Friedrich Spielhagen
Sturmflut
Friedrich Spielhagen

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Was wünschest du von mir? fragte Onkel Ernst, als ob er mit einem Dritten spräche, der einige Schritte rechts von Philipp auf dem Boden kauerte.

Ich komme in Geschäften, antwortete Philipp, als ob der Angeredete einige Fuß rechts über dem Vater in der Luft schwebte.

Ich mache keine Geschäfte mit dir.

Dann vielleicht mit der Direktion der Berlin-Sundiner Eisenbahn-Gesellschaft.

Ich mache keine Geschäfte mit der Direktion der Berlin-Sundiner Eisenbahn-Gesellschaft.

Du stehst dir damit sehr im Licht. Das Geschäft würde für dich eminent vorteilhaft sein. Wir haben jetzt die Konzession für die Inselbahn, die Fortsetzung unserer Bahn, in der Tasche. Unser hiesiger Bahnhof muß erweitert werden. Als ich noch das Vergnügen hatte, mit dir zusammen zu arbeiten, haben wir gemeinschaftlich das Terrain gekauft, auf dem der Bahnhof steht –

Auf deinem Anteil, wenn du erlaubst.

Auf meinem Anteil, weil du den deinigen nicht veräußern wolltest –

Zum Ankauf des deinigen hatte ich dir das Geld vorgeschossen, – soviel ich weiß, hattest du damals keines.

Ich bin dir noch nachträglich sehr dafür verbunden – du hast damit den Grund zu meinem jetzigen Wohlstand gelegt, als ich, die Konjunktur erkennend und benutzend, einen Teil an die Gesellschaft verkaufte –

Den du nicht verkaufen durftest.

Ich hatte dir bereits vorher dein Geld bei Heller und Pfennig mit den landesüblichen Zinsen zurückgezahlt.

Und nur einen kleinen Umstand vergessen, daß ich dir das Geld zu dem alleinigen Zwecke gegeben, mit mir billige Arbeiterwohnungen auf dem Terrain zu errichten. Freilich das hatten wir nicht schriftlich gemacht.

Zum Glück für mich, und, ich sollte meinen, auch für dich! Nach dem, was gestern bei dir vorgefallen, wirst auch du wohl die Lust verloren haben, den Herren Stricke- und Krawallmachern den Brotkorb noch tiefer zu hängen, wie du es bisher auf deine Kosten getan. Aber du kannst jetzt wieder auf die Kosten kommen. Deine Arbeiterkolonie hat ja, sowieso, nie gedeihen wollen und liegt längst in den letzten Zügen. Mache der Geschichte ein Ende! Wir wollen zahlen, als ob deine Cottages ebenso viele vierstöckige Mietskasernen wären.

Woher nehmt ihr das Geld, wenn ich fragen darf?

Woher? Wo wir es immer hergenommen haben.

Wo ihr es immer hergenommen habt! erwiderte Onkel Ernst.

Es war das erste Mal, daß er den Blick streng und fest auf seinen Sohn wandte.

Das heißt also, aus den Taschen des Publikums, dessen Leichtgläubigkeit ihr mit marktschreierischen und lügenhaften Prospekten auf das schamloseste belogen und betrogen habt, dessen bange Hoffnung ihr mit Scheindividenden fristet, die es selbst bezahlen muß, dessen laute Klage ihr in euern sogenannten Generalversammlungen frech erstickt, bis sich einmal ein Staatsanwalt darauf besinnt, daß Macht nicht immer vor Recht geht. Ich habe nicht gern mit dem Staatsanwalt zu tun – und mein Wagen hält vor der Tür.

Der meinige auch, sagte Philipp, sich auf den Hacken umdrehend und das Zimmer verlassend.

Onkel Ernst ging zu einem Seitentischchen und schenkte sich ein großes Glas voll. Die Flasche klirrte an das Glas; er brachte das Einschenken nur mühsam zustande und goß den Wein in einem Zuge hinunter.

Er stand da, auf der Stirn eine rote Zorneswolke, die eine Hand auf den Tisch gestemmt, vor sich hinbrütend.

Ich wollte es nicht, murmelte er, – ich wollte ruhig bleiben. Als er hereintrat, erinnerte er mich an seine Mutter – auch ein leeres Gesicht, sie hat mich nie verstanden, aber er war doch nur die Karikatur – die Leere ausgefüllt mit Brutalität! – Und dann die Stimme – auch ihre Stimme – ihre blecherne Stimme, wenn sie mir ihre hausbackene Weisheit auftischte – nur mit Frechheit verquickt – der freche, elende Bube!

Er goß ein zweites Glas hinunter.

Die rote Wolke auf der Stirn war nur noch dunkler geworden.

*

Reinhold wollte die Zwischenzeit benutzen, dem alten Buchhalter, den er im Laufe der letzten Tage wiederholt gesprochen und als einen zwar wunderlichen, aber trefflichen und rechtschaffenen Menschen kennengelernt, nach der soeben erlebten Szene ein beruhigendes Wort zu sagen.

Gott sei Dank, daß Sie kommen, Herr Kapitän! Sie sind ja zugegen gewesen! Wie hat Herr Schmidt denn nur Papas Bekenntnis entgegengenommen? – Ich muß aus Papas Worten schließen: sehr schlimm.

Im Gegenteil, Fräulein Cilli, der Onkel ist der Meinung, daß zwischen zwei so alten Freunden, wie er und Ihr Vater, eine theoretische Differenz sehr gleichgültig ist.

Aber wenn es nun nicht bei der Theorie bleibt, rief der alte Herr – wenn nun die praktischen Konsequenzen gezogen werden, – von aller Welt –

Nur nicht von Ihnen, lieber Herr Kreisel! Beantworten Sie mir die eine Frage: Würden Sie irgend eine geschäftliche Konjunktur benutzen, von Ihrem Chef eine Erhöhung Ihres Gehaltes zu erpressen?

Niemals! rief der alte Herr, – niemals!

Da sehen Sie selbst. Trotzdem Sie vielleicht in der Theorie ganz recht haben. Aber zwischen dieser und der Praxis liegt bei gebildeten Leuten, wie Sie, ein weiter, weiter und sehr rauher Weg, den Sie eben niemals einschlagen oder auf dem Sie nach den ersten Schritten schaudernd Halt machen würden.

Ja, ja, die Nerven! murmelte der alte Herr, – ich habe die Nerven nicht dazu. Ich bin wie zerschlagen; ich glaube wirklich, er hat recht – eine Stunde Schlaf würde mir guttun.

Er ging auf Reinholds und Cillis Zureden in das Haus; Reinhold hatte ihn die wenigen Schritte zur Tür begleitet; als er wieder in die Laube trat, saß Cilli, die Hände im Schoß gefaltet, das liebe, freundliche Gesichtchen erfüllt von tiefster Sorge und Bekümmernis, daß es Reinhold in die Seele schnitt.

Ich weiß, daß der Vater nicht lange mehr lebt. Der Doktor hat schon immer gefürchtet, er werde seinen Nervenzufällen unterliegen, und einmal, als es sehr schlimm stand, hat er mir das gesagt, um mich vorzubereiten. Und wenn nun der Vater nur glauben wollte, daß ich ihn sicher nicht lange überlebe, so würde er auch verhältnismäßig ruhig sein. Auf Sie hält er sehr große Stücke; Ihnen glaubt er vielleicht, wenn Sie es ihm versichern.

Aber wie kann ich das, liebe Cilli?

Weil es die lautere Wahrheit ist. Ich bin krank, todkrank an meinen Nerven. Daß ich blind bin – seit meinem dritten Jahre – ist nur eine Folge dieser Krankheit, die ich wohl von dem Vater geerbt habe. Als ich acht Jahre alt war und es wieder einmal sehr schlimm um mich stand, hatten die Eltern zwei Ärzte gerufen, und der eine sagte zum andern, als sie hinausgingen – sie sagten es leise, und ich sollte es gewiß nicht hören, aber sie bedachten nicht, wie scharf ich höre – es wäre ein Wunder, wenn das Kind sechzehn Jahre alt würde. – Ich werde im nächsten Frühjahr sechzehn und – ich glaube nicht an Wunder.

Die Ärzte irren sich so oft; ich hoffe zu Gott, daß sie es hier getan haben.

Ich hoffe es nicht – ich wünsche es auch nicht.

Aber Sie lieben ja das Leben so?

Gewiß nur deshalb, weil ich weiß, daß ich so bald sterben muß, wie ihr alle ja auch sagt, ich fände die Welt nur so schön, weil ich blind bin.

Was war das für ein fremder Schritt über den Hof?

Reinhold schaute auf und erkannte Philipp.

Wo zum Teufel steckst du? Ich habe dich schon auf deinem Zimmer und auf dem ganzen Hof gesucht!

Philipp war außer sich. Er schalt in der heftigsten Weise auf die Verblendung, auf die Verstocktheit seines Vaters; Reinhold konnte nach allem, was er über den Verlauf der Unterredung hörte, dem Onkel nicht unbedingt Recht geben, aber er mochte auch die ungebührlichen Ausdrücke, in denen der Zornige sich erging, nicht dulden.

Fange du nur auch noch an! rief Philipp – du bist mit daran schuld! Ich habe aus des Alten Reden herausgehört, was du mir gestern gesagt hast. Was um alles in der Welt hast du davon, ihn noch mehr gegen unser Projekt einzunehmen, von dem ihr alle beide nicht einen Pfifferling versteht; er, trotz seiner geschäftlichen Allweisheit, du, trotz deiner Schiffahrtskunde! Was geht es dich an, ob der Hafen nach Osten oder nach Norden kommt? Ob er da versandet oder ihn dort der Teufel holt? Willst du denn dein Vermögen hineinstecken? Und wenn es andere wollen, so lasse sie doch! Es kann ja jeder die Augen aufmachen, und wenn einer hineinfällt, so fällt er hinein. – Herr des Himmels, da ist der junge Werben! Er kann doch nichts gehört haben?

Er hatte nichts gehört, obgleich seine düstere und verlegene Miene Reinhold selbst dies im ersten Augenblick fürchten ließ. Aber sein hübsches, junges Gesicht hatte sich bereits im nächsten wieder erhellt; er streckte ihm mit bezaubernder Freundlichkeit die Hand entgegen, die er dann auch Philipp, allerdings nicht ganz so freundlich – reichte: Hätte schon alle diese Tage kommen sollen, aber die dienstlichen Scherereien! – Ich sage Ihnen, Herr Kamerad, unerträglich! Sie haben keine Ahnung davon! Sie nun erst recht nicht, lieber Schmidt! Sie sind nie Soldat gewesen – warum? Das mögen unsere weisen Herren Ärzte wissen; wenn es nach mir ginge, müßten Sie noch jetzt im ersten Garderegiment nachdienen. – Aber, was ich sagen wollte, und weshalb ich so Hals über Kopf hergestürzt bin: Ich soll Ihnen eine Einladung von meinem Papa und meinen Damen bringen und tausend Entschuldigungen, daß die betreffende Karte gestern, der Himmel weiß wie, vertrödelt ist; zu heute abend – kleiner Zirkel – viel Militärs, – bei uns selbstverständlich – einige Damen – ebenfalls selbstverständlich – soll auch ein wenig gehüpft werden, sagt meine Schwester, die stark auf Sie rechnet – Sie schwingen doch gelegentlich ein Tanzbein? Auch mein Vater hat, wie er mir bereits gestern sagte, mit Ihnen zu sprechen – wichtige, mir problematische Dinge: Hafenfrage – Gott weiß was – Sie sehen, es ist schlechterdings notwendig, daß Sie ja sagen. Sie sagen doch ja?

Und mit vielem Dank.

Das ist prächtig! – Aber ist hier auf dem Hofe nicht das Atelier von Herrn Anders? Sein Satyr mit dem Bacchusknaben – oder ist es ein Amor? – macht ja ein enormes Aufsehen – ich bin noch nie in einem Bildhaueratelier gewesen – wäre es wohl zu unbescheiden, Herr Kamerad, wenn ich mich Ihrer freundschaftlichen Protektion bediente, um bei dem Herrn Zutritt zu erlangen? Reinhold war gern dazu bereit; Philipp bemerkte in gleichgültigem Tone, er wolle, wenn die Herren nichts dagegen hätten, die Gelegenheit benutzen, um nach den vier Marmorstatuen zu sehen, die er für sein Treppenhaus bei Anders bestellt habe und von denen zwei jetzt wohl beinahe fertig sein müßten. Er hatte im stillen gehofft, daß Ottomar »die vier Marmorstatuen« imponieren würden, aber Ottomar schien es nicht einmal gehört zu haben. Er ging mit Reinhold, den er unter den Arm gefaßt, voraus.

Reinhold hatte, da er aus Erfahrung wußte, daß das Klopfen in Justus' Atelier vor dem Geräusch der Schlägel und Meißel selten gehört wurde, vorangehend, die Tür ohne weiteres geöffnet und war nun einigermaßen betreten, als er in einer Ecke vor einem Tonmodell, an dem Justus arbeitete, diesen mit Ferdinande stehen sah. Ottomar und Philipp waren so schnell hinter ihm hergekommen, daß sie alle bereits mitten in dem großen Raume sich befanden, bevor jene, in eifrigem Gespräch, wie sie waren, und umschwirrt von dem Lärmen ringsumher, ihr Kommen gehört hatten, bis Justus' Lesto – ein zottelhaariges kleines Ungetüm, bei dem man nie genau wußte, wo der Kopf und wo der Schweif sich befand – mit lautem Gekläff auf Philipp losstürzte, dessen Lackstiefel seinen Zorn zu reizen schienen. In dem Wirrwarr, der durch diesen mit großer Bravour ausgeführten Angriff entstand, – indem Philipp, für seine Beinkleider fürchtend, sich auf einen Schemel flüchtete, Justus sich totlachen wollte und zwischendurch vergebens: Lesto! Lesto! rief; die vier oder fünf Hilfsarbeiter, unter ihnen auch Antonio, einige Hindernisse aus dem Wege räumten und Stühle herbeitrugen, – war Reinhold die tiefe Röte entgangen, die Ferdinandes schönes Gesicht bei Ottomars Anblick bedeckt hatte, und der scheuverlegene Gruß, mit dem dieser ihr entgegengetreten war. Als die Verwirrung sich einigermaßen gelegt und selbst Lesto sich beruhigt, hatten die beiden ihre Fassung wiedergewonnen, um so leichter, als der erste Blick, den sie hinüber und herüber ausgetauscht, ein Versöhnungsfest gewesen. Er war zu ihr zurückgekommen nach drei langen, bangen Tagen. Sie hatte nach dem ersten, von freudigem Schreck durchzitterten Blick ihn nicht wieder angesehen und plauderte jetzt mit Reinhold und Philipp; aber für Ottomar war der Umstand, daß sie blieb, daß sie sich nicht gleich nach der ersten Begrüßung in ihr Atelier zurückzog, dessen Tür weit offen stand, ein untrügliches Zeichen ihrer Reue vielleicht, ganz sicher ihrer Liebe.

Und so träumte auch Ferdinande den süßen, köstlichen Traum beglückter Liebe, aber welche klügste Vorsicht, welches feinste Spiel schützte sie vor den brennenden schwarzen Augen Antonios! Er hatte sich freilich wieder in eine fernste Ecke des Saales an seine Arbeit gestellt und klopfte und meißelte, scheinbar um alles, was um ihn vorging, unbekümmert, weiter. Aber gerade diese Ruhe, die ja eben nur ein Schein war, ängstigte sie tausendmal mehr, als wenn die brennenden Augen fortwährend auf sie gerichtet gewesen wären. Was er nicht sah, das hörte er – sie kannte die unglaubliche Schärfe seiner Sinne – und sie wußte es: Wenn er sich während der ganzen Zeit nicht umwandte, er würde es genau in dem Momente tun, den sie kommen sah, der kommen mußte. Und da war der Moment. Ottomar, sich sicher glaubend, trat an sie heran und flüsterte ihr ein Wort zu, das sie nicht verstand – so leise war es gehaucht – aber weshalb auch! Las sie es doch in seinen Augen, von seinen Lippen: Ich muß dich allein sprechen – in deinem Atelier!

Aber wie es ausführen – Die Zeit verrann, es gab in Justus' Atelier so viel zu sehen, und der Gesprächige konnte kein Ende finden.

Jetzt oder nie konnte es geschehen. Antonio hatte sich nicht umgeblickt, vielleicht hatte er es doch nicht gehört; vielleicht gelang es, mit Ottomar allein hinüberzugehen, während die andern blieben. Und es gelang. Philipp und Reinhold disputierten über irgend eines der dem Handel zugeteilten Symbole; Philipp, verstimmt und gereizt durch den Widerspruch, den er heute von allen Seiten erfuhr, in einer heftigen überlauten Weise! Justus dagegen folgte ihr und Ottomar auf dem Fuße. Da – auf der Schwelle bereits – wandte sie sich und flüsterte ihm zu: Philipp ist heute unausstehlich, machen Sie erst einmal zwischen den beiden Frieden! – Justus antwortete: Das wird so bös nicht gemeint sein, kehrte aber doch wieder um. Ferdinande trat eilends ein, hinter ihr Ottomar, sie machte ein paar Schritte nach links, bis sie sich vor den Blicken derer im andern Atelier vollkommen sicher wußte. Ihre Arme umschlagen ihn, wie sie sich von ihm umschlungen fühlte; seine Lippen brannten auf ihren Lippen, wie er die Süßigkeit ihres ersten Kusses trank: Heute abend? – Was du willst – Acht Uhr, im Bellevuegarten! – Wie du willst!

*


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