Friedrich Spielhagen
Sturmflut
Friedrich Spielhagen

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Was steht ihr noch? fragte Onkel Ernst, – was wollt ihr noch?

Aus der Menge der Unzufriedenen, die sich jetzt zu einem Knäuel zusammengeballt hatte, trat einer hervor – keiner von den dreien – ein Bursch, der hübsch gewesen sein würde, nur daß das junge Gesicht bereits von bösen Leidenschaften zerwühlt und verwüstet war. Seine hellen, frechen Augen sahen wässerig aus, als ob er bereits der Flasche ungebührlich zugesprochen. Er machte eine Geste, als ob er auf der Rednerbühne stünde, und sprach mit großer Geläufigkeit: Wir wollen wissen, Herr Schmidt, weshalb wir nicht Sozialisten und auch Kommunisten sein sollen, wenn wir wollen; wer uns verbieten kann, einzutreten in die Reihen der Arbeiterbataillone, die gegen die hartherzige Bourgeoisie marschieren, um sich ihr gutes Recht wieder zu erobern, das man uns so schmählich vorenthält? Wir wollen wissen –

Schweig! donnerte Onkel Ernst, – schweig, elender Bube! Und schäme dich in deine Seele hinein, wenn du dich noch schämen kannst!

Onkel Ernst war ein paar Schritte vorgetreten; der Jüngling wich vor ihm zurück, wie ein Schakal vor dem Löwen, und drückte sich in den Knäuel, der sich noch dichter zusammengeballt hatte. Was steht ihr da und steckt die Köpfe zusammen und murrt und droht? Denkt ihr, daß ich mich vor euch fürchten werde, mehr als vor dem elenden Buben, den ich von der Straße aufgenommen und gekleidet und genährt und in die Schule geschickt habe und der jetzt wissen will, weshalb ich ihm sein gutes Recht vorenthalte? Sein gutes Recht? Euer gutes Recht? Ehrlich zu halten, was ihr versprochen, wozu ihr euch durch eures Namens Unterschrift bekannt habt, – das ist euer gutes Recht – nichts mehr und nichts weniger! Wer hat euch gezwungen zu unterschreiben?

Der Hunger! schrie eine rauhe Stimme.

Du lügst, Karl Peters! rief Onkel Ernst – und wenn du Hunger gelitten, so war es, weil du ein Säufer bist und das Geld, das deiner Frau und deinen Kindern gehört, in die Branntweinkneipe trägst.

Wir sind alle Sozialisten, wie wir hier stehen! schrie eine andere Stimme aus dem Haufen.

So habt ihr alle gelogen und betrogen! rief Onkel Ernst; alle, wie ihr da steht! Gelogen habt ihr, als ihr unterschriebt, wovon ihr wußtet, daß ihr es nicht halten könntet und nicht halten wolltet!

Ein dumpfes Gemurmel kochte in dem Haufen. Einzelne laute, drohende Rufe brachen hervor.

Onkel Ernst sprang mit einem Satze bis unmittelbar vor den Knäuel.

Auseinander! donnerte er; auseinander, auf der Stelle!

Die Vordersten prallten zurück und drängten auf die, die hinter ihnen standen. Es hatte offenbar keiner den Mut, es bis zu Tätlichkeiten zu treiben. Sie wichen weiter und weiter; der Knäuel fing an, sich zu lösen.

In einer halben Stunde seid ihr auf dem Kontor, euch ablohnen zu lassen!

Die Leute waren gegangen, auch der Inspektor. Onkel Ernst wandte sich zu Reinhold: Da hast du eine Probe von der herrlichen preußischen Disziplin, die dir im Kriege so imponiert hat. Da hast du ein Stück von der neuesten deutschen Treue und Redlichkeit, wie sie sie in Bismarcks Schule gelernt haben!

Aber Onkel, verzeihe, was hat mit diesem allen Bismarck zu tun?

Was der damit zu tun hat?

Onkel Ernst war stehen geblieben.

Was der damit zu tun hat? Wer ist es gewesen, der das Wort gesprochen, daß Macht vor Recht geht? Oder wer, wenn er es nicht gesprochen, hat durch seine Handlungen so viel dazu beigetragen, daß der verruchte Satz zum Grundsatz der jetzigen Menschen geworden ist, nach dem sie ihr Tun und Lassen regeln? Wer hat unser gutes ehrliches Volk gelehrt, wie man mit denen, die sie zu ihren Vertretern bestellt haben, in ewigem Konflikt lebt und über die Köpfe dieser ihrer Vertreter weg nach seinen Zielen greift? Wie man sich eine Armee schafft und eine gefügige Partei, die zu allem Ja und Amen sagt, und was man sonst noch braucht, um diese Ziele sicher zu erreichen? Hast du es nicht gehört, das Wort von den Arbeiterbataillonen? Sie sind schon längst kein toller Traum mehr eines hirnverbrannten Schwärmers. Sie sind eine Wirklichkeit, die drohend wächst wie eine Lawine und sich früher oder später vernichtend über uns alle wälzen wird. Wer kann es ihnen verdenken? Macht geht ja vor Recht! Und so ist die Revolution in Permanenz erklärt und der Krieg aller gegen alle. Heute hat er gesiegt, glaubt er, gesiegt zu haben, und brüstet sich mit seinem Siege und mit der Kaiserkrone, die er für seinen Herrn erobert und von dem Sims nahm, wo sie ein anderer hinlegte, der sie nicht aus den Händen des Volkes nehmen wollte! Aus den Händen des Volkes von damals! – Eines so guten, so treuen, so gläubigen Volkes, dessen heiliger Traum eben diese Krone war! Frage die, ob sie noch glauben! Frage sie, wie sie über die Krone von Gottes Gnaden denken! Frage die, wovon sie träumen!

Onkel Ernst deutete auf die entlassenen Arbeiter, die jetzt, heftig gestikulierend und aufeinander einsprechend, über den Hof nach dem niedrigen Gebäude gingen, aus dessen Tür vorhin Cillis Vater gekommen war.

Wird die Ablohnung ohne Störung vor sich gehen? fragte Reinhold.

Die Polizeiwache ist in zu großer Nähe, erwiderte Onkel Ernst mit finsterem Lächeln – heute fürchten sie noch die Polizei, du kannst ganz ohne Sorgen sein. Und eh' ich's vergesse: Ich danke dir, mein Junge!

Wofür, Onkel?

Es war nicht nötig, aber ich habe doch gesehen, daß du zu mir stehst, wenn es an den Mann geht.

*

Der junge Mann in Hemdärmeln, der Reinhold so wenig höflichen Bescheid gegeben, drohte, nachdem er die Tür wieder zugesperrt, mit der Faust und murmelte einen kräftigen Fluch in seiner Heimatsprache zwischen den scharfen weißen Zähnen. Dann trat er in den Raum zurück und schlich mit leisen Schritten bis an eine Tür, die das Atelier von dem Nebenatelier trennte. Er legte das Ohr an die Tür und lauschte ein paar Augenblicke. Ein Lächeln der Zufriedenheit erhellte sein dunkles Gesicht. Er holte, sich aufrichtend, tief Atem und schlich dann, unhörbar wie eine Katze, das eiserne Wendeltreppchen hinauf, das in sein Zimmerchen führte und von dem er vorhin auf Reinholds Klopfen herabgekommen war.

Nach einigen Minuten kam er wieder die Treppe herab, diesmal ohne das Geräusch künstlich zu verdecken, sondern sogar fester als nötig auftretend und eine Melodie pfeifend. Er hatte jetzt Weste und Rock an und statt der Socken, die er vorhin getragen, Lackstiefel an den schmalen Füßen, auf die er beim Hinabschreiten zufriedene Blicke warf. Unten angelangt, trat er alsbald vor einen großen Spiegel aus schönem venezianischen Glase und musterte wiederholt seine ganze Gestalt mit größter Sorgsamkeit, zupfte an dem blauen Krawattchen, drückte einen der goldenen Knöpfe fester durch das Chemisette und strich sich mit einem feinen Kämmchen durch die wie Rabengefieder glänzenden blauschwarzen Locken. Sein Pfeifen wurde leiser und leiser und verstummte zuletzt. Er trat von dem Spiegel weg, bald diesen, bald jenen Gegenstand, wie er ihm eben in die Hände kam, mit einigem Geräusch bewegend, bis er unmittelbar an die Tür gelangt war, an der er vorhin gelauscht. Mit einem Griff hatte er einen Schemel erfaßt, den er zu diesem Behuf auf Armeslänge an die Wand gelehnt, und stand jetzt auf dem Schemel, wie vorhin das Ohr, jetzt das Auge an die Tür drückend – sehr nahe, denn er hatte das Loch mit dem feinsten Bohrer gebohrt mit großer Mühe, und große Mühe hatte es ihn gekostet, bis er den Nebenraum oder doch die Stelle, wo sie zu arbeiten pflegte, übersehen lernte. Das Blut schoß ihm in die dunklen Wangen, wie er so hindurchlugte.

Auf einmal sprang er herab – unhörbar, wie eine Katze; der Sessel stand wieder an der Wand und er vor dem halbfertigen Marmor einer überlebensgroßen weiblichen Figur, als jetzt von der anderen Seite an die Tür gepocht wurde: Signor Antonio!

Signora? rief der junge Mann von dem Platze aus. Er hatte Meißel und Schläger ergriffen, offenbar nur, um die Rolle des Überraschten besser vor sich selbst zu spielen.

Können Sie einen Augenblick hereinkommen, Signor Antonio?

Si, Signora!

Er warf die Werkzeuge aus der Hand und lief nach der Tür, von der jetzt ein Riegel zurückgeschoben wurde. Trotzdem und trotz der erhaltenen Aufforderung klopfte er, bevor er öffnete.

Mein Modell ist ausgeblieben, ich wollte heute an den Augen arbeiten. Sie haben schönere Augen als Ihre Landsmännin, Antonio, stellen Sie sich einmal dahin nur für ein paar Minuten!

Ein zufrieden-stolzes Lächeln flog über das schöne Gesicht des Jünglings. Er trat Ferdinanden gegenüber in genau derselben Haltung, die sie ihrer Figur gegeben.

Wo waren Sie gestern abend, Antonio? fragte sie nach einer Pause.

In meinem Klub, Signora.

Wann sind Sie nach Hause gekommen?

Spät.

Ich frage nur so. Wir sind gestern auch erst spät zu Bett gegangen. Wir haben Besuch – ein Vetter von mir – es wurde viel gesprochen und geraucht – ich hatte mir furchtbare Kopfschmerzen geholt und bin noch eine Stunde im Garten gewesen. Wollen Sie sich wieder hinstellen? – Oder sollen wir es aufgeben? – Es wird Ihnen schwer – mir deucht, Sie sehen angegriffen aus.

No, no! murmelte er.

Er hatte die Stellung wieder eingenommen, aber weniger geschickt als vorhin. In seinem Gehirn schwirrten wunderliche Gedanken, die sein Herz klopfen machten. – »Wann sind Sie nach Hause gekommen? – Ich bin noch eine Stunde im Garten gewesen.« – War es möglich? Nein! Nein! Es war unmöglich, es war ein Zufall – aber wenn er sie in tiefer Nacht allein im Garten getroffen hätte, was würde er gesagt, was getan haben?

Es flirrte ihm vor den Blicken – er drückte die Hand, die er an die Stirne halten sollte, vor die Augen.

Was haben Sie? rief Ferdinande.

Die Hand sank herab, die Augen, die fest auf sie gerichtet waren, sprühten Flammen.

Was ich habe? murmelte er, was ich habe? – Ho – non lo so neppur io: una febbre che mi divora, ho, che il sangue mi abbrucia, che il cervello mi si spezza; ho in fine, che non ne posso più, che sono stanco di questa vita!

Ferdinande hatte versucht, dem Ausbruch standzuhalten; es war ihr nicht ganz gelungen. Sie zitterte von Kopf bis zu den Füßen. Aus den flammenden Augen war ein Funke in ihr eigen Herz übergesprüht, und ihre Stimme bebte, als sie jetzt, so ruhig als sie noch vermochte, erwiderte:

Sie wissen, ich verstehe Sie nicht, wenn Sie so sinnlos schnell sprechen.

Sie haben mich verstanden, murmelte der Jüngling.

Ich habe nichts verstanden, als was ich ohne das gesehen, daß »ein Fieber Sie verzehrt, daß das Blut Sie erstickt, daß Ihr Gehirn zerspringen will, daß Sie dieses Lebens müde sind« – auf deutsch: daß Sie gestern zu lange in Ihrem Klub gesessen und zu viel von dem schönen Italien geschwärmt und dabei zu viel italienischen Feuerwein getrunken haben.

Die Adern an seiner feinen weißen Stirn traten bläulich hervor; ein heiserer Ton, wie eines wilden Tieres Schrei, kam aus seiner Kehle. Er griff nach der Brust, wo er für gewöhnlich sein Stilett trug – die Seitentasche war leer – seine Blicke irrten umher, als suchten sie eine Waffe.

Wollen Sie mich morden?

Die rechte Hand, die noch auf der Brust zusammengekrampft war, löste sich und sank herab, die linke folgte, die Finger preßten sich ineinander, aus seinen Augen brach ein Strom von Tränen, die Glut erlöschend.

Armer Antonio, sagte Ferdinande, ich verzeihe dir – noch einmal – zum letzten Male! Wenn sich diese Szene wiederholt, sage ich es dem Vater, und du mußt aus dem Hause. Und nun, Signor Antonio, stehen Sie auf!

Sie reichte ihm die Hand, die er, noch immer kniend, an seine Lippen und an seine Brust drückte.

Antonio! Antonio! ertönte draußen Justus' Stimme; zugleich wurde an die Tür gepocht, die auf den Hof führte. Antonio sprang auf die Füße.

Ist Antonio hier, Fräulein Ferdinande?

Ferdinande ging selbst, die Tür zu öffnen.

Sie arbeiten noch? sagte Justus eintretend; – aber ich denke, wir wollen mit Ihrem Vetter in die Ausstellung.

Ich warte auf ihn, er hat sich noch nicht sehen lassen; gehen Sie mit Antonio immer voran; wir treffen uns bei den Skulpturen.

*


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