Friedrich Spielhagen
Sturmflut
Friedrich Spielhagen

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Zweites Buch

Die letzte Station, meine Herren! Darf ich um die Billetts bitten?

Reinhold reichte dem Schaffner das Billett und warf einen Blick auf den schlafenden Reisegefährten. Der aber regte sich nicht.

Mein Herr, darf ich um Ihr Billett bitten? sagte der Schaffner in lauterem Ton.

Der Schläfer richtete sich auf: Ach so! – Er griff in ein Seitentäschchen seiner grauen Joppe, gab das Geforderte, lehnte sich in seine Ecke zurück.

Pardon! ich sollte meinen, wir müßten uns schon sonst begegnet sein.

Es geht mir ebenso, erwiderte Reinhold höflich, aber mein Gedächtnis läßt mich im Stich.

Vielleicht, daß der Name nachhilft: Ottomar von Werben, Sekondeleutnant im... Regiment Nr. 19.

Ein freudiger Schreck durchzuckte Reinhold: Reserveleutnant Reinhold Schmidt. – Ich habe die Ehre gehabt, dieser Tage mit einem General Ihres Namens und seinem Fräulein Tochter auf dem Dampfer von Stettin nach Sundin zusammenzutreffen –

Waren mein Vater und meine Schwester, sagte Ottomar – in der Tat merkwürdig!

Er hatte sich wieder in die Ecke sinken lassen, aus der er sich mit höflicher Verbeugung erhoben. – Der Reserveleutnant flößt dem Gardeleutnant nur ein mäßiges Interesse ein, sprach Reinhold bei sich.

Er würde unter anderen Umständen gewiß das Gespräch, das der andere so bald abgebrochen, nicht wieder aufgenommen haben. Hier wurde es ihm nicht schwer, eine Ausnahme zu machen.

Ich hoffe, daß der Herr General und das gnädige Fräulein sich wohl befinden, begann er von neuem.

Gewiß, ohne Zweifel! sagte Ottomar, das heißt, offen gestanden – ich habe sie, als sie vorgestern abend nach Hause kamen, eigentlich nur sehr flüchtig gesprochen; seit gestern morgen auf Urlaub – zur Jagd. – A propos, wissen Sie immer noch nicht, wo wir uns getroffen haben? Es kann eigentlich nur in Orleans gewesen sein, denn das ist meines Wissens das einzige Mal, daß mein Regiment mit dem Ihrigen in unmittelbaren Kontakt gekommen –

Und in Orleans ist es gewesen! rief Reinhold, auf einer kombinierten Wache, zu der unsere beiden Regimenter die Mannschaften stellten. Und eine lustige Wache war's – dank Ihrer liebenswürdigen Gesellschaft und muntern Laune. Wie ist es möglich, daß ich mich in diesen Tagen der Sache und des Namens nicht erinnert habe! Jetzt fällt mir alles wieder ein: Es kamen hernach noch mehrere Ihrer Kameraden, ein Herr von Wallbach –

Wallbach – ganz richtig. Er fiel später vor Paris – armer Kerl! Bin sehr liiert mit der Familie – hat vielleicht das bessere Teil erwählt; verzweifelt langweiliges Dasein.

Man muß sich wieder an das Alltagsleben gewöhnen – gewiß! sagte Reinhold. – Aber Ihr Herren seid doch in Eurem Beruf geblieben – und Graf Moltke wird Euch, meine ich, nicht auf Euren Lorbeeren schlafen lassen –

Jawohl, allerdings – sagte Ottomar, – ohne Zweifel. – Sie werden länger in Berlin bleiben?

Er hatte sich nach dem Fenster gebeugt, an dem jetzt häufiger Lichter vorübertanzten.

Ein paar Wochen – vielleicht ebensoviel Monate – es kommt auf die Umstände an – Verhältnisse, die ich noch nicht zu übersehen vermag –

Pardon, wollte nicht indiskret sein. Wie war doch der Name?

Er wischte mit seinem Taschentuche an der Scheibe, die von seinem Hauch getrübt war. Reinhold mußte über die bequeme Art, die Unterhaltung zu führen, lächeln: Du darfst mehr als andere, sagte er bei sich und nannte dann noch einmal seinen Namen.

Das nach dem Fenster gewandte Gesicht war ihm plötzlich zugekehrt mit einem Ausdruck der Überraschung, der Neugier, für den Reinhold keine Erklärung hatte.

Pardon, wenn ich eine ganz dumme Frage tue: Haben Sie Verwandte in Berlin?

Ja, ich habe sie seit Jahren nicht gesehen; sie zu besuchen ist der ursprüngliche Zweck meiner Reise hierher – mein Onkel hat ein, ich glaube, bedeutendes Marmorwarengeschäft –

In der Kanalstraße?

Ja. Sie kennen ihn?

Nur von Ansehen – stattlicher alter Herr. Wir wohnen Springbrunnenstraße – dos-à-dos oder eigentlich Schulter an Schulter. Der Hof von dem Geschäft Ihres Herrn Onkels schneidet tief nach der Parkstraße hinüber; der kleine Garten von unserem Hause – die Grundstücke gehörten ursprünglich zusammen – lehnt sich seitwärts wieder an den größeren Garten Ihres Herrn Onkels. Da sieht man sich denn – über die Hecken und Mauern – sieht sich, ohne sich zu kennen – ich meine offiziell – sonst, wie gesagt, von Ansehen kenne ich Ihren Herrn Onkel sehr wohl, auch Ihr Fräulein Cousine –

Er hatte das Fenster heruntergelassen. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein, hielt. Reinhold langte seine Sachen von dem Gestell; er konnte sie nicht gleich zusammenfinden. Als er sich umwandte, war Herr von Werben bereits herausgesprungen. Reinhold sah ihn noch einen Moment, wie er sich hastig durch das Gedränge arbeitete, verlor ihn dann aber aus den Augen, während er seine Blicke umherschweifen ließ, die auf einem Herrn haften blieben, der in einiger Entfernung stand. Die stattliche, breitschultrige Gestalt – die Haltung des Kopfes, der selbst jetzt, wo er sich bald nach rechts, bald nach links wandte, so stolz aufgerichtet blieb, der volle, allerdings jetzt stark ergraute Bart – wie hatte er glauben können, den Mann nicht auf den ersten Blick wieder zu erkennen!

Onkel Ernst!

Sieh da, lieber Junge!

Es war ein herzlicher Ton in der tiefen, kräftigen Stimme, und herzlich und kräftig war der Druck der breiten, starken Hand, die sich Reinhold entgegenstreckte.

Wie er leibte und lebte – dein Vater! sagte Onkel Ernst.

Die großen Augen, die starr auf Reinholds Gesicht gerichtet waren, wurden feucht. Die Hand, die noch die seine gefaßt hielt, ließ los. Der Onkel hatte ihn an seine Brust gezogen und geküßt.

Lieber Onkel!

Ihm selbst waren die Augen naß geworden. Er hatte einen so liebevollen Empfang von dem strengen, finsteren Manne nicht erwartet. Auch war die momentane Rührung jedenfalls wieder vorüber, als Onkel Ernst nun sagte: Deine Sachen sind bereits gestern gekommen. Wo bleibt denn Ferdinande?

Sie ist hier?

Da kommt sie!

Ein großes, schönes Mädchen trat eilig heran. – Ich hatte dich ganz verloren, Vater. Guten Abend, lieber Vetter, und willkommen!

Ein paar schwermütige blaue Augen streiften über ihn hin, aber mit einem unsicheren Ausdruck, wie Reinhold dünkte. Auch hatte etwas Hastig-Gleichgültiges in dem Ton der vollen, tiefen Stimme gelegen und flüchtig war der Druck der Hand, die sie ihm reichte.

Dich hätte ich nun freilich nicht erkannt, sagte Reinhold.

Ich dich ebensowenig.

Du warst damals ein halbes Kind noch, und jetzt –

Und jetzt wollen wir machen, daß wir aus dem Gedränge kommen, sagte Onkel Ernst. Ihr könnt euch das andere unterwegs und zu Hause erzählen.

Er hatte sich bereits gewandt und ein paar Schritte getan, Reinhold war im Begriff, den freien Arm seiner Cousine zu geben, als plötzlich Herr von Werben neben ihm stand.

Ich wollte mich Ihnen empfehlen, Herr Kamerad.

Verzeihung, Herr von Werben! Sie waren so plötzlich verschwunden –

Glaubte, Ihnen behilflich sein zu können – sehe, daß ich zu spät gekommen. Würden Sie die Güte haben, mich vorzustellen?

Herr Leutnant von Werben – meine Cousine, Fräulein Ferdinande Schmidt.

Ottomar verbeugte sich. Ferdinande erwiderte die Verbeugung – sehr förmlich, wie Reinhold meinte.

Ich habe wiederholt das Vergnügen gehabt, das gnädige Fräulein am Fenster zu sehen – im Vorüberreiten; prätendiere natürlich nicht die Ehre, ebenfalls gesehen zu sein.

Ferdinande antwortete nicht. Es lag ein unmutiger, fast finsterer Ausdruck auf ihrem Gesicht, das, jetzt sprechend, dem ihres Vaters glich.

Ich will Sie nicht aufhalten, sagte Ottomar, hoffe bestimmt, noch das Vergnügen zu haben, Herr Kamerad; habe die Ehre, mein gnädiges Fräulein!

Er verbeugte sich wieder und trat schnell zurück. Passagiere, die nach dem Ausgang hasteten, drängten sich dazwischen.

Komm! Komm! sagte Ferdinande.

Sie hatte Reinholds Arm genommen und zog ihn schier ungeduldig vorwärts.

Ich bitte um Entschuldigung, aber ich konnte nicht wohl anders, als den Herrn vorstellen. Es schien dir unangenehm zu sein?

Mir? Weshalb? Aber der Vater wartet nicht gern.

Wer war denn das? fragte Onkel Ernst.

Ein Herr von Werben – Offizier – bin zufällig mit seinen Verwandten auf der Reise zusammengetroffen.

Ein Sohn des Generals?

Ja.

Reinhold fühlte ein Zucken der Hand, die in seinem Arm lag, und eine geflüsterte Stimme an seinem Ohre sagte: Vater haßt die Werbens; ich meine, den General – von achtundvierzig her –

*

Reinhold hatte aus den wenigen kurzen Briefen, die er während dieser zehn Jahre aus dem Hause seiner Verwandten erhalten, so viel herausgelesen, daß Onkel Ernsts Geschäft mindestens nicht schlecht gegangen sein könne. – Die gewählte Toilette Ferdinandes, die stattliche Equipage, in der sie mit donnernder Eile durch die langen, menschenwimmelnden, abendlichen Straßen gerollt waren, ließen ihn vermuten, daß der Onkel mittlerweile ein wohlhabender, wenn nicht reicher Mann geworden sein müsse, und der Eintritt in das Haus bestätigte vollauf diese Vermutung. Die breiten Marmorstufen, vor denen der Wagen – in dem Hausflur selbst – still gehalten; das von dem Hausflur durch eine Glastür getrennte quadratische Treppenhaus, in dem wiederum eine mit Läufern belegte Marmortreppe in drei Absätzen auf die Galerie führte, die an zwei Seiten des Treppenhauses hinlief und von der sich verschiedene Türen zu den Wohnräumen öffneten; das Gastzimmer in dem oberen Stock, in das ihn der Onkel selbst geleitet hatte, mit der Bitte, es sich hier bequem zu machen und hernach zum Abendbrot herunterzukommen – alles und jedes war aus dem Ganzen und Vollen: reich ohne Prunk, geschmackvoll sogar, aber doch, wie es Reinhold vorkam, ohne eigentliche Behaglichkeit – umgeben von einem kühlen Hauch, meinte er und fügte dann sogleich hinzu, daß dieses Gefühl wohl eine Einbildung sein werde, Folge einer Stimmung, wie sie so leicht den überkommt, der ohne rechte Vorbereitung in neue Verhältnisse tritt, in denen er sich nun in aller Eile zurechtfinden soll, unter Menschen, die uns keineswegs ganz fremd, aber auch nicht so bekannt sind, daß wir nicht in jedem Augenblick auf einen fremden, ja befremdenden, weil unerwarteten, unverhofften, vielleicht unerwünschten Zug gefaßt sein müßten.

Onkel Ernsts Schwester war ihm mit offenen Armen entgegengeeilt und hatte ihn wieder und wieder umarmt mit einem Überschwang von Empfindung, die sich in reichlichen Tränen und Ausrufungen nicht genug tun konnte und einen wunderlichen Gegensatz bildete zu der gehaltenen Rührung, mit der ihr Bruder ihn empfangen. Auch hatte Onkel Ernst dieser Szene mit einem kurzen, barschen: Wenn du dich ausgeweint hast, Rike, möchte ich Reinhold auf sein Zimmer führen, schnell ein Ende gemacht; worauf denn die Tante eine letzte Umarmung benutzte, Reinhold zuzuflüstern: Er nennt mich noch immer Rike! Aber für dich bin ich Tante Rikchen, nicht wahr!

Arme, alte Tante, sprach er lächelnd bei sich, als er sich die Seitentreppe hinab in das Speisezimmer begab, wo Onkel Ernst und Ferdinande ihn bereits erwarteten.

Der große runde Tisch war nur mit vier Kuverts belegt. Reinhold hatte gehofft, jetzt auch seinen Vetter Philipp begrüßen zu können, nach dem er in dem ersten Durcheinander der Fragen und Antworten sich zufällig noch nicht erkundigt hatte. So tat er es denn jetzt.

Er hatte die Frage an Ferdinande gerichtet.

Philipp kommt selten, erwiderte sie.

Sagen wir: Er kommt gar nicht.

Reinhold blickte erstaunt den Onkel an, der diese Worte mit verdrießlicher Miene in einem herben, rauhen Ton gesagt hatte. Dafür glaubte er, in den Gesichtern der beiden Frauen einen ängstlich-verlegenen Ausdruck wahrzunehmen. Er hatte offenbar eine Saite berührt, die einen schrillen, unharmonischen Klang durch die Familie gab.

Die Mahlzeit fängt gut an, dachte Reinhold, indem er zwischen dem Onkel und der Tante, Ferdinande gegenüber, Platz nahm.

*


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