Friedrich Spielhagen
Sturmflut
Friedrich Spielhagen

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In den nächsten Tagen hatte Else mehr als gewöhnlich in der Wirtschaft zu tun, und eine andere Angelegenheit nahm ihr Interesse gebieterisch in Anspruch. Es fand bei dem Vater, nachdem nun beinahe zwei Monate lang hinüber und herüber verhandelt war, die Schlußkonferenz über die zukünftige Verwaltung des Warnowschen Vermögens statt, in der mit den drei Stimmen der Herren von Wallbach, des Geheimrats Schieler und Giraldis, des Mandatars der Baronin, gegen die eine Stimme des Generals, der seine dissentierende Ansicht mit den Motiven zu Protokoll gab, der möglichst sofortige Verkauf des ganzen Komplexes beschlossen und Graf Axel von Golm eintretenden Falles nach Annahme der von dem Familienrat ebenfalls vereinbarten Verkaufsbedingungen als Käufer akzeptiert wurde. – Der Vater kam bleich und erschöpft, wie Else ihn nie gesehen, aus der mehrstündigen Konferenz.

Sie haben es fertig gebracht, Else, sagte er. Die Warnowschen Güter, die nun zweihundert Jahre im Besitz der Familie gewesen sind, werden ausgeschlachtet und verschachert werden – deine Tante Valerie mag es verantworten, wenn sie kann. Denn sie, und sie allein, trägt die Schuld, daß hier ein alt-ehrwürdiges Geschlecht kläglich zugrunde geht. Wäre sie meinem Freunde ein gutes und treues Weib gewesen – doch was hilft es, über vergangene Dinge zu jammern! Es ist töricht selbst in meinen Augen, geschweige denn in den Augen jener, denen die Gegenwart alles ist. Und ich muß es einräumen: Die Herren haben ganz im Sinne unserer Zeit gehandelt, klug, rationell, in eurem Interesse. Ihr alle werdet, wenn der Verlauf so glänzend ausfällt, wie der Geheimrat triumphiert, mindestens um das Doppelte reicher. Es ist sehr unväterlich, Else, aber ich hoffe: Er triumphiert zu früh. Der Graf, den er als Käufer nennt, kann den unsinnigen Preis, – denn der wirkliche Gesamtwert der Güter ist kaum eine halbe, geschweige denn eine ganze Million – nur zahlen, wenn er sicher ist, daß man ihm die ungeheuere Last sofort wieder von den Schultern nimmt, das heißt, wenn das skandalöse Projekt, dessen staatsgefährliche Torheit ich mit Hilfe der Herren vom Generalstabe und des Kapitän Schmidt so schlagend nachgewiesen habe, zustande kommt. Käme es dennoch zustande, erteilte man die Konzession, so wäre das ein Affront gegen das bißchen Autorität, das ich beanspruchen darf, aber auch so beanspruche, daß ich es ansehen würde, als hätte man mich in dem diesmaligen Avancement übergangen: Ich würde sofort meinen Abschied nehmen. Die Entscheidung steht vor der Tür. Für Golm ist es eine Lebensfrage; er ist entweder heillos ruiniert oder ein Krösus, und ich eine Exzellenz oder ein armer Pensionär – ganz im Sinne der Zeit, die überall va banque spielt. Nun, wie Gott will! Ich kann nur gewinnen, nicht verlieren, denn das Höchste, Beste: mein reines Gewissen, das Bewußtsein, treu zu der alten Fahne gestanden, gehandelt zu haben, wie ein Werben handeln muß, kann mir nichts und niemand rauben.

So sprach der Vater zu Elsen in einer Aufregung, die, so sehr er sich zu beherrschen suchte, aus jedem seiner Worte, aus dem schwingenden Ton selbst seiner tiefen Stimme hervorzitterte und bebte. Es war das erste Mal, daß er sie so in sein innerstes Vertrauen zog, sie zum Zeugen eines Kampfes machte, den er sonst in seiner verschwiegenen, stolzen Seele still durchgekämpft haben würde. War es Zufall? War es Absicht? War das allzu volle Gefäß nur eben übergeströmt? Oder ahnte, kannte der Vater ihr Geheimnis? Wollte er ihr sagen: Auch an dich wird vielleicht bald eine solche Entscheidung herantreten, ich wünsche, ich hoffe, daß auch du zu der Fahne stehen wirst, die mir heilig ist, daß auch du eine Werben sein wirst?

Und in dieser resignierten Stimmung nahm sie denn auch mit leidlicher Fassung eine Nachricht entgegen, die ihr Mieting beim Nachhausekommen mitbrachte und die sie sonst mit Trauer erfüllt haben würde: Mieting wollte fort, mußte fort. Sie hatte bei der Dame, von der sie kam, einen Brief der Mama vorgefunden, in der die Mama über ihre lange Abwesenheit so schmerzlich Klage führte, daß sie gar nicht anders könne, als auf der Stelle, das heißt: morgen früh, abreisen. Wie ihr dabei zu Mute sei, wolle sie und könne sie nicht sagen.

Damit fuhr Mieting davon.

Am Abend übergab August, nicht ohne einige Feierlichkeit, Elsen einen Brief, den ihm das gnädige Fräulein im letzten Augenblicke vor der Abreise gegeben hatte mit der ausdrücklichen Weisung, ihn pünktlich zwölf Stunden später, Schlag neun Uhr abends, abzuliefern. – Es war ein Brief in Mietings verworrenster Handschrift, aus dem Else mit Mühe das Folgende enträtselte.

»Nachmittags sechs Uhr.

Geliebte Else! Glaub' mir kein Wort von allem, es ist alles nicht wahr, meine Mutter hat gar nicht geschrieben; ich habe Dich schon seit acht Tagen auf das grenzenloseste belogen und betrogen, denn ich bin seitdem gar nicht mehr um Deinethalben hingegangen, und es wäre auch das unzweckmäßigste Mittel gewesen, da, wie mir jetzt klar ist, Dein Reinhold längst gemerkt hatte, wie es mit uns stand, und aus dem Wege blieb, noch bevor wir selbst eine Ahnung hatten. Überhaupt hat es mit den Augen angefangen, denn bis dahin ging alles ganz gut. Als er aber an die kam, sagte er: Bei der Gelegenheit werde ich auch herausbringen können, von welcher Farbe eigentlich Ihre Augen sind, ich habe mir schon alle die Tage darüber den Kopf zerbrochen. – Ich behauptete, sie wären gelb; Tante Rikchen meinte, grün; er selbst: braun, und Cilli, die den Ausschlag geben sollte, sagte, sie wäre überzeugt, daß sie blau seien, ich sei so heiter, und heitere Menschen müßten blaue Augen haben. So haben wir hin und her gescherzt, und jeden Tag fing er wieder von meinen Augen an, und weil man doch nicht gut von Augen sprechen kann, ohne sich in die Augen zu sehen, sah ich ihm in die Augen, während er mir in die Augen sah, und – ich weiß nicht, ob Du dieselbe Erfahrung gemacht hast, Else – wenn man das so ein paar Tage lang getan hat, fängt man an, klarer und immer klarer zu sehen, was da auf dem Grunde vorgeht, – ganz kuriose Dinge, sage ich Dir, daß es einen heiß und kalt überläuft.

So war mir schon ein paarmal zu Mute gewesen und heute mittag wieder, nur noch ein bißchen schlimmer als früher. Else, so beklommen, weißt Du, und immer beklommener, als er plötzlich dicht vor mir kniete – ich hatte mich nämlich, weil mir selbst die Knie zitterten, hingesetzt – und mir wieder so in die Augen schaute, und ich ihm – das mußte ich doch, Else? – fragte, aber ganz leise, – was das heißen solle? – Das soll heißen, sagte er – aber auch ganz leise – daß Sie endlich einmal Farbe bekennen müssen. – Ich gebe Ihnen, wenn Sie nicht gleich aufstehen, einen Nasenstüber, sagte ich noch leiser. – Ich stehe nicht auf, sagte er, aber so dicht an meinen Ohren, daß ich ihm gar keinen Nasenstüber mehr geben konnte, sondern ihm allen Ernstes um den Hals fallen mußte, sagte, daß ich ihn liebe und sein Weib werden wolle, und was man denn alles in solchem schrecklichen Augenblicke sagt. Ich bin ganz unsinnig vor Freuden und würde vor Freuden lauter Unsinn angeben, und das darf ich nicht, weil ich geschworen habe, verständig zu sein und Dir Ehre zu machen. Morgen früh wird gereist, morgen abend acht Uhr bin ich zu Hause, halb neun habe ich der Mama alles gesagt, und um neun Uhr gibt Dir August diesen Brief, denn nach der Mama bist Du selbstverständlich die nächste dazu. Deine Dich über alles liebende

verständige Miete.

P S. Bei dem »alles« ist »er« jetzt natürlich ausgenommen; es tut mir schrecklich leid. aber es geht nicht anders, weißt Du!«

Das liebe närrische Kind, sagte Else, als sie den Brief zu Ende gelesen, mit einem tiefen Atemzuge – ich gönne es ihr von ganzem, ganzem Herzen!

Und während sie so da saß und darüber nachdachte, wie das doch so wunderlich gekommen sei und wie glücklich die beiden wohl in ihrer Liebe sein möchten, wurden ihre Augen immer starrer, ihr Atem immer schwerer, und dann drückte sie die Hände in die Augen, neigte ihren Kopf auf Mietings Brief und weinte.

*

Drei Tage später – die herbstliche Sonne war im Untergehen, und es dämmerte bereits in dem weiten Gemache – saß Giraldi an seinem Schreibtisch in der Nähe des Fensters und durchlief die eingegangenen Briefe. Es hatte sich im Laufe des Tages, den er seit dem frühesten Vormittag in wichtigsten Geschäften in der Stadt zugebracht – der Verkauf der Güter an den Grafen hatte heute stattgefunden – eine nicht unbedeutende Zahl angesammelt: Politisches aus Paris und London, Kirchliches aus Köln und Brüssel, der ausführliche Bericht eines vertrauten Freundes aus Straßburg über den Stand der Dinge in Elsaß-Lothringen, Geschäftsbriefe der verschiedensten Art: englische, französische, italienische, deutsche; – Giraldi kostete die Lektüre des einen nicht mehr Mühe als die des andern. Er machte sogar seine Notizen am Rande stets in der Sprache des Korrespondenten. – Das wächst und wächst, murmelte er; – man hat nicht mehr weit vom Mittelpunkt der Dinge, und wie ergötzlich ist es, wenn man so Ereignisse, die ohne uns nie hätten geschehen können, als stupende Neuigkeiten aus dem Munde anderer hört! Leider fangen sie auch schon hier an, die Bedeutung des titel- und ordenlosen Signor, des simplen Privatsekretärs einer Dame von Stande, zu wittern, und damit ist freilich der beste Teil meiner Wirksamkeit vorbei. Man hört alles, solange man nichts ist, und hört es richtig. Sobald die Leute mit Fingern auf uns zeigen, erfährt man nur noch wenig und das wenige falsch. Das ist der Fluch, der auf den Königen liegt.

Was wollen Sie? rief Giraldi heftig.

Monsieur Antonio, Monsieur! sagte François flüsternd; – er bittet so dringend –

Schon gut! sagte Giraldi.

Willkommen, mein lieber Antonio! – Nicht doch, mein Sohn – ich habe die Weihen ja nicht!

Antonio hatte, sich tief herabbeugend, die Hand, die Giraldi ihm gereicht, an die Lippen geführt. – Je weniger du ihm traust, desto demütiger mußt du sein, sagte Antonio bei sich.

Mir sind Sie geweiht, Signor, sagte er laut.

Ich höre das gern, erwiderte Giraldi: Der schönste Schmuck des Jünglings ist ein dankbares Gemüt. Hast du sie endlich wieder einmal gesehen und gesprochen?

Nur gesehen, Signor – als sie eben aus ihrem Atelier nach dem Hause ging. Sie anzusprechen, wage ich nicht – sie spricht, sagen sie, mit niemandem, und niemand darf in ihr Atelier.

Aus dem Gespräche deines Maestro und des Kapitäns noch immer nichts von Belang? Der betreffende Name nicht erwähnt?

Nein, Signor, im Gegenteil! Seit die junge Dame abgereist ist – –

Ich weiß – vor drei Tagen

- sind sie sehr vorsichtig geworden und sprechen so leise, daß es unmöglich ist, mehr als hin und wieder ein Wort zu verstehen. Dafür fand ich soeben diesen Brief, den der Maestro heute vormittag erhalten und den Tag über wohl ein dutzendmal gelesen, auch dem Kapitän, als er am Mittag kam, gezeigt hat.

Es war gefährlich, einen Brief, der ein so großes Interesse erregte, zu entwenden.

Der Maestro hatte ihn, wie er mit allen Briefen zu tun pflegt, in das Pult geworfen; als er vorhin fortging, auch wirklich zugeschlossen und den Schlüssel mitgenommen; ich verstehe längst, das gebrechliche Schloß ohne Schlüssel zu öffnen. Morgen früh findet er den Brief wieder im Pult.

Von wem ist der Brief?

Ich glaube, von der jungen Dame – es ist eine entsetzliche Handschrift, Signor!

Gib!

Giraldi nahm Antonio den Brief aus den Händen und trat an das Fenster, das letzte Licht des Tages zur Lektüre zu benutzen.

Ein abergläubisches Grausen durchrieselte Antonio, als er sah, mit welch unheimlicher Geschwindigkeit der Mann am Fenster die Seiten des Briefes durchlief, von denen er, der sich so viel auf seine Kenntnis des Deutschen zugute tat, kaum eine Zeile zu lesen vermocht hatte. Wie durfte er wagen, sich in einen Kampf der Schlauheit und Klugheit einzulassen mit ihm, der alles durchschaute, alles wußte, als stünde er mit dem bösen Teufel im Bunde! Und doch, eines wußte er nicht: Daß er ihn, während er da am Fenster stand und das Abendlicht wie eine Aureole um sein schwarzlockiges Haupt leuchtete, durchbohren würde mit dem Stilett hier in seiner Brusttasche, wenn er es wagen sollte, ihn zu betrügen und zu verraten, wie er unzweifelhaft sonst alle Welt verriet und betrog.

Giraldi hatte die beiden letzten Seiten langsamer gelesen als die vorhergehenden; er las sie jetzt sogar noch einmal. Dann entzündete er, ohne ein Wort zu sagen, die Kerze, die auf seinem Schreibtische stand, setzte sich und begann, wie es schien, diese beiden letzten Seiten abzuschreiben. Die Feder flog über das Papier, fast so schnell, wie vorhin sein Auge über die Seiten. In wenigen Minuten war es getan; er gab den Brief Antonio zurück. – So, jetzt lege ihn wieder an Ort und Stelle – mit größter Sorgfalt. Und bringe mir jeden Brief in dieser Handschrift. Du leistest mir dadurch einen großen Dienst, und meine Dankbarkeit wird mit deiner Bereitwilligkeit, mir zu dienen, Schritt halten.

Ich tue, was ich tue, um Ihretwillen, Signor! sagte Antonio; – ohne die Hoffnung, die Erwartung eines Lohnes. Den einzigen, den ich mir wünsche, können selbst Sie mir nicht gewähren.

Meinst du? erwiderte Giraldi. Was weißt denn du, Knabe, was ich vermag oder nicht vermag?

*


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