Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel.

Zwei Tage später leuchtete am schönsten Frühlingsmorgen der Himmel so glanzvoll, als habe er seine helle Freude an dem Festgepränge da unter ihm in der alten Hansastadt. Von allen Kirchtürmen schallten die Glocken; alle Kirchtüren hatten sich weit geöffnet, die Scharen derer einzulassen, die ihr Herz trieb, vorerst Gott die Ehre zu geben für die Befreiung von der Herrschaft der Fremden; von den Wällen donnerten die Böller; von den Masten aller Schiffe im Hafen wehten die Flaggen; alle Häuser hatten sich, je nach Kräften und Vermögen, mit Teppichen, Girlanden, Maien und Blumen geputzt; aus allen Fenstern, an denen der Zug vorbei mußte, schauten fröhliche Gesichter hinab auf die Straßen, in denen die Menge Kopf an Kopf Spalier bildete, die Hälse reckend nach der Seite, von der sie kommen mußten.

Wieder einmal die Russen, just wie im Frühjahre vorigen Jahres! Nur daß es diesmal keine Kosaken waren, oder doch nur Kosakenpulks zwischen den regulären Regimentern zu Fuß und zu Pferde, die, ihren Oberstkommandierenden General Benningsen an der Spitze, daherkamen mit klingendem Spiel, die Infanterie mit angezogenem Gewehr, die Kavallerie die Pallasche und die Säbel an den Schultern. Nun, ohne die Russen geht es nun einmal nicht, und – Hurra! Hurra! Rußland hoch! Es lebe der Kaiser! Hoch dem Kaiser Alexander! schallte es in die Lüfte, und die Offiziere salutierten, die Degen senkend, und drückten ein Auge zu, wenn die Tschakos von den Köpfen der Soldaten plötzlich auf den Bajonettspitzen schwankten und die Pallasche und Säbel von der Schulter über den nickenden Helmbüschen in der Sonne funkelten.

Das war ein großer Jubel, aber nur wie Rollen fernen Gewitters gegen das Krachen eines, das den Leuten über den Köpfen steht, als nun nach einem Zwischenräume, den ein nachstürzender Volkshaufen füllte, vier Trompeter auf Schecken, Fanfaren schmetternd, um die Straßenecke biegen, ihnen nach ein junger Offizier auf stattlichem Rosse, hinter dem Offizier die Dragoner, die Grenadiere, die Musketiere der vereinigten Bürgergarde und hanseatischen Legion. Da stiegen alle Hüte und Mützen von den Köpfen hoch in die Luft, da wehen alle Tücher aus den Fenstern; da bricht ein Jubel aus, der kein Rufen, kein Schreien mehr ist, nur ein einziger gewaltiger Ton, in dem sich die freudeberauschte Seele eines ganzen Volkes zusammenfaßt; da ist kein Auge, das trocken bliebe; da fallen Menschen, die sich nie vorher gesehen, schluchzend einander in die Arme, sich herzend und küssend wie Brüder und Schwestern einer Familie, die sie immer sein sollten und in dieser großen Stunde sind.

Daß sich in die Reihen der schmucken Krieger alsbald die Scharen der Ärmsten mischen, die man ausgetrieben, und die nun mit jenen, die für sie gekämpft und geblutet, ihren Einzug halten in die befreite Vaterstadt, kann den Jubel wohl dämpfen, aber die Rührung nur erhöhen. Denn haben sie oft genug auch Jammer und Elend verlassen, um zu Jammer und Elend zurückzukehren, heute beseelt sie nur ein Gedanke: daß sie heim dürfen zu der Stätte, auf der sie geboren. So ziehen sie daher, ihr bißchen kümmerliche Habe mit sich schleppend, die kleinsten Kinder auf den Armen, die größeren an den Händen; und alle, jung und alt, tragen grüne Maien, mit denen sie hinaufwinken zu den Fenstern, oder die sie vor sich her tragen, Gebete murmelnd, fromme alte Kirchenlieder andachtiglich singend.

Sind es doch auch nicht immer kleine Leute, die so daherziehen. Man zeigt unter ihnen solche, die aus Wohlstand und Ehre und Würden in die Verbannung fliehen mußten, das nackte Leben zu retten nicht für sich, sondern für das Vaterland. Auf einem Leiterwagen, deren viele sich dem Zuge anreihen, findet eine große Familie nur eben Platz: Vater, Mutter und sechs Kinder, von denen das älteste bereits ein Knabe-Jüngling ist und das jüngste noch an der Mutter Brust ruht. Die Mutter aber schaut mit Stolz und Glückseligkeit auf die wogende Menge, und wohl hat sie vollauf Ursache, stolz und glückselig zu sein: das Weib von Friedrich Perthes. Wo immer man die Familie erkennt, zieht man die Hüte und bringt dem Friedrich Perthes ein Hoch, das er tausendfach verdient hat.

Aber wie groß und rührend das Schauspiel auch in allen seinen Teilen ist, das Volk, das einen Helden, als Mittelpunkt seines Interesses, haben will, hat, was es sucht, bald gefunden: in dem Offizier, der hinter den Trompetern reitet. Wie er der Erste des Zuges ist, hält das Volk dafür, daß die Stelle ihm gebühre, in welchem jeder sein Ideal eines Kriegsmannes verkörpert sieht. So kühn leuchten seine blauen Augen aus dem von Sonne, Wind und Wetter gebräunten schönen Gesichte, das eine Reihe Säbelnarben kreuz und quer und der erste Anhauch eines Schnurrbartes zieren. So lässig-sicher lenkt er den ausgesuchten Renner, der schäumend in die Zügel knirscht und ungeduldig das Pflaster schlägt, wenn sein schlanker Reiter ihn anhält und sich frei in den Bügeln hebt, einen der Blumensträuße aufzufangen, deren ihm aus dem Fenster Dutzende zufliegen. Die meisten verfehlen weit ihr Ziel; das Volk sorgt dafür, daß es seinem Liebling dennoch an Schmuck nicht fehlt. Es bekränzt ihn vom buschgeschmückten Tschako bis zu den Sporen; es bekränzt den Renner, der, darüber ungeduldig, steigt und von dem Reiter lachend heruntergedrückt wird, während die Nächsten mit angstvollen Rufen scheusam zur Seite weichen, und die Menge in neuem Jubel ausbricht ob des kecken Reiterstücks.

Wohl genoß der junge Held, dem man so überschwengliche Ehren erwies, seines Triumphes in vollen Zügen. Dennoch war in seiner Seele eine Trübung, die er nicht bannen konnte, ja, die zunahm, je länger der Zug nun schon währte, ohne daß er die gesehen, nach der sein spähendes Auge an allen Fenstern suchte. Mein Gott, sie mußte doch an einem oder dem anderen sein, und er würde sie unter all den Frauen und Mädchen herauszufinden wissen: die geliebte Schwester, deren Namen, als seiner Schutzheiligen, auf den Lippen, er so oft den Pallasch zur Attacke gezogen, deren Bild vor seiner Seele gestanden hatte, als er heute morgen erwachte zum Tage des triumphierenden Einzuges in die Vaterstadt, wo er den Vater nicht mehr finden würde. Einer der nachträglich Vertriebenen hatte es ihm gesagt, der es freilich auch nur vom Hörensagen und dem eifrig Forschenden über die Schwester keinerlei Auskunft zu geben wußte, sowenig es einer und der andere vermochte, der, aus der Stadt gestoßen oder entflohen, in das befreundete Heerlager gekommen war. Sie konnte dahingerafft sein von dem Würger Tod, wie die anderen Tausende – gewiß. Nur daß seine Seele das Entsetzliche nicht zu fassen vermochte und sich des Wiedersehens mit der Teuren festiglich tröstete. Nun, schien es, sollte es doch nicht sein. Dann aber war für ihn der höchste Reiz und Zauber des schönen Tages unersetzlich dahin.

Die straffe Ordnung, in der man die Stadt betreten, hatte sich längst gelockert. Von dem zweiten Zuge der hanseatischen Kavallerie kam der Führer an den Gefeierten herangesprengt und rief lachend:

Nun, Georg, können du und dein Gaul die Kränze noch schleppen? Denk an das Wort von Ottilie, oder wie die kleine Person in Goethes »Wahlverwandtschaften« heißt!

Welches Wort?

Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen!

Das ist nur zu wahr, Eduard. Ich gäbe alle diese Kränze, könnte ich – Halt! soll ich dir's sagen? Könnte ich nur einen meiner Schwester reichen.

Du hast's erraten.

Was ist da zu erraten, du Ritter der treuen Schwesterliebe!

Die mich nun so grausam in Stich läßt.

Ich habe mir auch vergebens nach ihr den Hals verrenkt. Du weißt, welch Faible ich für sie hatte, und wie wütend ich war, als sie nun doch den ehrlos erbärmlichen Wicht – Verzeihung! ich hatte vergessen, daß er immerhin dein Schwager ist.

Ich wollte, ich könnt' es vergessen.

Es ist auch wirklich erbärmlich! Während wir die Schauer der Regennacht und so weiter – sitzt der Kerl in London hinter dem warmen Ofen und läßt uns hier für ihn die Kastanien aus dem Feuer der französischen Kanonen holen. Aber in den Senat kommt er mir nicht wieder, oder ich will nicht Eduard Sieveking –

Da ist sie! rief Georg, den Kameraden jäh unterbrechend.

Wo?

Da – an dem Fenster – war sie – diesen Augenblick – neben der Dame – dort!

Du bist toll! Weißt du, wer das ist? die Gräfin d'Aubigny! Ich bin vor acht Tagen in dem Hause gewesen, als ich als Parlamentär hier war und mit dem Grafen verhandelte. Er ist auch jetzt wieder Kommissar zur Abwicklung der Geschäfte zusammen mit einem zweiten Offizier von höherem Range, dessen Name mir entfallen ist.

Du bist deiner Sache sicher?

Aber völlig.

Dann muß ich mich allerdings geirrt haben.

Freilich! Deine Schwester an der Seite der Gräfin d'Aubigny! Da könnte ich ebensogut vor acht Tagen mit dem Grafen, der übrigens ein ganz fixer Kerl ist, Brüderschaft getrunken haben.

Eduard Sieveking zügelte das Pferd, um seinen Zug herankommen zu lassen. Georg ritt weiter, murmelnd: Ich hätte darauf schwören mögen! umflorten Auges auf die Menge blickend, deren Jubel ihn jetzt, da die Spitze seines Zuges um die Ecke der Große Bleichen auf den Jungfernstieg bog, von neuem mächtiger als zuvor umbrauste.

Er hatte sich nicht geirrt.

Hinter der Gräfin d'Aubigny, die, in ihrem Balkonfenster lehnend, so vergnüglich auf das bunte Schauspiel unter ihr herabschaute, als wäre sie in ihrer Loge im Théâtre français und sähe ein neues, ganz besonders amüsantes Stück, hatte für einen Moment Minna gestanden, herbeigezogen durch ein übereifriges: Das müssen Sie sehen, meine Liebe! schnell! schnell!

Es war Georg auf seinem bekränzten, schäumenden Rappen gewesen, den die Gräfin ihr hatte zeigen wollen. Sie aber hatte den Bruder gesehen und war nach dem Sofa im Hintergrunde des Zimmers, von dem sie sich widerwillig erhoben hatte, zurückgestürzt.

Dort fand die Gräfin, sich nach einigen Minuten vom Fenster wendend, sie, den Kopf in die Kissen drückend, in Tränen gebadet.

Großer Gott, was ist Ihnen, meine Liebe? rief die erschrockene Dame.

Es war mein Bruder! murmelte Minna schluchzend.

Den Lippen der Gräfin entschlüpfte ein leises, schnell abgebrochenes Ah!

Sie ging ein paarmal in dem Gemache hin und wieder; dann kam sie zu Minna, die sich inzwischen emporgerichtet hatte und mit starren Augen, in denen noch die Tränen glänzten, vor sich hinblickte, setzte sich zu ihr aufs Sofa und sagte, ihre Hand ergreifend:

Aber, meine Liebe – ich begreife Sie ja, begreife Sie vollkommen – indessen: an diesen Gedanken müssen Sie sich nun gewöhnen und dürfen dergleichen nicht so tragisch nehmen, wenn Sie doch einmal eine von den Unseren sein wollen.

Eine von den Ihren! sagte Minna mit demselben starren Blicke. Werde ich das jemals werden können?

Das wird doch nur an Ihnen liegen, erwiderte die Gräfin.

Es war etwas unsicher herausgekommen. Die Dame fühlte das selbst. So fuhr sie in kräftigerem Tone fort:

Was wollen Sie? Sie lieben Héricourt, und Héricourt liebt Sie. Das ist, meine ich, die Hauptsache. Das andere muß sich finden, wird sich finden. Man wird zwischen Ihnen und Ihrem Gatten die Scheidung herbeiführen – der Graf sagt mir, das hält bei euch Protestanten nicht schwer. Natürlich wird darüber einige Zeit vergehen. Das ist unbequem, da Héricourt und der Graf ihre Kommission in höchstens acht Tagen beendigt glauben, und wir Franzosen dann anständigerweise nicht länger hier bleiben können. Wir werden dann sehen, unter wessen Schutz Sie hier zurückbleiben; ich denke: unter dem Ihres Bruders, den Sie ja so sehr lieben. Dann – dann –

Die Gräfin bog sich nieder, ihr Windspielchen zu streicheln, das sich an sie gedrängt hatte, und fuhr fort:

Was ich sagen wollte – ja! Dann sind Sie inzwischen in den Schoß unserer heiligen Kirche übergetreten, was unbedingt notwendig ist, meine Liebe, unbedingt! – und kommen zu uns nach Frankreich, wo Sie von dem Grafen und mir an der Grenze – kein Wort, meine Liebe! es ist das alles zwischen Héricourt und uns abgemacht – das wenigste, was wir für unseren Freund tun können – überdies, es geht gar nicht anders – die einfache Schicklichkeit erfordert es. Wir eskortieren Sie nach Paris, wo Héricourt Sie in unserem Hause begrüßen wird, wo Sie bis zu dem Tage der Vermählung bleiben. Nun, meine Liebe, sagen Sie selbst: gibt es auf der Welt etwas Einfacheres? – Artig, Fisine! Das liebe Ding! Sehen Sie doch! Ich glaube wahrhaftig, es weiß, daß es nach Frankreich zurückkommen wird!

Die Gräfin liebkoste das Windspielchen, das ihr auf den Schoß gesprungen war. Minna hatte, während die Gräfin sprach, ihren starren Blick nicht verändert. Sie schaute auch jetzt nicht auf, als sie leise sagte:

Glauben Sie, daß seine Mutter bei der Vermählung zugegen sein wird?

Die Gräfin konnte nicht sogleich antworten, sie mußte erst das Halsband ihres Lieblings, das sich verschoben hatte, zurechtrücken. Und dann:

Die Frau Marquise? Ja, meine Liebe, offengestanden: ich glaube nicht. Sie dürfen ihr das nicht verübeln. Ich habe die Ehre, die Frau Marquise zu kennen: unsere Güter in der Bretagne und Schloß Larnac, die Residenz der Frau Marquise, sind ja benachbart – deshalb auch die Jugendfreundschaft zwischen Héricourt und dem Grafen. Also: ich kenne die Frau Marquise – eine Dame, der höchsten Achtung wert in jeder Beziehung; – aber – es ist sehr seltsam: in der älteren Linie der Héricourts, der Héricourts schlechtweg – geht eine Ader von Neuerungssucht und Demokratismus – wie sich denn auch Hypolits Vetter Bertram mit einer Rotüriere vermählt hat – während die Drouot d'Héricourts die alten Traditionen immer heiliggehalten haben. Hypolits Vater, wissen Sie, starb unter der Guillotine, ein Opfer der Schreckensherrschaft. Darf man es seiner Witwe – auch wenn sie nicht eine geborene Duchesse Morbihan aus einem Geschlechte wäre, älter als das der Bourbons –-darf man sich wundern, sage ich, daß sie sterben will, wie sie gelebt hat: treu ihrem Gott und ihrem König?

Das heißt, sagte Minna, wenn ich nicht irre: sie wird bei unserer Vermählung nicht nur nicht zugegen sein, sondern auch nie in sie willigen. Und doch sagten Sie vorhin: es liege nur an mir, eine der Ihren zu werden!

Mein Gott, rief die Gräfin, man muß dergleichen nicht buchstäblich nehmen. Man muß eben sehen, was sich machen läßt. Unser alter Adel, ich gebe es zu, ist der stolzeste der Welt; aber auch zugleich der, der dem Kultus der Schönheit und des Geistes am eifrigsten huldigt. Nun, meine Liebe – ohne Ihnen schmeicheln zu wollen – es müßte seltsam zugehen, wenn Sie sich mit Ihrer Schönheit und Ihrem Geiste diese stolze Welt nicht erobern sollten. Haben Sie doch uns bereits erobert, den Grafen und mich, und dürfen wir uns doch rühmen, in dieser Welt nicht die Letzten zu sein! Aber nun, den Kopf in die Höhe, meine Liebe! Ich höre unsere Herren kommen. Wir dürfen ihnen keine verweinten Augen zeigen.

Sie nahm ihr Taschentuch, das sie Minna schnell ein paarmal auf die Augen drückte, während Fifine von ihrem Schoße herab den Herren, die zur Tür hereintraten, bellend entgegensprang.


 << zurück weiter >>