Friedrich Spielhagen
Sturmflut
Friedrich Spielhagen

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Es ist halb fünf Uhr, sagte Else; wir müssen fort.

Bleib' du hier!

Ich bin sicher, daß der Vater unterdessen gekommen ist, ja er kann, wenn er auch mit dem Mittagszuge abgegangen, jetzt noch nicht in Warnow sein. Aber der Schreckliche ist sicher da, erwartet dich, fährt vielleicht wieder fort, ohne deine Rückkehr abzuwarten –

Ich muß ihn sprechen, murmelte Valerie.

Und sollst ihn nicht allein sprechen.

Sie saßen am Fenster in Reinholds Studierstube, rechter Hand, wenn man in das einstöckige, verhältnismäßig stattliche Haus trat – verhältnismäßig zu den anderen Häusern, die eben noch kleiner waren.

Else war beinahe in allen gewesen. In den Häusern der beiden Oberlotsen und in fünf oder sechs Häusern der vierundzwanzig anderen Lotsen, die auf zwölf Häuser verteilt waren; und in dem des Obersteueraufsehers, der wieder mit dem Untersteueraufseher in einem Hause wohnte, und sie wäre auch noch in die andern Lotsenhäuser und in die Fischerhütten, deren es auch wohl ein paar Dutzend geben mochte, getreten, nur daß es nicht nötig war, weil die Leute überall, wohin sie kam, vor den Türen standen und ihr die Hände entgegenstreckten. Und der Herr Kommandeur würde zurückkommen, sagten die Frauen, wenn es auch ein schlimmer Sturm sei, der schlimmste, den Clas Rickmann erlebt, der doch zweiundneunzig Jahre alt war und der also wohl ein Wort mitsprechen könne! Der Herr Kommandeur verstände seine Sach' und hätte sechse bei sich, die verstanden auch ihre Sach', und sei mit dem neuen Rettungsboot schon die Zeit vorher dreimal draußen gewesen, ohne daß es einmal umgeschlagen, und so würde es auch heute nicht umschlagen, noch dazu, da seine liebe Braut selber gekommen wäre, um ihn zu empfangen, wenn er zurückkäme.

Und dann hatte sie eine ganze Schar von Frauen und Mädchen, während eine noch größere Schar von Kindern hinter- und nebenherlief, nach dem Platze begleitet bis beinahe an das Ende der Halbinsel, wo auf einer hohen Düne Signalstangen und große Leuchtbaken standen, und hinter der Düne – die noch wenigstens einigen Schutz bot – ein dichter Knäuel von Männern in hohen Wasserstiefeln und sonderbaren, bis weit in den Nacken reichenden Wachsleinwandhüten, die auf die rasende See hinauslugten und, als das Fräulein unter sie trat, die Wachsleinwandhüte zogen und Clas Janßen, als dem Ältesten, das Wort ließen, damit er dem Fräulein ordentlich Bescheid sage, und mit vornüber gebogenen Köpfen eifrig zuhorchten und nickten und, wenn sie sich abwandten, um auszuspeien, sorgfältig darauf achteten, daß es unter dem Wind war.

Und Clas Janßen erzählte, daß heute morgen, als es so weit hell wurde, eine Jacht, die jetzt hinten in der Bucht ankere, eingelaufen und die Nachricht gebracht, daß dicht an der Grünwalder Oie ein Schiff auf dem Strande sitze und die Notflagge trage. Das Schiff – ein kleiner holländischer Schoner – sei ihnen gut gebaut erschienen und könne es schon noch ein paar Stunden oder so aushalten, da es auf glattem Sande sitze, wenn die Wellen die Menschen nicht vorher herunterspülten. – Eine halbe Stunde später wäre das Rettungsboot dann in See gewesen mit dem Kommandeur, und sie hätten es drei Stunden lang verfolgen können, wie es gegen den Sturm aufkreuzte, und hätten es zuletzt noch in der Brandung gesehen vor der Oie; aber die Brandung müsse doch wohl zu stark sein, und das Wetter wäre zu undurchsichtig – sie hätten es dann verloren – selbst vom Ausguck oben und aus dem schärfsten Fernglase – und wüßten nicht, ob der Kommandeur an Bord gekommen, und es sei gewiß ein schwer' Stück Arbeit, da es so lange daure. Aber der Kommandeur, der werde es schon durchholen. Und nun solle das Fräulein hineingehen und sich von Frau Rickmann eine Tasse Tee machen lassen, sie wollten ihr schon Bescheid sagen, wenn das Boot in Sicht wäre, und was das Zurückkommen betreffe, da solle das Fräulein auch nur ganz ruhig sein: Der Herr Kommandeur verstände seine Sach', und die sechse, die mit ihm wären, die verständen auch ihre Sach'.

Und nun, wie in einem wirren, schönen Traum, war es, daß Else nach dem Strande lief neben einem Manne in hohen Wasserstiefeln und einer sonderbaren Kopfbedeckung, der im Laufen allerlei erzählte, wovon sie kein Wort verstand, und dann auf dem Platze war, wo sie bei der Ankunft gewesen, im Schutze der Düne und dann oben auf der Düne, auf der jetzt die Leuchtfeuer durch den Abenddunst flimmerten. Und dann sah sie plötzlich das Boot, das sie beständig, Gott weiß wo, in der dicken Luft gesucht, ganz nahe, und war dann an einer ganz anderen Stelle, wo das Ufer flach war und die Brandung nicht ganz so fürchterlich tobte, und sah wieder das Boot, das jetzt noch einmal so groß schien wie vorhin, sich mit dem ganzen Kiel aus dem weißen Schaum heben und wieder im Schaum versinken und wieder heben, während ein paar Dutzend von den Männern in den weißen Schaum hineinliefen, der ihnen über den Köpfen zusammenschlug. Und dann kam einer durch die abrollende Welle, in hohen Wasserstiefeln, und hatte gerade solchen sonderbaren Hut auf, und sie stieß einen Freudenschrei aus und stürzte ihm entgegen und hing an seinem Halse, und er hob sie in die Höhe und trug sie eine Strecke, bis sie den Fuß wieder auf den Sand setzen konnte. Und ob er sie dann weiter getragen, ob sie zusammen geflogen oder gegangen, – sie wußte es nicht und sah ihn eigentlich erst, als er bereits, nachdem er sich umgezogen, an dem gedeckten Tische saß und lachte, weil sie ihm ein Glas Portwein nach dem andern einschenkte, während die Tante lächelnd dabei saß und Frau Rickmann ab und zu ging und Hammelkoteletts mit dampfenden Kartoffeln und Rührei mit Schinken auftrug, und er, trotzdem er keinen Blick von ihr verwandte, – alles aufaß mit dem Hunger eines, der seit Morgen um sieben bis jetzt keinen Bissen gegessen. Es war keine Zeit dazu gewesen. Es war ein bös Stück Arbeit gewesen, bis zu dem gestrandeten Schiff zu kommen, und ein noch böseres, die armen Menschen mitten aus der Brandung zu holen, aber es war gelungen; sie waren sämtlich gerettet – ihrer acht. Hatte sie dann bei Grünwald ans Land setzen müssen – was wieder ein schwierig Ding war und ihn so lange aufgehalten, aber es war nicht anders zu machen gewesen, da die armen Menschen, die die ganze Nacht in der Takelage gehangen, in einem zu jämmerlichen Zustande waren; aber sie würden schon noch einmal durchkommen.

Berauscht von dem Wonneduft der wunderholden Blume, die sie sich von des Abgrunds Rand pflücken mußten, bemerkten sie erst jetzt, daß Tante Valerie sie verlassen. Else teilte ihm mit schnellen Worten mit, um was es sich für die Ärmste handle, und wie sie nun keinen Augenblick mehr verlieren dürften, um den schlimmen Weg nach Hause wieder anzutreten.

Keinen Augenblick! rief Reinhold, sich erhebend, ich will sogleich das Nötige anordnen.

Es ist bereits geschehen, sagte Valerie, die, hereintretend, die letzten Worte gehört, der Wagen hält vor der Tür.

In dem tiefen Sande war das Geräusch der Räder von den Glücklichen nicht gehört worden, ebensowenig wie der Hufschlag von dem Pferde eines Reiters, den Tante Valerie vorhin durch das Fenster gesehen und dessen Botschaft in Empfang zu nehmen sie vorhin aus dem Zimmer gegangen.

Er war da, er befahl ihr zu kommen! – Sie wußte es, bevor sie den Brief erbrach, den ihr François überreichte. Sie hatte den Brief gelesen – in der kleinen Stube linker Hand, am offenen Fenster stehend, während François draußen stand – und hatte, während sie las, laut gelacht und das Blatt in Stücke gerissen und die Stücke verächtlich zum Fenster hinausgeschleudert in den Sturm, der sie im Nu verwehte.

Madame lacht, hatte François gesagt, – auf französisch, wie immer, wenn er eindringlich sprechen wollte – aber ich versichere Madame, daß die Sache nicht zum Lachen ist und daß, wenn Madame nicht vor sechs Uhr auf dem Schloß ist, es ein großes Unglück gibt.

Ich werde kommen.

Else war sofort bereit, und Reinhold versuchte mit keinem Worte, mit keinem Blicke, sie zu halten. Er hätte sie so gern begleitet, aber daran war nicht zu denken. Er durfte jetzt seinen Posten keine Stunde verlassen, könnte ihn doch jeden Augenblick die Pflicht wieder rufen!

Und Else hatte den Mantel noch nicht umgebunden, da trat ein Lotse herein, Meldung zu bringen von dem Boote, das um zwei Uhr ausgesegelt nach dem Dampfer, der von dem Wissower Haken signalisiert war. Sie waren auf der Rückfahrt – es war mittlerweile fünf Uhr geworden – erschrocken gewesen über die Brandung, die an den Dünen zwischen dem Hafen und dem Golmberge stand, und hätten so weit als möglich hineingehalten, um sich zu überzeugen, ob die See durchgebrochen wäre, wie der Herr Kommandeur vorausgesagt. Das hätten sie denn nun zuerst, eben der grausamen Brandung wegen, nicht feststellen können, aber als sie dann, um darüber ins klare zu kommen, noch näher gehalten, habe Clas Lachmund zuerst und dann auch die andern auf der Weißen Düne zwei Menschen gesehen, von denen der eine wohl eine Frau gewesen sein möchte, die sich nicht geregt hätte, während der andre – ein Mann – Zeichen gemacht. Es hätte ihnen aber, trotz aller Mühe, nicht gelingen wollen, heranzukommen, ja, sie müßten von großem Glück sagen, daß sie wieder flott geworden, nachdem sie sich dicht bei der Weißen Düne festgesegelt, und dabei hätten sie denn freilich gesehen, daß der Durchbruch stattgefunden – nord- und südwärts von der Weißen Düne sicher, wahrscheinlich aber auch an anderen Stellen. Um die beiden auf der Weißen Düne stehe es allerdings schlimm, wenn sie nicht vor Nacht noch geborgen würden.

Wer können die Unglücklichen sein! fragte Valerie.

Schiffbrüchige, gnädige Frau – wer sonst! erwiderte Reinhold.

Die zwei Menschen aber auf der Düne – er hatte es Elsen nicht sagen mögen – waren sicher keine Schiffbrüchige, da ein Schiff, das gestrandet, längst, vom Haken aus, gemeldet gewesen wäre.

Und wenn auch der Oberlotse Bonsak ein wenig übertrieben haben mochte, wie er es bei dergleichen Gelegenheiten ja zuweilen tat – Gefahr war jedenfalls: Gefahr für die beiden, von denen er nichts wissen wollte, als daß es Menschen waren, die ohne ihn verloren sein mußten.

*

In der großen, vom Rauch schlechten Tabaks und dem Mißduft verschütteten Bieres und Branntweins erfüllten Gaststube im Wirtshaus von Warnow lärmten die heute morgen angekommenen Fuhrknechte, zu denen sich im Laufe des Nachmittags ein paar Viehhändler gesellt hatten, die nun auch lieber bleiben wollten. Der Wirt stand bei ihnen und schrie noch lauter als seine Gäste, denn er mußte am besten wissen, ob eine Eisenbahn, die nicht über Warnow, sondern von Golm direkt am Wissower Haken hin nach Ahlbeck ging, ein Unsinn sei oder nicht. Und der Herr Graf, der werde schöne Augen machen, wenn er die Bescherung sähe. Aber, wenn einer partout nicht hören wolle, müsse er's wohl zu fühlen bekommen.

Der Wirt führte das große Wort so laut und eifrig, daß er nicht einmal bemerkte, wie seine Frau hereinkam und die Schlüssel zu der Herrschaftsstube oben vom Brett an der Tür nahm, während das Mädchen die zwei Messingleuchter aus dem Wandschrank langte, in die sie Lichte steckte, die sie anzündete und mit denen sie der Frau nachlief. Er wandte sich erst, als ihm jemand auf die Schulter klopfte und wissen wollte, wo er seine Pferde einstellen solle; der Knecht sage, es sei kein Platz mehr.

Ist auch nicht, sagte der Wirt; wo kommst du her?

Von Neuenfähr; die Herrschaften, die ich gebracht habe, sind schon oben.

Wer sind denn die Herrschaften? fragte der Wirt.

Weiß nicht: ein junger Herr und eine junge Dame, was von den Vornehmen, glaube ich. Konnte ihnen gar nicht schnell genug fahren. Aber da soll mal einer schnell fahren bei diesem Wetter! Schritt vor Schritt! Zwei Mähren oder eine – das war ganz gleich. Ein Einspänner, der immer hinter mir kam, hätte mir ebensogut vorbeifahren können. Muß wohl ein Warnowscher gewesen sein, bog vor dem Dorfe rechts ab.

Der Jochen Ratzenow, sagte der Wirt, war heute morgen in Neuenfähr; ja, der hat eine höllische Mähre! Na, dann komm, wollen mal nachsehen. Glaube aber nicht, daß es geht.

Der aus Neuenfähr folgte dem Wirt auf den Flur, wo sie den Herrn trafen, den er gefahren. Der Herr nahm den Wirt auf die Seite und sprach leise mit ihm.

Das kann lange dauern, dachte der aus Neuenfähr, ging zur Tür hinaus, spannte die Pferde ab und zog sie, während er den Wagen – einen leichten offenen Holsteiner – vorläufig stehen ließ, unter das weitvorspringende Dach eines Schuppens, wo sie doch vor dem Ärgsten geschützt waren.

Er hatte den dampfenden Tieren eben noch Decken aufgelegt, als der Herr aus dem Hause trat und auf ihn zukam.

Ich bleibe möglicherweise nicht lange hier, sagte der Herr, vielleicht nur eine Stunde; wir fahren dann weiter.

Wohin, Herr?

Nach Prora oder nach Neuenfähr zurück, ich weiß es noch nicht.

Das geht nicht, Herr!

Weshalb nicht?

Die Pferde halten's nicht aus.

Ich weiß besser, was Pferde aushalten; sage Ihnen hernach Bescheid.

Der aus Neuenfähr ärgerte sich über den befehlshaberischen Ton, in dem der Herr zu ihm sprach, wagte aber keine Widerrede. Der Herr, der jetzt einen Paletot mit blanken Knöpfen anhatte – während der Fahrt hatte er einen Überrock getragen – schlug den Kragen in die Höhe, als er sich jetzt, um den Schuppen herum, nach der Straße wandte. Das Licht aus der Gaststube fiel hell auf seine Gestalt.

Aha! sagte der aus Neuenfähr; – dachte mir's doch! Das schnauze einen noch an, wenn man längst in der Reserve ist. Der Teufel soll den Herrn Leutnant fahren!


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