Friedrich Spielhagen
Sturmflut
Friedrich Spielhagen

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Die beiden Männer standen einander gegenüber, sich mit den Blicken gegenseitig messend, wie zwei Athleten, die in einen Kampf auf Tod und Leben gehen und sich doch nicht enthalten können, jeder des andern herrliche Erscheinung zu bewundern und sich zu sagen, daß, wenn sie unterliegen, sie einem ebenbürtigen Gegner unterlegen sind. Und dabei hatte der General durchaus die Empfindung, daß, wie gewaltig und kraftvoll der Mann, der ihm gegenüberstand, auch sonst sein mochte, er selbst in diesem Augenblicke der Gefaßtere, der Ruhigere und somit der Stärkere war. Er sah es an der düstern Glut, die in den Augen des Mannes loderte, an dem Beben der Hand, die jetzt auf einen Fauteuil deutete; er hörte es an dem Schwingen der tiefen Stimme, die jetzt zu ihm sprach: Ich habe Ihren Besuch nicht erwartet, Herr General, aber er überrascht mich auch nicht.

Das vermutete ich, erwiderte der General, – und eben deshalb sehen Sie mich hier. Ich sagte mir, daß jede Stunde, die von uns ungenutzt verfließt, die Wahrscheinlichkeit eines freundlichen Arrangements der Angelegenheit, die mich zu Ihnen führt, verringert, indem sie dem elenden Schreiber dieses Briefes Zeit läßt, sein Gift weiter und weiter zu tragen. Darf ich Sie mit der harten Zumutung behelligen, dieses Schriftstück zu lesen?

Wollen Sie sich unterdessen die Pein auferlegen, einen Blick in dieses Machwerk zu werfen?

Die beiden Männer tauschten die Briefe, die sie erhalten, aus. Der Brief, den der General jetzt mit ruhiger Aufmerksamkeit durchlas, lautete:

»Das also ist der Mann, der seine Arbeiter entläßt, wenn sie ihr Wort nicht gehalten haben, wie er sagt! Hält er denn seines? Er, der Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit fortwährend im Munde führt und sich rühmt, daß er allein an der alten demokratischen Fahne von 48 festgehalten? Und der jetzt durch alle zehn Finger sieht, wenn sein Herr Sohn sich mit dem Gelde, das er ehrlichen Leuten gestohlen, Landgüter kauft und Paläste baut? Und wenn seine einzige Tochter einem Gardeoffizier nachläuft, der jedes halbe Jahr eine andere Maitresse hat und den Teufel tun und Fräulein Schmidt schlechtweg zur gnädigen Frau von Werben machen wird? Oder denkt Herr Schmidt das? Wünscht der Herr Schmidt das? Es sähe dem großen Fortschrittsmanne ähnlich; denn anders zu denken, als zu sprechen, anders zu sprechen, als zu handeln, ist ja von jeher das Metier der Herren gewesen, das sie so lange treiben, bis einmal jemand hinter ihre Schliche kommt und ihnen das saubere Handwerk legt, wie es in diesem Falle zu tun beschlossen hat

einer, der zu allem entschlossen ist.«

Der General gab den Brief zurück und empfing den seinigen.

Der Mann hat Ihnen gegenüber keine Maske vornehmen zu müssen geglaubt, sagte der General – bis auf die Handschrift.

Trotzdem erkannte ich sie auf den ersten Blick, erwiderte Onkel Ernst. Es ist die eines gewissen Roller, der mehrere Jahre lang Inspektor auf meinem Hofe war, bis ich ihn vor wenigen Tagen wegen Ungehorsams – in derselben Arbeitersache, auf die er im Beginn des Briefes anspielt – entlassen mußte.

Ich habe davon gehört, sagte der General. Das erklärt denn ja auch zur Genüge die brutale Rachsucht des Menschen; und auf den Weg, auf dem er entdeckt hat, was uns beiden bis zu diesem Augenblick Geheimnis war, würden wir ihm ja nicht folgen mögen, auch wenn wir es könnten. Lassen wir also diesen Punkt fallen. Ein anderer scheint mir wichtiger. Der Mann hat in dem Briefe, den er an mich geschrieben, seine Hand nicht einmal zu verstellen versucht; er hat also angenommen, daß wir nicht miteinander kommunizieren würden.

Der General hob bei diesen letzten Worten, scheinbar zufällig, seine Augen, aber sein Blick war scharf und durchdringend wie eines Batteriekommandeurs, der, die Sekunden zählend, nach der Stelle späht, wo die erste Kugel einschlagen wird.

Das ist der einzige Punkt, in dem er und ich uns begegnen, sagte Onkel Ernst.

Seine Stimme, die unterdessen ruhig geworden war, bebte wieder, und er hatte die Augen niedergeschlagen. Der General sah, daß es ihm vermutlich leicht sein würde, eine Erklärung zu provozieren, die ihn aller weiteren Erklärungen seinerseits überhob. Aber er hatte seinen Plan Punkt für Punkt überlegt, und er war gewohnt, seine Pläne auszuführen. Er sagte: Bevor ich weitergehe, wollen Sie mir gütigst verstatten, Ihnen eine, wenn auch noch so gedrängte Schilderung meiner Welt- und Lebensanschauung und der Situation, in der ich und meine Familie uns befinden, zu geben. Denken Sie sich, ich bitte, es wäre dies zu irgend einem, übrigens gleichgültigen Zwecke nötig: Ich müßte sprechen, Sie müßten hören, ob schon der eine lieber schwiege und der andere lieber nicht hörte.

Der General ließ Herrn Schmidt keine Zeit, ihm die erbetene Erlaubnis zu verweigern, sondern fuhr, ohne sich zu unterbrechen, fort: Ich stamme aus einer sehr alten, das heißt durch viele Generationen hindurch urkundlich beglaubigten Familie, die, wie es scheint, von Anfang an nicht reich gewesen und bereits seit zwei Jahrhunderten zu dem ärmeren, ja armen Adel gezählt werden muß. Es ist gewiß eine Folge dieser Armut, daß die männlichen Glieder der Familie fast ohne Ausnahme an den Höfen und in der Gefolgschaft ihrer Fürsten, besonders der militärischen, ihr Leben verbrachten, ja selbst die Frauen sich vielfach dem Dienste ihrer Fürstinnen widmeten.

Eine von meinen Schwestern – wir sind unser drei Geschwister – an einen reichen adligen Grundbesitzer verheiratet, hatte das Unglück, sich in ihrer Wahl getäuscht zu haben, und beging das Unrecht, jenes Unglück ohne Würde zu tragen, ja darin die Entschuldigung für eine Leidenschaft zu suchen, die sie in der Fremde für einen Mann gefaßt hatte, der, wie der adligen Geburt, so auch sonst der Tugenden oder Eigenschaften ermangelte, die ich von jedem Manne verlange, den ich achten soll. Der Tod übernahm die Scheidung, in die mein Schwager nicht hatte willigen wollen. Sein großes Vermögen sollte meinen Kindern zufallen; ich akzeptierte nach langem Widerstreben und schweren Bedenken und nur, um die Todesstunde dem Unglücklichen nicht noch qualvoller zu machen, die Hälfte für meine Kinder, unter derselben Bedingung, die auch meiner Schwester für den Besitz der andern Hälfte gestellt wurde, nämlich, daß sie der Erbschaft verlustig gehen sollte in dem Augenblick, wo sie eine Ehe gegen die Traditionen unserer Familie, ich meine, eine unadlige Ehe eingehen würde. Ich bemerke dabei, daß ich für meine Person außer einem nach heutigen Begriffen sehr geringen Vermögen, das ich mir aus meinem Gehalte im Laufe der Jahre zurückgelegt, keine Ressourcen hatte und habe als eben dieses Gehalt. Ich besitze auch jenes kleine Vermögen nicht mehr. Mein Sohn hat nicht meine sparsamen Gewohnheiten geerbt; vielleicht, daß der Geist der Zeit, der dem Maßhalten, das uns Älteren als höchste Tugend empfohlen wurde, so abhold ist, in Rechnung gezogen werden muß; vielleicht beging auch ich einen Fehler, als ich ihm erlaubte, in ein Regiment zu treten, das, wie die Sachen einmal liegen, nur reiche Offiziere haben kann; – genug, mein Sohn hat Schulden gemacht, die ich bezahlt habe, solange ich sie bezahlen konnte. Ich würde dies nach dem eben angeführten Grunde nicht weiter können, und ich habe leider Ursache, zu vermuten, daß die Lage meines Sohnes eine sehr prekäre ist, sobald er der Revenuen seines Erbteils, die er seit anderthalb Jahren bezogen, verlustig geht.

Es tut mir leid, Sie unterbrechen zu müssen, Herr General, sagte Onkel Ernst. – War es Ihnen recht, das Resultat Ihrer Erwägungen, welches es auch immer sein mag, gewissermaßen im voraus zu motivieren, so glaube ich, daß ich billigerweise für mich dieselbe Gunst beanspruchen darf.

Ich kann dem nicht widersprechen, sagte der General, – dennoch wünschte ich, Sie erlaubten mir, die wenigen gewichtigen Worte hinzuzufügen, die ich noch zu sagen habe. Ich habe durchaus die Empfindung, daß es für alle Beteiligten besser sein würde.

Nichtsdestoweniger muß ich auf meiner Bitte bestehen, sagte Onkel Ernst.

Der General hatte wieder seinen klaren, festen Blick auf den Gegner geheftet. Sein Plan war durchkreuzt. – Du hättest schneller vorgehen sollen, sprach er bei sich.

Wollen Sie denn die Güte haben, sagte er, sich in seinen Stuhl zurücklehnend.

Onkel Ernst antwortete nicht sogleich. Er hatte sich, als ihm der General gemeldet wurde, zugeschworen, ruhig zu bleiben; er hatte sich, während der General sprach, diesen Schwur immer wiederholt. Er wußte, daß er es geblieben wäre, hätte er den hochmütigen Aristokraten gefunden, den er erwartete, hätte der Aristokrat ihm von vornherein mit kaltem Hohn oder mit brutaler Heftigkeit erklärt, daß er nicht an eine Verbindung seines Herrn Sohnes mit dem Bürgermädchen denke, den Vater vielmehr auffordern müsse, seine Tochter künftig besser zu halten, wenn er den Skandal vermeiden wolle, und dergleichen mehr. Nun war alles anders gekommen. Und das war es eben, was dem Leidenschaftlichen den Rest der Ruhe zu rauben drohte, was ihn zwang, ein paar Augenblicke noch zu schweigen, bis er das tobende Herz so weit bezwungen hatte, um wenigstens äußerlich die Fassung zu behaupten, um sich wenigstens nicht gleich bei den ersten Worten zu verraten. Nun mochte es sein!

Ich habe keine Familiengeschichte zu erzählen oder auch nur zu skizzieren, Herr General; ich kann in dem gewöhnlichen Sinne nicht einmal von einer Familie sprechen; ich weiß zum Beispiel nicht, wer mein Großvater gewesen ist. Mein Vater sprach nie von ihm; es scheint, daß er keine Ursache hatte, auf seinen Vater stolz zu sein. Mein Vater war stolz, aber nur auf sich selbst: auf seine herkulische Kraft, auf seine rastlose Energie, auf seinen vor nichts zurückschreckenden Mut. Er war jähzornig, wie er stolz war. Als der Deichhauptmann, ein adliger Herr, bei einer Gelegenheit in Streit mit ihm geriet und die Hand an ihn zu legen wagte, schlug ihn mein Vater auf der Stelle nieder und mußte seine Gewalttat mit einem Jahre Gefängnis büßen.

Es scheint, daß man von Erbtugenden und Erbfehlern auch bei Leuten »ohne Familie« sprechen kann. So habe ich von jeher instinktiv das König- und Fürstentum gehaßt, als eine Institution, die nur unmündigen oder verlebten, greisenhaft gewordenen Völkern ziemt, von einem kraftvollen, sich seiner Kraft bewußten Volke aber mit Abscheu zurückgewiesen werden muß. So habe ich insonderheit den Adel gehaßt, als den Abfall und die Splitter des Materials, aus dem das Götzenbild geformt ist; so habe ich alle Institutionen gehaßt, die sich in ihrem Grunde auf Königtum und Adel zurückführen lassen. Von diesem Zwange so wenig als möglich zu erdulden, mich in eine Lage zu bringen, in der ich nach meiner Überzeugung leben durfte – das war, solange ich denken kann, die höchste Leidenschaft meiner Seele: ein freies Gemeinwesen, eine Republik gleichberechtigter, von keinen Vorrechten einzelner geknechteter und geschändeter Menschen.

Onkel Ernst machte eine Pause. Wieder mußte er den Strom niederkämpfen, der aus seinem Herzen aufbrausend und siedend zum Gehirn hinauftobte. Er mußte ruhig bleiben, gerade jetzt!

Es kam einmal ein Tag, fuhr Onkel Ernst fort, wo dieses Ideal nicht fürder in den Wolken zu schweben, wo es auf Erden herabsteigen zu wollen schien. Ich beklage tief, Erinnerungen wecken zu müssen, die Ihnen, Herr General, gewiß peinlich und schmerzlich sind; ich kann es leider, wie Sie sehen werden, nicht vermeiden.

Ich hatte am Abend des achtzehnten März tief hinten in der Königstadt den Bau von ein paar Barrikaden geleitet, an denen sich, weil sie wirklich kunstvoller und nach einem bestimmten System errichtet waren und wohl auch besser verteidigt wurden, die Macht unserer Gegner brach, wie hartnäckig, ja erbittert sie auch gerade hier kämpften unter Führung eines Offiziers, dessen todesverachtender Mut freilich wohl den Trägsten zur Nacheiferung entflammen mußte. In der Tat exponierte er sich fortwährend, fast, als ob er den Tod suchte. Mehr als einmal hatte ich die Büchse im Anschlage; ich sagte mir, daß ich den Offizier töten müsse, daß dieser eine der Sache, für die ich kämpfte, gefährlicher sei, als ganze Regimenter; ja, daß er die Personifikation der Sache sei, für die er kämpfte – ich konnte mich nicht entschließen. Es war wohl die Achtung, die ein Tapferer vor dem Tapferen hat – diesmal auf meine Kosten, denn ich war überzeugt, daß mich der Mann, wenn ich in seine Gewalt käme, ohne Barmherzigkeit töten würde wie ein giftiges Gewürm; und er bestätigte meine Voraussetzung. Das Bataillon, das er kommandierte, wurde zurückbeordert; ich sah, wie er mit dem Offizier, der die Botschaft überbrachte, in heftigen Wortwechsel geriet. Ich glaubte zu sehen, wie er mit sich rang, ob er dem Befehl, den er für eine Schmach und eine Dummheit zugleich hielt, – und von seinem Standpunkt sicher mit Recht: Wir hätten uns keine fünf Minuten länger halten können – Folge leisten solle oder nicht. Der militärische Gehorsam siegte: Er kam bis hart vor die Barrikade geritten und sagte, indem er den Degen klappend in die Scheide warf: Ich habe Ordre, mich zurückzuziehen; wenn es nach mir ginge, würfe ich euch da oben herunter und ließe euch über die Klinge springen, wie ihr da seid.

- Dann wandte er sein Pferd und ritt Schritt für Schritt zurück. Selbst der Tod durch eine Kugel im Rücken hatte in diesem Augenblicke nichts Schreckliches für ihn. Wirklich pfiffen auch noch ein paar Kugeln an ihm vorbei; vor der Kugel, die seine tapfere Brust verschont hatte, war sein Rücken sicher.

Onkel Ernst schwieg abermals.

Der General hatte den Kopf schwer in die Hand gestützt, und er hob ihn auch nicht, als er, mit einer seltsam tonlosen, wie gebrochenen Stimme sagte: Ich bitte, weiter!

Eine Viertelstunde später war ich ein Gefangener. Gegen vier Uhr wurden wir abgeführt – nach Spandau – getrieben, gehetzt. Meine Kraft war noch nicht gebrochen, aber Schwächere brachen zusammen. Neben mir ging ein junger blasser Mensch – ein zartes Bürschchen – ein Student mit einer Brille. Er hatte tapfer ausgehalten, solange er konnte, er konnte nicht mehr. Wie er auch die Zähne übereinander biß, die Tränen brachen ihm aus den Augen, wenn ein Kolbenstoß in den Rücken ihn zu einer Kraftanstrengung aufforderte, deren er nicht mehr fähig war. Ich konnte den Jammer nicht mehr mit ansehen, stürzte, alles vor mir niederwerfend, auf einen Offizier zu, der an der Seite des Zuges ritt, und schrie ihn an: Wenn Sie ein Mensch sind, dulden Sie nicht länger, daß in Ihrer nächsten Nähe Unmenschliches geschieht! Ich war außer mir; ich glaube, ich habe dem Pferde in die Zügel gegriffen. Der Offizier mag es für einen persönlichen Angriff gehalten haben; er gab dem Pferde die Sporen, daß es sich aufbäumte und mich zurückschleuderte. Ich raffte mich sogleich wieder empor: Wenn Sie ein Mensch sind – schrie ich wieder, mich ihm abermals in den Weg werfend. – Demokrat! knirschte er durch die Zähne, so stirb, wenn du nicht anders willst! Er hob sich im Bügel, sein Degen sauste auf mich nieder. Mein breitkrempiger Hut und mein dichtes Haar hatten die Wucht des Schlages gemildert, dennoch sank ich in die Knie, das Bewußtsein für einen Moment verlierend. Im nächsten stand ich wieder da, entschlossen, mein Leben teuer zu verkaufen, als ein anderer Offizier herangesprengt kam, dem ersten eine Meldung bringend, einen Befehl – ich weiß nicht was – worauf dieser mit einem: Ist es möglich? sein Pferd herumwarf. In demselben Augenblicke trat der Mond, der hinter schwarzem Gewölk verborgen gewesen war, hervor; in seinem Licht erkannte ich deutlich in dem Offizier meinen Gegner von der Barrikade. Er sprengte davon. Wir treffen uns zum dritten Male! schrie ich ihm nach, während ich mit Kolbenstößen in die Reihen zurückgetrieben wurde, – dann ist vielleicht die Reihe wieder an mir und – ich schwor es mir zu mit einem teuren Eide: Dann werde ich dich nicht wieder schonen.

Seit jener Nacht sind vierundzwanzig Jahre verflossen; ich habe den Offizier oft und oft gesehen; er kannte mich natürlich nicht; ich hätte ihn unter Millionen herausgefunden. Ihm und mir sind unterdessen Haar und Bart grau geworden; ich schwöre zu Gott, daß ich wünschte und hoffte: Jenes dritte Mal werde mir erlassen werden. Es hat nicht sein sollen; er und ich stehen uns jetzt und hier zum dritten Male gegenüber.

Die beiden Männer hatten sich in ihrer Erregung von den Sitzen erhoben. Keiner wagte, den andern anzublicken; beide scheuten sich, das nächste Wort zu sprechen. – Die schweren Tropfen klapperten gegen die Scheiben; die Stutzuhr auf dem Kamin hob zum Schlage aus. Der General kannte das Wort so gut, wie er die Stunde wußte, die nun schlagen würde; dennoch: Es mußte gesprochen werden.

Und nun, sagte er, die Konsequenzen! Ich glaube, die Reihe ist an mir.

Was es mich gekostet hat, heute morgen diesen Gang zu Ihnen zu tun – das lassen Sie mich mit mir selbst und meinem Gott ausmachen: Es ist mehr und weniger, als Sie annehmen mögen. Genug, ich bin hier und bitte Sie, meinem Sohn zu verzeihen, wenn er sich durch eine in diesem Falle zwar falsche, ja sträfliche, aber doch begreifliche Rücksicht auf Verhältnisse, in die er hineingeboren ist, von dem geraden Wege hat abdrängen lassen, der zu dem Vater des Mädchens führte, das er liebte; bitte Sie, die Kinder nicht entgelten zu lassen, daß die Väter sich in einer schlimmen Stunde mit den Waffen in der Hand gegenüberstanden, bitte Sie im Namen meines Sohnes für meinen Sohn um die Hand Ihrer Tochter.

Onkel Ernst taumelte zurück wie ein Wanderer, vor dem ein Felsblock niederstürzt, ihm den Weg versperrend, während der Abgrund neben ihm gähnt und es ein Zurück für ihn nicht mehr gibt.

Draußen tobte der Regensturm, die Stutzuhr schlug die zehnte Stunde. Onkel Ernst raffte sich zusammen: Der Block mußte aus dem Wege – mußte!

Ich habe geschworen, daß diese Hand verdorren möge, bevor sie die Hand des Generals von Werben berührt.

Schwerlich bei dem Gott, der die Allgüte und die Allbarmherzigkeit ist.

Ich habe es geschworen.

So bedenken Sie, was geschrieben steht, daß der Mensch wie Gras ist, das heute grünt, um morgen geschnitten zu werden und zu verdorren. Wir beide sind kein junges Gras mehr; wer weiß, wie bald für uns das Morgen kommt.

Ich wünsche, es käme bald.

Vielleicht auch ich. Und bis dahin? Bedenken Sie, daß der Väter Segen den Kindern wohl das Haus baut, aber daß wir keine Macht haben, den Bund zweier Herzen zu lösen, die sich ohne uns – sagen wir gegen unsere Wunsch und Willen – gefunden haben. Bedenken Sie, daß die Verantwortung des Unsegens, der aus diesem segenlosen Bunde weiter entstehen muß, von diesem Augenblick auf Ihr Haupt zurückfällt.

Ich habe es bedacht.

Und ich habe meine Pflicht getan.

Der General machte seine stattlich-vornehme Verbeugung und bewegte sich, von Onkel Ernst höflich geleitet, nach der Tür. Dort blieb er stehen.

Noch eines: Der Mangel des Konsenses der Väter verhindert – zumal in diesem Falle, in dem ein vermögensloser Offizier der Bewerber ist – die Verbindung. Nichtsdestoweniger wird sich mein Sohn für gebunden erachten, es wäre denn, daß Ihr Fräulein Tochter selbst ihm seine Freiheit zurückgibt. Ich nehme an, daß Ihr Fräulein Tochter dies nicht tun wird, vorausgesetzt, daß der Vater keinen Druck auf ihre Entschließungen ausübt.

Diese Voraussetzung würde mich zu der Annahme berechtigen, daß der Herr General von Werben keinen Druck auf seinen Sohn ausgeübt hat, als der letztere ihn zu dem Antrage ermächtigte, mit dem er mich soeben beehrte.

Die mächtigen Augen loderten, er hielt den Gegner in festem Griff – jetzt mußte es sich entscheiden. Über des Generals Gesicht zuckte es schmerzlich: Die Annahme würde nicht richtig sein. Das Bewußtsein der Pflicht war bei dem Vater stärker als bei dem Sohn.

Er war gegangen. Das wilde Feuer in den Augen des Mannes, der zurückblieb, war zu einem Freudenfeuer geworden.

Ich wußte es ja! Sie bleibt sich immer gleich, die Brut, auch wenn sie sich noch so sehr mit ihrer Tugend brüstet! Nieder! Nieder mit ihnen!

Er stand da, vornübergebeugt, die starken Arme schüttelnd, als läge der verhaßte Gegner wirklich zu seinen Füßen. Dann richtete er sich auf. Die Arme sanken herab, das Freudenfeuer in den Augen war erloschen. Noch war der Sieg nicht sein; es galt noch einen Kampf – den schwersten – den Kampf mit seinem Fleisch und Blut.

*


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