Friedrich Spielhagen
Sturmflut
Friedrich Spielhagen

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Draußen tobte der Gewittersturm und donnerte gegen das alte Herrenhaus in langen, ungleichmäßigen Stößen und pfiff und heulte an den Wänden, zwischen den Giebeln hin, wie rasend vor Wut, daß er auf einen Widerstand traf, daß dieser Widerstand seiner Allmacht zu trotzen versuchte.

So wird er rasen, sagte Valerie schaudernd, wenn er morgen kommt und sein Opfer fordert und es nicht folgen will, nicht folgen wird und wenn er sein Ärgstes täte und wenn er es vernichtete. Ja, Else, er kommt morgen; ich fand den Brief vor, als wir zurückkamen. Sein teuflischer Plan ist reif, der Ottomar, dich, euch alle zugrunde richten soll. Ich selbst kenne diesen Plan nur zum Teil. Felsenhart, wie sein Herz ist – er hat es doch empfunden, daß meine Seele sich von ihm gewandt hat, wie sehr, wie ganz, – das weiß er, das ahnt er freilich nicht, sonst lebte sie sicher nicht mehr, die er doch einst, so weit er lieben kann, geliebt, und die ihn so grenzenlos geliebt hat!

Den du gekannt haben müßtest in seiner Jugend Schönheit und Glanz, um zu begreifen, wie selbst reine Frauen dem Zauber nur schwer zu widerstehen vermochten. – Es war so: Ich war in Herz und Phantasie ohne Zucht und Scham, ich muß es gewesen sein, wie hätte es sonst geschehen können, daß die Verlobte, deren Hochzeit in wenigen Wochen sein sollte, nur einen Moment brauchte, um in rasender Leidenschaft für einen Mann zu entbrennen, den sie zum ersten Male sah, vor dem überdies selbst ihr stumpfes Gewissen sie warnte!

Ich könnte sagen: Es war ein Rausch, der mich in die Arme des Entsetzlichen, das heißt in mein Verderben stürzte. Aber daß dieser Rausch so lange anhielt, daß ich wußte: Ich war berauscht, daß ich berauscht sein wollte! Es erscheint mir jetzt alles wie ein wüster Traum, trotzdem die goldene Sonne Italiens ihn durchleuchtet, Orangendüfte ihn umwehen, die sanften Fluten des blauen Meeres ihn umschaukeln. Mein Gatte hatte nach wenigen Monaten den törichten Kampf aufgegeben; er war abgereist – geschlagen, gebrochen, ohne auch nur noch die Kraft zu haben, eine Entscheidung herbeizuführen, mir schriftlich nur überlassend, solange fern zu bleiben, wie es mir beliebe. Ob er gehofft hat, diese scheinbare Großmut werde mich rühren, der Entfernte stärker zu meinem Herzen sprechen als der Anwesende, die Trennung mich lehren, was ich an ihm verlieren würde, bereits verloren habe – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich für seine jämmerliche Flucht, wie ich es nannte, nur Spott und Hohn hatte, ohne einen Schatten des Mitleids an ihn dachte, wenn ich überhaupt an ihn oder an irgend etwas anderes dachte, als meine Freiheit in gierigen Zügen zu genießen. Unsere Hoffnung war, daß mein Gatte selbst auf Scheidung dringen werde und, da wir – Dank der teuflischen Gewandtheit des Fürchterlichen – die Sitte scheinbar nie verletzt hatten, mein Gatte freiwillig gegangen war, ich nicht ihn, sondern er mich verlassen, konnte die Scheidung nicht anders, als zu meinen, das heißt zu unsern Gunsten ausfallen – waren doch unsere Geschicke von jetzt an unauflöslich verbunden!

Und nun kam ein Umstand, der – o Else, habe Erbarmen mit mir! Wir hofften auf meines Gatten Tod. Von Giraldis Spähern – er hat sie ja über die ganze Erde verbreitet – war uns berichtet, daß mein Gatte krank sei; dann, daß seine Krankheit eine bedenkliche Wendung nehme; endlich, daß die Ärzte keine Hoffnung gäben, wenn auch die Auflösung so bald nicht erfolgen werde. Wir zitterten vor der Botschaft, die mich an sein Krankenlager rufen würde. So leicht freilich sollte man uns nicht finden. Wir hatten uns den einsamsten Ort gewählt; meine alte Feldner war unsere einzige Begleitung. Das schönste Knäblein wurde geboren und, sobald ich dem Schrecklichen folgen konnte, dort in den Händen der Treuen zurückgelassen. Ich mußte mich ja wieder in der Welt zeigen! Und keine Gewissensbisse! Nicht einmal das Verlangen, das unschuldige Kind da oben im Gebirge zu sehen, von ihm zu hören! Sage, daß ich wahnsinnig war, es ist vielleicht das rechte Wort.

Aber noch immer lebte mein Gatte, und von der Feldner kam die Nachricht, daß Reisende – Bekannte von uns – durch ihr Bergnest gekommen waren; daß sie durch einen Zufall nur der Entdeckung entgangen sei. Die treue Seele bat, sie und das Kind aus ihrer Vereinsamung zu erlösen; sie fragte, ob ich das holde Geschöpf denn nicht einmal sehen wolle, eine Königin würde stolz auf ein solches Kind sein!

Berauscht, wie ich war, von dem Gifttrank sündenvoller Leidenschaft, den niemand so fein wie er zu mischen verstand – der Notschrei der Guten drang doch zu meinem verstockten Herzen. Ich wollte mein Kind sehen, ich wollte es um mich haben; es gehöre zu meinem vollen Glück; nichts als ein volles, ja übervolles Glück könne mir jetzt noch genügen. – Er mußte seine ganze Überredungskunst aufbieten, mich von einem Schritte abzuhalten, der, wie er mir bewies, unser ganzes, so sorgsam geplantes Spiel über den Haufen werfen mußte.

Er teilte mir seinen Plan mit. Wir hatten im Frühjahr Paestum besucht. Der junge, hübsche Kustos, der uns in den Ruinen herumgeführt, war mir in angenehmer Erinnerung geblieben, ebenso wie die rundliche, kleine Frau, die er unlängst erst heimgeführt. Ich hatte die beiden armen Menschen um ihr freies Glück beneidet. – Das seien die rechten Leute, sagte Giraldi, ihnen unsern Cesare anzuvertrauen; die junge Frau werde den Zuwachs ihrer Sorgen leicht genug tragen, der kräftige Gatte dem Kinde ein trefflicher Beschützer sein; überdies sei durch die in Paestum selbst stationierte Militärwache die Sicherheit auf das ausreichendste verbürgt.

Ganz anders freilich lautete der Bericht der Feldner. Sie schilderte voller Entsetzen die Wüstenei, über deren verbrannte Fläche die Malaria ihren Giftodem hauche, die bleichen Fiebergesichter der armen Bewohner in den verfallenen, schmutzigen Hütten.

Und als wäre das Schicksal ihm verpflichtet: An einem der nächsten Tage schon kam die Nachricht, der Ärmste hier in Warnow hatte ausgeatmet!

Eine namenlose Angst überfiel mich. Vergebens jetzt, daß Giraldi mich zu beruhigen suchte. Die Unmöglichkeit, zu dem Kinde zu gelangen; die Furcht, es zu verlieren, es vielleicht bereits verloren zu haben, machten mich fast rasend.

Giraldi selbst mußte es endlich zugeben: Der Himmel, tröstete er, werde Ersatz schenken. Der Himmel wollte den unnatürlichen Eltern kein zweites anvertrauen: Das so ruchlos hingeopferte, blieb das einzige.

Und hier greife ich in meiner Erzählung um Jahre vor, wenn ich sage, ich danke Gott, daß es das einzige geblieben, ja mehr! Ich schaudre vor dem Gedanken, jenes Kind der Sünde und Schande könne wirklich noch leben, es könne eines Tages wieder auftauchen aus dem Dunkel, das es so lange Jahre verschlungen; vor mich hintreten und sprechen: Hier bin ich, Cesare, dein Sohn!

Das ahnt er, das weiß er. Und deshalb ist es kein Zufall, daß er gerade jetzt wieder und wieder das Schreckbild heraufbeschwört. Ach! Keiner versteht die teuflische Kunst wie er! – Cesare sei nicht gestorben; Cesare lebe, wandle auf Erden in Knechtsgestalt, um in kürzester Frist die Bettlerhülle abzuwerfen und vor uns dazustehen in leuchtender Schönheit.

Längst belügt er mich, wie alle Welt. Das letzte Mal, daß er mir, glaube ich, seine Pläne, und auch da wohl nur zum Teil, enthüllte, war an dem Morgen nach meiner Ankunft in Berlin, wenige Minuten, bevor ich dein liebes Antlitz zum ersten Male sah. Ich darf und will dich nicht mit den widerwärtigen Einzelheiten behelligen; es sei dir genug, zu wissen, daß ich mit dem Mut, ihm zu trotzen, auch die Macht habe, seine Pläne zu vereiteln.

Das Netz, in dem er euch zu Fall zu bringen wähnte, wird sich über seinem schuldbeladenen Haupte zusammenschnüren! Wenn er mir morgen hohnlächelnd mit der Kunde entgegentritt, die ihm mitzuteilen der Graf und Carla sich beeifern werden, daß Else von Werben ihr Erbe verscherzt hat – er soll die Antwort hören! Und wenn er triumphierend meldet, daß Ottomar zu seiner verratenen Liebe zurückgekehrt ist und ebenfalls sein Erbe verscherzt hat – ich will ihm die Antwort nicht schuldig bleiben.

*

Auch durch Berlins geradzeilige Straßen sauste heute abend der Sturm.

Mag er doch! Was kümmert's uns!

Überall floß der Champagner in Strömen; die zahlreichen Diener hatten zu tun, die geleerten Flaschen in den silbernen Eiskübeln durch neue zu ersetzen. Dabei schien man gegen etwaige Nachlässigkeiten der Bedienung sehr empfindlich zu sein. Man schalt die Leute, man wollte von der ersten Marke haben, die zweite tauge ganz und gar nichts; man half sich von Tisch zu Tisch mit diesem Wein, mit jener Schüssel aus.

Philipp ging jetzt, das Glas, das oft wieder gefüllt werden mußte, in der Hand, von Tisch zu Tisch, hier mit Lobsprüchen über das glänzende Fest, dort mit kordialen Zurufen, famos, alter Kerl! Brav gemacht, mein Junge! – An nicht wenigen Stellen mit lautem Hallo und Hurra und Gläserschwingen begrüßt, während man sich an andern erst darauf besinnen zu müssen schien, daß der Herr in weißer Krawatte und Weste mit der massiven Stirn und dem höflichen Lächeln auf dem roten, rasierten Gesicht, der da mit halbgefülltem Glase vor ihnen stand, der Wirt des Hauses sei.

Philipp hatte die Runde durch den Saal gemacht und mußte nun auch dem Wintergarten seinen Besuch abstatten, der sich mit seiner vollen Breite rechtwinklig in den Saal öffnete. Er stieß hier sogleich auf eine größere, von jungen Leuten besetzte Tafel, die ihn mit solchem Enthusiasmus empfingen, daß er darüber einen kleineren Tisch in der Nähe zu übersehen schien und eben, den jungen Leuten mit der Hand winkend und noch ein Scherzwort zurufend, vorüber und weiter wollte, als eine heisere, wohlbekannte Stimme sagte: Nun, Schmidt, sollen wir nicht der Ehre gewürdigt werden?

Ein Zucken flog über Philipps Gesicht, aber es strahlte wie in freudigsten Überraschung, als er sich jetzt umwandte und, beide Arme erhebend, rief: Endlich, ja zum Tausend, Lübbener, Herr Geheimrat! Wo haben Sie denn gesteckt? Glaubte wahrhaftig, sollte ganz um das Vergnügen kommen! Und so mutterseelenallein! Daran erkennt man den Löwen!

Nachzügler! sagte der Geheimrat, an das hingehaltene Glas anklingend; machte sich so!

Wenn Sie sich nur amüsieren! rief Philipp.

Aber gottvoll! rief Lübbener. Wir sehen hier in beide Räume; bester Platz unter allen!

Gebührt Ihnen auch, rief Philipp, der beste Platz im Saale, der beste im Hause! Wo wären Saal und Haus ohne Sie! Mein guter Hugo, alte treue Seele!

Wie von Rührung übermannt, hatte Philipp den kleinen Mann umarmt und hielt ihn, der sich nicht zu sträuben wagte, noch an seine Brust gedrückt, als ein paar Schritte von ihnen eine überlaute Stimme rief: Meine Herren!

Oh weh! sagte Philipp, Lübbener aus seiner Umarmung lassend.

Meine Damen und Herren!

Steigen Sie auf einen Stuhl, Norberg!

Steigen Sie auf zwei Stühle, Norberg! Der eine tut's nicht!

Meine Damen und Herren!

Lauter, lauter!

Meine Damen und Herren! Das Sprichwort sagt: Jedermann ist seines Glückes Schmied –

Bravo!

Nur, daß leider das Schmieden nicht jedermanns Sache ist, und so wird es denn auch meistens danach. Zum Schmieden gehört eben ein Schmidt –

Sehr gut! Still da!

Und wenn ein Schmidt sein Glück schmiedet, so dürfen wir versichert sein, daß es eine Arbeit ist, mit der er sich vor Meister und Gesellen sehen lassen kann.

Ausgezeichnet! Bravo, bravissimo!

Und, meine Damen und Herren, die Meister und besonders wir jungen Gesellen, die wir noch viel zu lernen haben und lernen wollen, werden ihm auf die Finger sehen, ob wir vielleicht loskriegen, wie er es macht und mit was für Werkzeug er arbeitet; denn das Werkzeug – das ist die Hauptsache!

Es war beinahe vollständige Stille eingetreten; Herr Norberg, jetzt seiner Sache sicher, fuhr in pathetischem Tone fort:

Welches aber ist sein Werkzeug? Natürlich zuerst der Amboß – der Amboß, der unerschütterliche, aus dem Gußstahl der Redlichkeit –

Hört! Hört!

- der Redlichkeit, die jeden Schlag und Stoß vertragen kann, weil sie fest in sich selber ruht und, wenn ich mich so ausdrucken darf, glatt poliert durch den guten Leumund aller Redlichen –

Ausgezeichnet! Bravo! Bravo!

Er sprach in der überschwenglichen Weise, in der er begonnen, weiter von dem »wuchtigen Hammer der Kraft«, den der Meister, den er feiere, wie kein andrer, zu schwingen wisse; von der »unermüdlichen Zange der Energie«, mit der er einmal gefaßte Pläne festhalte, von dem »Blasebalg« sogar »des vollatmigen Mutes«, der die Flamme der Begeisterung, die zu allem Schaffen gehöre, immer wieder von neuem in der eigenen Brust und in den Herzen seiner Mitarbeiter entfache. Endlich als Schlußstein gleichsam des Gebäudes seines Glückes, oder, um in dem Bilde zu bleiben, als letztes Glied der langen Kette rühmlichster Werke, die er geschmiedet, dieses Haus, das man wohl ein Schloß nennen dürfe, zu schaffen, das er so groß, so prächtig nicht für sich hergerichtet habe, denn er sei der bescheidenste der Menschen, sondern für seine Freunde, die er heute zu Hunderten, als Repräsentanten der übrigen Tausende, um sich versammelt und die nun ihre repräsentative Eigenschaft durch ein dreimaliges, für tausendfach geltendes Hoch auf den braven uneigennützigen Schmidt und Schmied seines Glückes betätigen möchten.

Die Gesellschaft entsprach, die einen aus Überzeugung, die meisten in der Weinlaune, nicht wenige aus bloßer Höflichkeit mit überlauten, von der Tafelmusik mit lärmenden Fanfaren begleiteten Hochrufen dieser Aufforderung, während der Redner von dem Stuhle herabstieg und den Dank des Gefeierten und die Glückwünsche der Genossen mit stolzer Bescheidenheit entgegennahm.

Herr Norberg wohlgefällig: Aber nun, Schmidt, alter Junge, 'rauf auf das Seil! Das hilft Ihnen nichts!

Der große, stattliche Mann, der jetzt auf dem Stuhle stand, war freilich sichtbar genug. Und da man sein Erscheinen auf diesem Platz bereits erwartet hatte, trat alsbald wenigstens so viel Ruhe ein, daß er mit einigem Anstand beginnen konnte.


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