Friedrich Spielhagen
Sturmflut
Friedrich Spielhagen

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Ottomar hatte sich von dem Wirte genau Bescheid sagen lassen; der Weg, der gerade durch das Dorf abwärts leitete, war auch sonst nicht zu verfehlen. Er ging langsam und blieb wiederholt stehen: ein paarmal, weil ihn der Sturm, der ihn gerade von vorn traf, nicht weiter ließ, und dann wieder, weil er sich darauf besinnen mußte, was er denn eigentlich im Schloß wolle. Der Kopf war ihm so wüst von der langen Fahrt in dem offenen Wagen durch den schauderhaften Sturm, und dann im Herzen – da war es so dumpf, es war ihm, als ob er nicht einmal mehr die Kraft habe, dem Schurken ins Gesicht zu sagen, daß er ein Schurke sei. Und dann – es hatte ja in Gegenwart der Tante sein sollen, sein müssen, wenn der Elende hinterher nicht alles wieder ableugnen und die Tante weiter in sein Lügengewebe verstricken sollte, wie er sie alle verstrickt hatte. Oder war dies alles ein zwischen ihm und der Tante abgekartetes Spiel? Es war doch eher verdächtig, daß sie gerade heute, wo man erwarten mußte, daß er kommen würde, den Schurken zur Rechenschaft zu ziehen, so früh schon das Schloß verlassen hatte. Mit Elsen freilich. Aber konnte die Liebe, die sie Elsen zuzuwenden schien – heimlich, wie denn dies alles in dunkeln, verborgenen Wegen schlich – nicht auch nur eine Liebe nach dem Rezept Giraldis sein: Die Tante hatte es übernommen, Elsen anzulocken und zu betören, wie Giraldi ihn; und sie waren beide ins Garn geflogen, und die schlauen Finkler lachten die dummen Gimpel aus. Die arme Else, die sich sicher auch auf die schönen Versprechungen verlassen und nun zusehen mochte, wie sie als Frau Lotsenkommandeur mit ein paar hundert Talern fertig würde, da drüben irgendwo in dem elenden Fischernest! Da – das sollte unser Erbe sein – das Schloß am Meer, wie wir's getauft hatten, wenn wir uns unsere Zukunft ausmalten; – wir wollten's gemeinsam bewohnen – den einen Flügel du, den andern ich. Und wenn du den Prinzen heiratetest und ich die Prinzessin, dann wollten wir losen, wer es allein haben sollte, – zusammen ginge es nicht mehr von wegen des großen Gefolges!

Und nun, du liebste, beste von allen Mädchen, bist du so weit von mir, des Liebsten harrend, der vielleicht in den Sturm hinaus ist, ein paar Heringsfischern das kostbare Leben retten, und ich –

Er hatte sich auf einen Stein gesetzt, der auf dem äußersten Rande der Schlucht, nach der Senkung zu, vorragte, in dem lockeren Mergel wohl nur noch festgehalten durch die Wurzeln einer schönen, kräftigen Fichte, die sicher einst viel weiter ab von dem Rande gestanden hatte und sich jetzt unter dem Druck des Sturmes ächzend und knarrend nach hinten bog, als wollte sie dem Sturz in die Tiefe entfliehen.

Uns beiden ist nicht zu helfen, sagte Ottomar. Das ist denn allmählich so weggebröckelt, und wir hangen mit den Wurzeln in der Luft. Der Stein, der uns gern gehalten hätte, tut's auch nicht – im Gegenteil! Und dann nur noch ein tüchtiger Sturm, wie jetzt, und wir liegen beide unten! Ich wollte bei Gott, wir lägen da; und du hättest mir im Fallen den Schädel zerschmettert, und die Flut käme und spülte uns hinaus ins Meer, und wüßte keiner, wo wir ein Ende genommen!

Und sie? Sie, die er eben verlassen in dem elenden geschmacklosen Gasthofszimmer, sie, als er zur Tür hinausging – sie dachte gewiß, er sähe es nicht mehr – sich auf das harte Sofa warf, den Kopf auf der Lehne in die Hände gedrückt, weinend, ohne Zweifel! Worüber? Über ihr jämmerliches Los, das sie an einen kettet, der schwächer war als sie. Sie hatte die Kraft, sie würde es durchhalten, mochte kommen, was wollte. Aber was konnte auch für sie kommen? Sie hatte ihm hundertmal unterwegs gesagt, daß er sich über das elende Geld keine Gedanken machen solle, daß ihr Vater viel zu stolz sei, um ihr eine Bitte zu verweigern – die erste, die sie, so weit ihre Erinnerung reiche, je an ihn gerichtet, die letzte, die sie je an ihn richten würde. Und so hatte sie noch in Neuenfähr, wo sie eine halbe Stunde auf den Wagen warten mußten, an ihren Vater geschrieben. Die Sache ist aus der Welt, hatte sie gesagt, ihm das Haar aus der Stirn streichend, wie eine Mutter dem Sohn, der dumme Streiche in der Schule gemacht.

Sie war die stärkere. Aber was verlor sie denn auch, ihren Vater? – Sie schien ihn nie wahrhaft geliebt zu haben; ihr behagliches Leben in dem schönen, reichen Hause? – Was weiß ein Mädchen, was und wieviel zum Leben gehört! – Ihre Kunst? Sie nahm sie ja überall mit sich; sie hatte ja lächelnd gesagt, die reiche für sie beide aus. Natürlich, sie würde ihn ja nun auch noch erhalten müssen, den weggejagten Leutnant!

Die Fichte, an der er lehnte, ächzte und stöhnte wie ein gequältes Tier, Ottomar spürte, wie die Wurzeln sich hoben und dehnten und der Mergel die steile Böschung hinabschollerte, während es oben in dem Gezweig pfiff und heulte und knatterte wie Kleingewehrfeuer.

Ich hatte es damals so einfach, sagte Ottomar, der Vater hätte meine Schulden bezahlt und wäre stolz auf mich gewesen, anstatt mir jetzt eine Pistole zu schicken, als ob ich nicht ebensogut wüßte wie er, daß es mit Ottomar von Werben zu Ende ist; und Else hätte oft und gern von ihrem Bruder gesprochen, der bei Vionville fiel. Die liebe Else, wie gern sähe ich sie noch ein einziges Mal!

Er hatte vom Wirt gehört, daß der Wagen der Damen, wenn sie am Abend, wie ihm der Kutscher gesagt, zurückkämen, hier, als auf dem einzigen noch praktikabeln Weg, vorüber müsse; der nähere unten durch die Niederung halte nicht mehr.

Jetzt wieherte es ganz deutlich – in seiner unmittelbarsten Nähe – in dem Hohlweg, an dessen Rande er stand über einem Wagen, der von den rückwärts drängenden Pferden gegen die Wand des Hohlwegs geschoben wurde.

Mit einem Satze war er hinter dem Wagen in dem Hohlweg und bei dem Kutscher, vorn an den schnaubenden Pferden, dem Mann helfend, sie herumzureißen, es war noch eben Platz.

Wo sind die Damen?

Ausgestiegen – oben – hatten's so eilig – über den Steg in dem Grund nach dem Parke – Herr Gott! Herr Gott! Wenn sie nur noch herübergekommen sind! Herr meines Lebens!

Ottomar hatte aus den wirren Worten des Kutschers, die der Sturm noch dazu größtenteils unverständlich gemacht, nur so viel begriffen, daß Else in Lebensgefahr sei. Was war das für ein Steg? Wo war der Steg?

Er lief rufend, schreiend dem Kutscher nach. Der Mann hörte nicht.

*

Giraldi sah nach der Uhr, es war in zehn Minuten sechs. François, der bereits vor einer halben Stunde zurückgekommen, hatte geschworen, er sei überzeugt, Madame würde sich sogleich hinter ihm her auf den Weg gemacht haben. Der Weg sei gar nicht so schlecht, wie er gedacht; sie könnten um sechs recht gut auf dem Schlosse sein.

Giraldi ging ins Haus, François noch einmal zu fragen. François war nicht zu finden. Jemand wollte ihn vor ganz kurzer Zeit durch den Gartensaal nach dem Park haben gehen sehen. Er habe einen Mantel umgehabt.

Der Bursche ist gescheit, sagte Giraldi bei sich, er hat sein Geld und macht sich davon. Du bist in derselben Lage, du solltest einem so klugen Beispiele folgen. Und dennoch: Es war ja noch nichts verloren, es war noch alles zu gewinnen, ja, es war alles gewonnen, sobald Valerie auf seiner Seite stand: Aber Valerie mußte eben zu allem Ja sagen – mußte, mußte, mußte!

Er wußte kaum, wie er in den Park gekommen war, vielleicht, um nach François zu suchen; vielleicht, weil man ihm gesagt, daß man von dem Altan in der Südecke den Weg nach Wissow über die Hügel auf längere Strecken gut übersehen könne, wenn in der Dunkelheit, die mit jedem Moment tiefer hereinzusinken schien, überhaupt noch etwas in größerer Entfernung zu sehen gewesen wäre! Und wo war die Südecke? Als wenn man zwischen dem Gestrüpp dieser raschelnden Hecken, in dem Dunkel dieser sausenden, ächzenden Bäume Bescheid wissen könnte.

Er blickte auf seine Uhr – er konnte die feinen Zeiger auf dem Zifferblatt nicht mehr erkennen. Er ließ das Werk repetieren – er hörte das leise Klingen nicht in dem Donner des Sturms, der um ihn, über ihm krachte und rasselte. Er wollte noch fünf Minuten abzählen, wenn sie dann nicht kam, – mochte es sein!

Und da war der Altan, nach dem er so lange gesucht – ein hölzerner Bau auf vier dünnen Pfeilern, zu dem eine schmale gerade Treppe hinaufführte. Er lag hoch genug, um das Terrain zwischen dem Parke und den Hügeln drüben zu überblicken, einen fünfzig bis hundert Schritt breiten, muldenförmigen Grund, durch den ein dunkler, sich schlängelnder Steg führte.

Er betrachtete sich die Situation genau. In der verhältnismäßigen Helligkeit auf seiner Warte hatte er auch die Uhr sehen können: Es war zehn Minuten vor sechs, und also keine Sekunde mehr zu verlieren. Er wollte sich nun durch den Park nach dem Schloßhof zurückbegeben – er würde dort sofort erfahren, ob Valerie gekommen war oder gar schon der andre. Dann – im Notfalle – zurück durch den Park, über den Steg, in das Dorf. Er würde schon ein Fuhrwerk auftreiben und dann – zum bösen Teufel, elendes Barbarenland, auf Nimmerwiedersehen!

Er ließ die Blicke noch einmal über die Hügel drüben schweifen, auf deren Rande er den Wagen hatte sollen kommen sehen. Unsinn! Wer konnte da noch etwas erkennen, wo über alles sich ein grauschwarzer Schleier breitete, der mit jeder Minute undurchsichtiger wurde. Selbst der Steinpfad in dem Grunde hob sich kaum noch heraus; die dunkle Linie schwankte hin und her, die Steine schienen sich zu bewegen. Aber das bewegte sich wirklich – das waren die Steine nicht – es waren Menschengestalten – Frauengestalten – zwei – die über die Steine kamen – sie, zweifellos, mit dem verhaßten Mädchen – gleichviel!

Er war das steile Treppchen hinabgestürzt durch den Buchengang, in dem es fast völlige Nacht war, nach dem Pförtchen, das er vorhin, wo der Buchengang anfing, in der Einfriedigung des Parkes bemerkt und auf das, wie er annahm, jener Steinpfad mündete.

Valerie bebte zurück, als sie den Entsetzlichen so plötzlich, wie eine Ausgeburt des Dunkels und der entfesselten Elemente, vor sich sah. Aber schon hatte er sie an der Hand ergriffen und in den Gang gezogen, während Else auf der Tante flehende Bitte: Laß mich mit ihm allein! stehen geblieben war, ungern Folge leistend, mit den scharfen Augen die im Dunkel des Ganges verschwindenden Gestalten der beiden verfolgend.

So stand sie, spähend, lauschend – fürchterliche Minuten, von denen sie jede Sekunde an den Hämmern ihres Herzens hätte zählen können. Jetzt sah sie die beiden, die eiligen Schrittes in der Tiefe des Ganges auf und ab zu gehen schienen, sie glaubte einzelne verflatternde Worte zu vernehmen. Dann wieder verschlang das wilde Konzert des Sturmes und der Flut jeden Laut. In dem Dunkel verschwanden die Gestalten – sie konnte die Angst nicht länger ertragen; sie eilte in den Gang hinein – vorüber an etwas, das an ihr vorbeihuschte – er!

Sie schrie es heraus: Verräter! Mörder! Der wilde Schrei klang nicht lauter als eines Kindes Lispeln. Sie stürzte den Gang hinab bis zu dem Altan, Tante, Tante! rufend, während sie doch nur noch eine Tote zu finden erwarten durfte. Da – am Fuße der Treppe.

Sie kauerte auf den untersten Stufen der Treppe, auf ihrem Schoß den Oberkörper der Dahingestreckten, von deren eiskalter Stirn ein warmer Strom herabrieselte. Aber sie lebte ja noch! Sie hatte mit ihren schlanken Fingern die Hand, welche die ihre ergriffen, zu drücken versucht, und jetzt kamen leise Worte, die Else, tief sich herabbeugend, zu fassen suchte: Ängstige dich nicht! – Es ist nichts – ein Fall gegen das Geländer, als er mich wegschleuderte – frei, Else, frei! – Frei!

Else überlegte, während sie mit ihrem und der Tante Taschentuch und einem Fetzen, den sie von ihrem Kleide riß, die Wunde auf der Stirn, so gut es gehen wollte, verband, ob sie versuchen solle, die leichte Gestalt bis zum Schlosse zu tragen. Der Verband war fertig; sie wollte die Tante eben sanft aus ihrem Schoße heben, als es durch die Büsche, durch die Hecken, zwischen den Bäumen herankam, auf sie zu, wie tausend und abertausend Schlangen, deren Zischen selbst durch das Heulen des Sturmes hindurchklang mit seltsam gräßlichem Laut, vor dem Elsen das Blut im Herzen stockte. Atemlos horchte sie hin und fuhr dann mit einem gellen Schrei in die Höhe, die Tante emporreißend, mit der Kraft der Verzweiflung die Treppe hinaufziehend, tragend, die Ohnmächtige, sich selbst aus der Flut zu retten, die durch den Park hereinbrach.

Und so saß sie, den Kopf der Ärmsten wieder auf ihrem Schoß haltend, umheult von dem Sturm, umdonnert von der Flut, die fortwährend den schwanken schwachen Holzbau bis in die Fugen der morschen Bretter erschütterte, betend, daß Gott ihnen den einen senden möge, den einzigen, der sie erretten könnte aus dieser gräßlichen Not.

*


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