hatte sie sich wieder auf das Sofa geworfen, wie Ottomar sie zuletzt gesehen, den Kopf in die Hände auf die Lehne gedrückt.

Aber sie hatte vorhin nicht geweint; sie weinte auch jetzt nicht. Sie hatte keine Tränen.

Sie hatte keine Hoffnung mehr, keinen Wunsch mehr, außer dem einen: für ihn sterben zu dürfen, da sie doch nicht für ihn leben konnte, ihr Leben für ihn nur eine Last und eine Qual mehr sein würde.

Hätte sie doch dem Offizier mit der klaren Stirn und den klugen, mitleidigen Augen geglaubt: Sie täuschen sich, liebes Fräulein! Ihre Flucht mit Ottomar ist keine Lösung, ist nur eine Verwicklung mehr, und die allerschlimmste. Der Schwerpunkt liegt für Ottomar in seiner so grausam kompromittierten Ehre als Offizier. Hier muß wenigstens der Schein gerettet werden. Aber mag er doch reisen; nur allein! Nur nicht mit Ihnen! Ich beschwöre Sie: nicht mit Ihnen! Glauben sie mir: Die Liebe, auf deren Allmacht Sie so vertrauen, die, wie mit Götterhänden, Ottomar über alle Nöte weghelfen soll – sie wird sich gänzlich ohnmächtig erweisen – ja schlimmer als das: Sie wird den Rest der Kraft, den Ottomar vielleicht sonst noch aufzuwenden hätte, vollends brechen. Um seinetwillen – wenn Sie doch an sich nicht denken wollen – gehen Sie nicht mit ihm! –

Wenn sie ihm doch helfen könnte! Sie hatte ja für sich selbst keinen Wunsch, kein Verlangen. Gott war ihr Zeuge! Und wenn sie heute nacht in seinen Armen ruhte, er in den ihren – sie konnte daran denken, ohne daß ihre Pulse klopften, ohne daß bei dem Gedanken die Verzweiflung, die ihr das Herz abdrückte, auch nur für einen Moment gewichen wäre: Er wird aus deiner Umarmung, deinen Küssen keine neue Kraft, keinen frischen Lebensmut schöpfen! Er wird sich von dem Lager der Liebe erheben – ein lebensmüder, gebrochener Mann!

Wenn nicht Kraft und Mut zum Leben – so zum Sterben doch!

Wenn sie für ihn sterben könnte, ihm sterbend sagen könnte: Siehe, der Tod ist eine Wonne und ein Fest für mich, wenn ich hoffen darf, daß du von Stund' an das Leben verachten und, weil du es verachtest, groß und schön leben wirst, wie einer, der nur lebt, um groß und schön zu sterben!

Die Wirtin hatte die gnädige Frau, da die gnädigen Herrschaften doch nun gewiß zur Nacht bleiben würden, eigentlich fragen wollen, wie sie es mit den Betten nebenan in der Kammer gehalten wünsche, blieb aber stehen, als sie die Tür gehen und die gnädige Frau einen leisen Schrei ausstoßen hörte. Du lieber Gott, dachte die Wirtin: Das ist denn doch bei den vornehmen Leuten fast noch schlimmer als bei unsereinem. – Denn der gnädige Herr, der zurückgekommen, hatte sogleich in einem nicht eben lauten, aber offenbar heftigen Ton zu sprechen begonnen. Was die beiden jungen Leute wohl nur miteinander haben? dachte die Wirtin und schlich auf den Fußspitzen nach der Tür. Aber sie konnte nichts verstehen, nichts von dem vielen, was der gnädige Herr sagte, und die paar Worte auch nicht, die die gnädige Frau dazwischen sprach. Und dann war der Wirtin, als ob das gar nicht die helle Stimme von dem gnädigen Herrn sei und als ob die beiden gar nicht deutsch sprächen; und sie hatte das Auge an die Ritze gelegt und zu ihrem Erstaunen und Schrecken einen wildfremden Mann bei der gnädigen Frau im Zimmer stehen sehen.

Ich will nicht wieder umkehren, schrie Antonio, nachdem ich den halben Weg gelaufen, wie ein Hund hinter der Herrin her, die ein Räuber gestohlen, und die andere Hälfte im Stroh des Wagens zusammengekrümmt gelegen habe, wie ein Tier, das der Schlächter auf den Markt fährt. Ich will kein Hund länger sein, ich will nicht länger leiden, ärger als ein Tier. Ich weiß jetzt alles, alles, alles: Wie er dich verraten hat, der ehrlose Feigling, um zu der andern zu laufen, und wieder von der zu dir und vor deiner Tür gelegen und um Gnade gewinselt hat. Und der gottverfluchte Giraldi, dem ich die Kehle zusammenschnüren will, wann und wo ich ihn nur wieder treffe, so wahr ich Antonio Michele heiße! Ich weiß alles, alles, alles! Und daß du ihm heute nacht deinen schönen Leib geben wirst, wie du ihm deine Seele gegeben!

Der Ärmste hatte kein Verständnis für das halb verächtliche, halb melancholische Lächeln, das um die stolzen Lippen des schönen Mädchens zuckte.

Lache nicht! schrie er, oder ich töte dich!

Und dann, als sie sich halb erhoben – nicht aus Furcht, nur, um den Wütenden zurückzuweisen –

Verzeihe, oh, verzeihe mir! Ich dich töten, dich, die du mein alles bist, meines Lebens Licht und Wonne! Ich verlange ja so wenig; ich will ja harren – jahrelang – wie ich jahrelang schon geharrt, und will nicht müde werden, dir zu dienen, dich anzubeten wie die heilige Madonna, bis der Tag kommt, da du den Flehenden erhörst!

Ich kann dir nichts gewähren. Ich habe nichts zu gewähren, ich bin so arm, viel ärmer als du!

Ich bin nicht arm, schrie er, ich bin eines Fürsten Sohn, bin mehr als ein Fürst. Hörst du? rief der Wahnsinnige, hörst du?

Er stand mit weitausgestreckten Arm, lächelnd, die schwimmenden Augen, wie in seligem Triumph, auf Ferdinande gerichtet, die ihn entsetzt anstarrte.

Auf einmal wurde das Lächeln zur schauerlichen Grimasse; die Augen blitzten in tödlichem Haß, der ausgestreckte Arm zuckte zurück, die Hand krampfte sich auf der Brust, als jetzt unmittelbar unter dem Fenster eine Stimme hell durch das Toben des Sturmes das Geschrei der Menschen übertönte in befehlendem Ton: ein Seil – ein starkes Seil, das längste, das ihr habt!

Ein eiliger Schritt, drei, vier Stufen zu gleicher Zeit nehmend, kam die knarrende Treppe herauf – der Wahnsinnige lachte gell.

Die Wirtin hatte ebenfalls die helle Stimme unten gehört und den eilenden Schritt auf der Treppe. Es gab sicher ein Unglück, wenn der Herr jetzt hereinkam, während der fremde unheimliche Mensch bei der gnädigen Frau war! Sie stürzte in das Zimmer in dem Augenblick, wo der Herr von der andern Seite die Tür aufriß.

Ein Wutgeheul ausstoßend, mit hochgeschwungenem Stilett, raste ihm Antonio entgegen. Aber schon hatte sich Ferdinande zwischen beide geworfen, noch ehe Ottomar die Schwelle überschreiten konnte, mit weit ausgebreiteten Armen den Geliebten deckend, die eigene Brust dem niederzuckenden Stoß bietend, ohne Klagelaut zusammenbrechend in Ottomars Armen, während an ihnen vorüber der Mörder stürzte in feiger, wilder Flucht vor dem Anblick der Untat, die er nicht gewollt und die, wie ein greller Blitz, die Nacht seines Wahnsinns zerriß, hinab die Treppe, mitten zwischen die Menschen hindurch, die das Wimmern der Sturmglocke, die Schreckensrufe der Vorübereilenden, aus dem Gastzimmer, überall her aus dem Hause aufgescheucht, und die nun entsetzt vor dem fremden Menschen mit den flatternden schwarzen Haaren, der in seiner Hand ein blutiges Messer schwang, auf die Seite wichen.

*

Wollen Sie mich fahren, Freund?

Wohin, Herr?

Nach Neuenfähr.

Wieviel geben Sie, Herr?

Soviel Sie wollen.

Steigen Sie auf, Herr! hatte der aus Neuenfähr gesagt, froh, daß er, anstatt den weiten Weg in solchem Wetter leer zurück zu fahren, nun einen Passagier haben soll, der so viel geben würde, wie er haben wollte. Er wollte es nicht billig tun; aber den Mordlärm mußte er doch noch hören.

Er wird sobald nicht wiederkommen, murmelte der Herr, und ich laufe Gefahr, ihm noch einmal zu begegnen; ist es so schon ein halbes Wunder, daß er mich nicht gesehen hat.

Ottomar hatte in seiner unmittelbaren Nähe gestanden, als er vorhin seine Befehle an die Leute gab. Er hatte auch, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verschaffen, seinen Namen genannt und daß es seine Tante und seine Schwester wären; und daß sie keine Sekunde verlieren sollten, oder es wäre zu spät.

Der Herr trat tiefer in das Dunkel des Schuppens, vor dem der Wagen stand. Er wollte auf alle Fälle gesichert sein. Da aber kam der aus Neuenfähr bereits zurück – in großer Aufregung: Die junge Dame sei totgestochen, die er mit dem jungen Herrn hierher gefahren! Wenn er gewußt hätte, daß es der Herr von Werben war! Und daß die schöne junge Dame, die gnädige Frau Gemahlin, so halb totgestochen werden sollte von einem fremden Landstreicher – ein junger Kerl mit schwarzen Locken und schwarzen Augen – und die schwarzen Locken habe er jetzt auch wieder gesehen, als der Kerl aus der Haustür stürzte – ganz deutlich, er könne es beschwören. Der Kerl könne sie noch unterwegs anfallen. Er für sein Teil fürchte sich nicht, er fürchte sich vor dem Teufel nicht, aber, wenn der Herr doch am Ende nun lieber hier bleiben wolle –

Nein, nein, nein! Fahr zu, ich gebe dir auch das Doppelte von dem, was du forderst!

Damit war der Herr in den Wagen gesprungen. Der aus Neuenfähr hatte vorhin fünf Taler fordern wollen; jetzt würde er es unter zehn nicht tun und hätte dann also zwanzig.

Dafür konnte man selbst eine Mordgeschichte im Stiche lassen!

Macht Platz! Zum Donnerwetter! fluchte der aus Neuenfähr und knallte mächtig mit der Peitsche über den Köpfen der dunklen Gestalten, die ihm auf der Dorfstraße entgegen liefen und von denen er mehr als eine beinahe überfahren hätte.

Für zwanzig Taler konnte man wohl einen schon ein bißchen überfahren – in der Dunkelheit!

In der Dunkelheit und in dem Sturm!

Das war ja wahrhaftig noch schlimmer als vorhin, obgleich's da auch schon schlimm genug gewesen; und er habe hundertmal gesagt: Wir wollen in Faschwitz bleiben, Herr; und hernach, als sie nach Gransewitz gekommen: Wir wollen in Gransewitz bleiben, Herr! Aber der junge Herr – was ja der Herr von Werben gewesen – habe immer gerufen: fort, fort! Wenn der gewußt hätte, daß eine halbe Stunde später die gnädige Frau mausetot sein würde! Und habe sich noch die Pferdedecken geben lassen, um ihr die Füße einzuwickeln! Hier, auf dieser selbigen Stelle!

Dem aus Neuenfähr erschien die Erinnerung so wichtig, daß er still hielt, dem Herrn die Stelle ordentlich zu zeigen und nebenbei die Pferde ein bißchen verschnaufen zu lassen, die kaum gegen den Sturm ankommen konnten.

Fort, fort! rief der Herr.

Na, na! sagte der aus Neuenfähr; haben Sie's denn auch so eilig? Hieb aber denn doch wieder auf die Pferde, als der Herr, der schon hinter ihm im Wagen gestanden, ihn mit der rechten Hand an der Schulter packte und, mit der linken nach links deutend, rief. Da, dahin!

Wohin? sagte der aus Neuenfähr.

Gleichviel! Dahin!

Wir kommen schon noch aneinander vorüber, sagte der aus Neuenfähr, nicht anders meinend, als, der Herr fürchte, er werde dem Wagen, der, ihnen entgegenkommend, eben aus dem grauen Dunst auftauchte und wohl noch ein paar hundert Schritt entfernt sein mochte, auf dem schmalen Wege nicht ausweichen können.

Der Herr hatte ihn an beiden Schultern gepackt.

Donnerwetter! schrie der aus Neuenfähr; sind Sie denn ganz verrückt?

Ich gebe Ihnen hundert Taler!

Ich will für hundert Taler nicht versaufen!

Zweihundert!

Hot! schrie der aus Neuenfähr und peitschte auf die Pferde, die er nach links gerissen hatte, von dem sandigen Wege herunter, in die Marschen hinein. Das Wasser klatschte unter den Hufen: dann aber kam festerer Grund; es war am Ende so schlimm nicht, und zweihundert Taler –

Hot! schrie der Mann und peitschte wieder auf die Pferde.

Die liefen, als ob der Teufel hinter ihnen wäre. Er konnte sie nur mit Mühe in der Hand behalten. Darüber war er viel weiter abgekommen, als er gedacht. Er hatte nur eben ein bißchen vom Wege abhalten und hernach wieder einbiegen wollen. Aber, als er sich umsah, war der Weg mitsamt den Bäumen verschwunden, als wäre alles mit einem nassen Schwamme weggewischt. Und um ihn sprühte es aus der grauen, dicken Luft, daß er nicht mehr wußte, ob er geradeaus oder rechts oder links halten solle. Er konnte sich auch nicht mehr auf sein Gehör verlassen. Auf dem Wege hatte er den Donner des Meeres links gehabt, hernach gerade vor sich – jetzt war's ein solcher Höllenlärm ringsumher – konnte er denn schon so nahe an der Brandung sein?

Es bemächtigte sich seiner eine fürchterliche Angst. Wer war der unheimliche Passagier, den er da hinter sich auf dem Wagen hatte und der ihm zweihundert Taler geben wollte, wenn er dem andern Wagen, der ihm entgegengekommen, auswich? War es ein Mordgeselle von dem Landstreicher? Er hatte ebensolche schwarzen Augen und schwarzes Haar und einen langen schwarzen Bart dazu und hatte ebenso eine wunderlich fremdländische Aussprache! War es der leibhaftige Teufel, dem er seine arme Seele verkauft für zweihundert Taler?

Herr Gott! Herr Gott! stöhnte der Mann, laß mich hier heraus! Ich will's bei Gott nicht wieder tun! – Herr Gott! Herr Gott!

Der Wagen fuhr durch schieres Wasser, der Mann hörte es durch die Räder zischen. Er hieb wie rasend auf die Pferde, die bäumten sich und schlugen aus, aber er kam keinen Schritt vorwärts.

Mit einem Satz war der Mann vom Wagen herunter bei den Pferden. Es gab nur noch eine Rettung: absträngen, fortjagen, was die Mähren laufen wollten!

Eben hatte er das zweite Pferd los und hob den Kopf, und – die Haare sträubten sich ihm, als ob alles, was bis jetzt passiert, nur Kinderspiel gewesen gegen das, was er jetzt sah. Er hatte doch nur einen auf dem Wagen gehabt, und jetzt waren es ihrer zwei. Und die zwei hatten sich an den Kehlen gepackt und rangen miteinander und schrien durcheinander; der eine, sein Passagier, als wenn er um Gnade bäte, und der andere gellte dazwischen wie der leibhaftige Teufel, und – der andere war der Mordhund von vorhin –

Mehr sah der Mann aus Neuenfähr nicht. Er hatte sich mit einem verzweifelten Sprung auf das Sattelpferd geworfen, das war mit ihm davongejagt, die Beimähre nebenher; Und das Wasser war über ihn weggespritzt, und dann war er bis an den Leib im Wasser gewesen, und dann bis an die Schultern, während die Mähren schwammen, und dann hatten sie wieder Grund unter sich gehabt, und er war auf dem Festen gewesen, und die Mähren hatten gestanden, weil sie nicht mehr konnten, und die, auf der er saß, hatte so gezittert, daß er fast herunter gerutscht wäre. Und er hatte sich umgesehen, was das denn eigentlich gewesen?

Vor ihm lag ein Dorf. Das konnte doch kein anderes als Faschwitz sein, nur daß Faschwitz eine halbe Meile in gerader Linie vom Meere lag, und da hinter ihm, wo er herkam – es war gerade ein wenig heller geworden, so daß er doch eine Strecke sehen konnte – war die offenbare See, die fürchterliche Wogen schlug, die weiter und weiter, brausend und schäumend, wer weiß wie weit, in das Land rollten.

Die sind ersoffen wie Katzen, und mein schöner neuer Holsteiner – daß ich das –

Dem aus Neuenfähr war, als ob er jetzt doch wohl nicht fluchen dürfe.

*


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