Friedrich Spielhagen
Sturmflut
Friedrich Spielhagen

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Ach, der Herr Kapitän! rief August, Reinhold auf dem Vorsaal erblickend.

Der Herr Kapitän stand bei August in großer Gunst, und der Herr Kapitän, der immer so freundliche Augen machte, schaute heute so ernst darein –

Der Herr Kapitän werde es gewiß auch schon wissen, sagte August.

Um Himmels willen! rief Reinhold, was ist geschehen? Ist jemand im Hause krank?

Krank auch schon, erwiderte August, – aber nur vor Schrecken.

August hatte Reinhold die Tür zum Salon geöffnet. Reinhold blieb ein paar bange Minuten allein. Was konnte sich ereignet haben, das die Familie in einen Schrecken versetzte, der sich selbst auf dem Gesicht des Dieners widerspiegelte? Und das heute, gerade heute, als ob ihm das Herz nicht schon schwer genug war!

Ein leichter Schritt kam über das Parkett des Speisesaales und über den Teppich des Seitenkabinetts, und Else streckte ihm, hereintretend, die Hand entgegen.

Sie kommen, um Abschied zu nehmen! Ich weiß alles von Fräulein – von Mieting.

Ich komme, um Abschied zu nehmen, erwiderte Reinhold; aber bevor wir davon sprechen, sagen Sie mir, wenn es möglich ist, welches Unglück Sie betroffen hat. Es muß ein Unglück sein!

Er hatte ihre Hand noch immer in der seinen und starrte, selbst bleich vor Aufregung und Teilnahme, in ihr bleiches, schönes Gesicht, in die geliebten braunen Augen, die sonst so mutig und fröhlich blickten und heute so trüb und traurig.

Der Vater würde mich schelten, wenn er hörte, daß ich ein Unglück nenne, worauf er stolz zu sein behauptet. Und doch, wer weiß, wie es in seinem Herzen aussieht, wie er es in seinem Herzen trägt und – ertragen wird!

Der Vater ist im Avancement, vor dem er stand, übergangen. Sie wissen, was das heißt. Er ist eben hin, sein Abschiedsgesuch persönlich dem Minister vorzutragen.

Großer Gott! rief Reinhold; ein Offizier von dieser lautersten Gesinnung, von diesen hohen Verdiensten um das Vaterland.

Else saß da, starren, brennenden Auges vor sich niederblickend. Ein bittres Lächeln zuckte um die feinen Lippen, während sie ein paarmal langsam mit dem Kopfe nickte. Reinhold sah, wie künstlich die Fassung war, mit der sie ihm entgegengetreten, wie tief sie die Kränkung schmerzte, die ihrem Vater widerfahren war.

Der Vater war entschlossen, seinen Abschied zu nehmen, sobald die unglückliche Konzession gegen seinen Willen durchging. Aber, daß man nicht so lange gewartet hat, ihm nicht einmal die wenigen Stunden gelassen hat, seinen Entschluß auszuführen, das ist es, was ihn empört und woran, fürchte ich, sein stolzes Herz verblutet.

Und nun gar heute! Heute, wo ich auch noch von dem Vater über Ottomar –

Reinhold blickte erschrocken auf; Else hatte ihre Augen gesenkt, ein flammendes Rot war ihr in die Wangen geschossen; sie fuhr langsam leise fort: Wo ich alles erfahren habe!

Konnte Ihnen nicht wenigstens das erspart werden? fragte Reinhold nach einer dumpfen Pause.

Ich glaube, nein, sagte Else, wieder aufblickend. – Ich glaube, daß der Vater einem richtigen Gefühle folgte, als er heute morgen, wo er mit mir wie mit einem Freunde seine Lage, unsere Lage – alles durchsprach, mir auch das vertraute. Ja, ich kann mich von dem Gedanken nicht losmachen: Es wäre besser gewesen, und es stünde besser um – um uns alle, hätte ich es von Anfang an erfahren. Was da hinüber und herüber gefehlt und versehen – alle die verworrenen Fäden – sie konnten, war es überhaupt noch möglich, wohl nur von einer Frauenhand geschlichtet werden. Was gäbe ich um die unersetzlichen Minuten, die da verloren gingen! Ach, ich weiß, ich würde die Worte gefunden haben, die zu Ottomars Herzen, zu dem Herzen Ihrer Cousine gesprochen hätten! Die arme Ferdinande! Was muß sie gelitten haben! Was muß sie leiden! Und auch mein armer Ottomar! Er ist wahrlich so schuldig nicht, als er vielleicht selbst Ihnen scheint. Sie können nichts dafür, daß Sie ihn nicht besser kennengelernt haben, daß mein innigster Wunsch, Sie möchten recht vertraute Freunde werden, nicht in Erfüllung gegangen ist. Wir wissen ja jetzt, weshalb er Sie gemieden, wie freilich auch seine besten Freunde, Schönau und die anderen – selbst mich – uns alle. Und doch! Ich kenne ihn aus früheren, besseren Tagen: wie weich, wie liebebedürftig und liebevoll sein Herz, wie es für das Schöne und auch für das Gute empfänglich ist, wenn er auch wohl nie die Kraft gehabt hat, es in sich reifen zu lassen, ihm allein zu leben. Aber, wie schwer mag es auch sein in dem Leben, das ihn umgibt, an dem er doch teilnehmen muß, an dem ich doch selbst in meiner Weise teilgenommen und mich glücklich gefühlt habe – in all diesen Vorurteilen des Standes, der gesellschaftlichen Rücksichten, die wir gar nicht mehr als solche empfinden, weil wir in ihnen groß geworden sind, und von denen sich wohl keiner von uns ohne schweren Kampf losringt. Und wenn er in diesem Kampfe unterlegen, so haben die wunderlichen Verhältnisse unserer Familie gewiß auch dazu beigetragen; und nun zuletzt die Zurückweisung, die er in der Person unseres Vaters erfahren, – ach, ich will es ja nicht verteidigen, daß er da, leidenschaftlich und heftig wie er ist, aus dem Hause stürzte – wir wußten ja nicht, keiner von uns, was er vorhatte – und als Carlas Verlobter zurückkam. Aber verdammen, ganz verdammen kann man ihn doch nicht.

Ich entschließe mich schwer, jemand zu verdammen – in dem Menschenherzen sind so viele Tiefen, in die kein Senkblei hinabreicht, so habe ich auch Ihren Bruder nie verdammt. Im Gegenteil, ich habe um seinetwillen, und – ich darf es nicht leugnen – um Ihretwillen – alles getan, was ein Bruder in einem solchen Momente für den Bruder tun würde. Ich habe selbst die Freundschaft, die Liebe meines Onkels, der mir sehr teuer ist, aufs Spiel gesetzt und, ich fürchte, verloren.

Seit heute morgen habe ich in all dem Kummer, der über uns hereingebrochen, mich immer gefragt, wie Sie, Sie dabei empfänden, habe ich mich gesehnt, diese Worte von Ihnen zu hören. Nun, da ich sie gehört, ist mir so viel leichter ums Herz. Nun wird – zwischen uns wenigstens – alles wieder werden, wie es war.

Das glauben Sie, glauben Sie wirklich? fragte Reinhold.

Von ihren Lippen schwand das reizende Lächeln; sie zog ihre Hand, die sie ihm vorhin gegeben und die er festgehalten, leise zurück, das Blut schoß ihr wieder in die Wangen, die dann noch bleicher wurden als zuvor.

Sollte ich mich geirrt haben? stammelte Else.

Ich denke nicht, sagte Reinhold, weil ich – verzeihen Sie mir – nicht denken kann, daß Sie in diesem Moment ganz aufrichtig gewesen sind. Und – Sie haben es ja selbst ausgesprochen – was hat das Verderben über Ihren Bruder, über meine Cousine gebracht, als daß sie nicht aufrichtig waren – weder gegen sich selbst, noch einer gegen den andern, noch gegen ihre Freunde – daß sie nicht den Mut ihrer Überzeugung, daß sie nicht den rechten Mut der Liebe hatten? Nun wohl! Ich für mein Teil will und darf diesen Vorwurf nicht auf meine Seele laden; ich will mein Gewissen frei haben, wie schwer auch mein Herz bleiben mag. Darf ich sprechen, und wollen Sie mir antworten, wie es Ihnen das Herz gebietet?

Ich will es, sagte sie mit tonloser Stimme.

Nun denn, sagte Reinhold: – Ich bin gekommen, von Ihrem Herrn Vater Abschied zu nehmen, bevor ich von Ihnen Abschied nahm, ihm aus dem Grunde meines Herzens zu danken für die Güte, durch die er mich beglückt, für das Vertrauen, dessen er mich gewürdigt. Vielleicht, so dachte ich, würde er dann gesagt haben, daß er wünsche und hoffe, mich wiederzusehen. Und ich würde ihm haben erwidern müssen, daß ich, als ehrlicher Mann, von dieser Erlaubnis keinen Gebrauch machen könne – es wäre denn unter einer Bedingung. Und – würde ich gesagt haben – diese Bedingung, Herr General, ist unmöglich. Ich habe bei jener unglückseligen Veranlassung und in den wiederholten vertraulichen Gesprächen, mit denen Sie mich vorher und nachher beehrt, vollauf Gelegenheit gehabt, mich in Ihr Denken und Empfinden einzuleben; Sie haben es sogar nicht verschmäht, mich in die Verhältnisse einzuweihen, die in Ihrer Familie obwalten, und so bin ich überzeugt, daß Sie nie aus freiem Herzen meine Bewerbung um die Hand Ihrer Tochter verstatten werden, die – ich liebe.

Else antwortete nicht, sie regte sich nicht.

Die ich geliebt habe, fuhr Reinhold mit vor Erregung zitternder Stimme fort – ich darf sagen, vom ersten Moment, da ich sie erblickt; deren Bild vor meiner Seele gestanden – hellen, stetigen Glanzes, unverrückbar wie der Nordstern, und daß ich überzeugt bin, wie von meinem Leben, wie diese Liebe nur mit meinem Leben schwinden kann. – So würde ich zu Ihrem Vater gesprochen haben.

Und dann, sagte Else leise, dann wären Sie zu mir gekommen?

Ja, sagte Reinhold, dann wäre ich zu Ihnen gekommen.

Und ich hätte Ihnen gesagt, daß ich in der Gewißheit, von Ihnen geliebt zu sein, namenlos glücklich bin; und daß ich Sie liebe von ganzem, ganzem Herze.

Sie hielten sich umschlungen; er küßte ihr Haar und Stirn und Lippen; sie lehnte schluchzend den Kopf an seine Schulter.

Und nun, Geliebter, da du weißt, daß ich dir treu sein werde im Wachen und im Traum und dein Weib sein will und dir folgen werde bis ans Ende der Welt, wann immer du mich rufst – jetzt rufst du mich nicht und läßt mich hier bei meinem Vater, dessen Trost und Stütze ich in dieser Trübsal bin, bei meiner Tante Valerie, die sich an mich klammert in ihrer Herzensangst. Ach, da ist so viel des Leides, das ich zum Teil nur ahne und das darum doch nicht weniger vorhanden ist und von dem ich weiß: Es wird hereinbrechen, sobald ich den Rücken wende. Es kommt auch so vielleicht, und ich kann es nicht hemmen, aber ich habe dann meine Pflicht getan – weißt du, würde Mieting sagen.

Das alte herzige Lächeln glänzte in den braunen Augen, die zu ihm aufleuchteten: Wir müssen nur Geduld haben und klug sein und uns sehr, sehr lieb haben – da muß sich ja alles finden; nicht wahr, Geliebter?

Wer sich von dir geliebt weiß, flüsterte Reinhold, der fürchtet auf der Welt nur eines: deine Liebe nicht zu verdienen!

*


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