Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel.

Das Begräbnis des Mannes, der einst in dem Leben der höheren Hamburger Kreise eine so glänzende Rolle gespielt hatte, war prunklos gewesen, wie eines dunkelsten Handwerkers. Keiner seiner ehemaligen Senatskollegen, keiner von den Hunderten der Börsenbekannten und Geschäftsfreunde, der Genossen aus der Weinstube, den Besuchern seiner prunkvollen Feste und stadtbekannten Gesellschaftsabende hatte ihm das Geleit gegeben; niemand war seinem Sarge gefolgt als die Tochter und zwei alte Männer: der treue Samuel Hirsch und Doktor Boutin.

Drei Tage nach dem Begräbnisse schaffte Minna still in der dunkeln Hinterstube des Hauses an der Alster, das sie morgen für immer verlassen sollte. Christiansen ging, dies und jenes bringend, forttragend, geräuschlos ab und zu. Er sollte Minna begleiten, wenn auch nur bis Warnesoe. Die letzten Tage hatten den alten Mann vollends gebrochen. Es war immer sein höchster Wunsch gewesen, den Rest seines Lebens in seinem Geburtsorte zu verbringen, dem kleinen, von Warnesoe nur wenig entfernten Hafenort Neustadt, wo ihm eine Nichte wohnte, die den Gasthof »Zur schönen Aussicht« in Pacht hatte. Zu der wollte er.

Nicht so einfach war es für Minna gewesen, sich mit dem Gedanken der Übersiedlung nach dem Gute ihres Gatten auszusöhnen; aber den Gründen, die der ärztliche Freund mit überlegener Einsicht und freundlichem Zureden vorbrachte, hatte sie sich auf die Dauer nicht verschließen können.

Sehen Sie, Liebste, sagte er, im Leben ist es wie im Kriege: die Hauptsache ist, daß man zur rechten Zeit an dem rechten Orte sich befindet. So gewinnt Napoleon seine Schlachten; lernen wir von unserem großen Feinde! Hier in Hamburg bleibt Ihnen zurzeit nichts mehr zu tun. Ihre geschäftlichen Angelegenheiten haben sich, sozusagen, von selbst abgewickelt. Von einem Warburgschen Vermögen ist nicht mehr zu reden. Das Geschäft ist aufgelöst, bereits seit Jahr und Tag. Die Fabrik am Brooktor, ebenso wie dies Haus hier, wenn es die Franzosen jemals wieder räumen – wozu ja jetzt einige Aussicht ist – gehören den Gläubigern, mit denen sich eventuell auseinanderzusetzen in Ihrem und Ihrer Geschwister Namen Herr Hirsch übernommen hat. Sie dürfen ihm in jeder Beziehung vertrauen. Gab es jemals einen Israeliten, in dem kein Falsch ist, so ist er es. Ihres Gatten Liegenschaften: das Haus, die Speicher, die Schiffe im Hafen sind konfisziert. Sie haben das sowenig verhindern können, als Sie imstande sind, einen Schritt zu tun, die Maßregel rückgängig zu machen. Wird die Stadt wieder frei, wird auch Billows Vermögen wieder frei; wo nicht, nicht, und daran ist nichts zu drehen und zu deuteln, Quaeritur: können Sie Ihren bedrängten Landsleuten und Stadt- und Leidensgenossen weiter von Nutzen sein, wie Sie es bisher aufopferungsvoll gewesen sind? Antwort: nein. Dies hier ist jetzt ein kostbares Feld für einen alten Praktikus wie ich, der nichts dafür kann, wenn er in seinem kleinen Finger mehr Erfahrung hat, als seine jüngeren Kollegen in ihren Köpfen, und außerdem nichts zu Markte trägt, als seine verrunzelte Haut, die er zu einem besseren Preise anzubringen niemals wieder die Gelegenheit finden wird. Für Sie liegt die Sache ganz anders. Wären Sie auch nicht, wie Sie es sind, durch die Ereignisse der letzten Monate in Ihrer sonst so kraftvollen Gesundheit auf das schwerste erschüttert – Sie stehen jetzt im Dienste der Allmutter, die wohl wissen wird, was sie tut, wenn sie ihre erschaffenen Geschöpfe sich selbst und dem Zufall, das heißt: dem Tode überläßt, um ihre ganze Sorgfalt denen zuzuwenden, welchen sie noch zum Leben verhelfen will. Folgen wir der Natur, können wir niemals irren – sagt ein alter römischer Weiser, der sich oft geirrt hat; in diesem Falle und mit diesem Ausspruche nicht. Und das Verhältnis zu Ihrem Gatten selbst, wie beklagenswert es sein mag, hier hat es schlechterdings nicht mitzusprechen. Ob er bei Empfang der Nachricht, die an ihn unterwegs ist, ein menschliches Rühren fühlen wird, wie ich hoffe; ob er der Barbar bleibt, als den er sich bisher erwiesen hat, – in der Hauptsache ist das für Sie ganz irrelevant. Die Hauptfache aber ist, daß Sie für das schuldlose Wesen sorgen, das Sie unter dem Herzen tragen, und sich würdig und klüglich vorbereiten auf die Stunde, die Ihnen bevorsteht. Hier in der Stadt der beständigen Angst und des Grauens vor einer Zukunft, die nach Menschengedenken, wenn die Okkupation sich bis in den Winter hineinzieht, noch tausendmal schlimmer werden muß, als es die Gegenwart bereits ist, sind Sie dazu außerstande; vielmehr: Sie riskieren einfach Ihr Leben, will sagen: ein Leben, das einem anderen unverbrüchlich gehört. Und also müssen Sie nach Warnesoe. Ihr Gatte, als er es Ihnen zum Aufenthaltsorte während seiner Abwesenheit anbot, mag damit nur eine höhnende Phrase beabsichtigt haben; es spricht so mancher Tor ein trügliches Wort, bei dem ihn die Götter festhalten. Nun ist ja allerdings leicht möglich, daß der Kronprinz von Schweden, ohne sich um die Verbündeten in Böhmen zu bekümmern, den Krieg nach Holstein spielen wird, sich dort und in Schleswig sein innigstgeliebtes Norwegen zu erobern. So benutzen wir die Zeit des Waffenstillstandes, die uns noch bleibt, und genießen Sie des labenden Schattens unter den hohen Buchen und Eichen und des erfrischenden Anhauchs des Meeres. Und kommt Ihre Stunde, und ein Gewisser, der Sie liebt, wie ein eigen Kind, hat seine alten Knochen noch beisammen, – seien Sie versichert, er wird Ihnen nicht fehlen.

So sprach der Gute, Getreue von allem, was Minna bewegen sollte, nach Warnesoe zu gehen und gleichsam in den Bann ihrer Ehe zurückzukehren; von dem einen, das sie freilich nicht nach Warnesoe, aber gewiß aus Hamburg fortgetrieben haben würde, auch wenn tausend Gründe zum Bleiben gewesen wären, sprach er klüglicherweise nicht. Das mochte sie mit ihrem Herzen abmachen; und er wußte: dies leidenschaftliche Herz konnte für den Augenblick schwer irren, auf die Dauer fand es sich immer ins Rechte.

In schlimmer Stunde hat sich Minna von dem Gott losgesprochen, an den sie bis dahin geglaubt; nun wußte sie nicht, wohin sich wenden mit dem Dankesgefühl, das ihre Seele erfüllte. Dem Danke dafür, daß sie dem Geliebten entsagt, bevor sie ahnte, was ihr eine Minute später der alte ärztliche Freund offenbarte. So gab es, wenn keinen allbarmherzigen Gott, doch mitleidvolle Genien; und ihrer einer hatte sie an dem Abgrunde, der, ihr unbewußt, zur Seite klaffte, gnädig vorübergeführt. Der Gedanke der Möglichkeit nur, sie hätte die Empörung der Patriotin, das Pflichtgefühl der Gattin zum Schweigen bringen können, um die Stimme des Herzens laut werden zu lassen, das den alten Schlag trotz alledem noch nicht verlernt hatte, erfüllte sie nachträglich mit Entsetzen. Ihr gleich mochte ein Mensch empfinden, den ein glückliches Ungefähr aus Mördershand befreit hat, und der sich nun die Lage vergegenwärtigt, in die er sich verstrickt sah. »Du bist mir rein und heilig wie in der ersten Stunde, da mein Auge dich erblickte?« – würde er es noch heute sagen? sich – nicht in Verachtung – dazu war er zu gut und edel – aber voll des bittersten Schmerzes, den ein Mannesherz empfinden kann, von ihr wenden? Mein Gott, das alte Gelöbnis war ja längst gebrochen, längst der neue Bund geschlossen, dies nur die Erfüllung, und doch und doch – nein, sie durfte ihm nicht wiederbegegnen, mußte fort – warum hatte sie die Fahrt nach Warnesoe erst auf morgen, nicht auf gestern schon, auf heute spätestens festgesetzt?

Freilich, wenn er heute so wenig kam wie gestern und die anderen Tage, und sie sich im Hause hielt, wie sie es die ganze Zeit getan hatte, wo lag die Gefahr? Im Herzen, das sich zum Kuppler hergab und beständig raunte: nur noch einmal möchtest du ihm in die treuen Augen sehen, nicht voll Liebe, wie ehemals, nicht voll Haß, wie neulich – voll stillen Kummers nur ob seines, deines Geschickes; mit einem Blicke ihm sagen: Leb wohl! leb wohl, du Ewiggeliebter!

Es durfte nicht sein und würde nicht sein, sie wußte es wohl. Sie würden sich auf dieser Erde nicht wiederfinden und nun auch in einem künftigen Leben nicht.

Sie hatte das letzte Stück ihrer wenigen Habe in den Koffer getan und kauerte noch auf den Knien, das Gesicht in die Hände gedrückt in stillem Weinen, als Christiansen abermals ins Zimmer kam. Der Alte hatte sie jetzt zu oft schon in Tränen getroffen. So erhob sie sich ohne Hast und sagte, da sie etwas in seinen Händen sah, sich mit dem Tuche über die Augen fahrend:

Nichts mehr, Christiansen, mein Koffer ist voll.

Der Alte stand da, ein wunderliches Gesicht machend und das nicht eben große, in Papier geschlagene Paket, oder was es sonst sein mochte, zwischen den Fingern drehend.

Was ist es? fragte Minna.

Ich hab's eben erst gefunden, als ich meine Bettlade von der Wand losmachte, erwiderte der Alte zögernd. Da muß es hineingerutscht sein an dem Abend, als ich die Sachen aus dem seligen Herrn seinem Pulte in meine Kammer hinaufgetragen und auf das Bett gelegt hatte. Ich bin, weiß Gott, nicht daran schuld; es ging ja darunter und darüber; und hernach, als sie abgezogen waren – nein, erst am nächsten Tage – habe ich alles sorgsam wieder in dem Herrn seinem Zimmer auf dem Tische aufgeschichtet. Er hat mich hernach ein paarmal gefragt, ob ich nicht noch etwas hätte? er vermisse etwas – ein sehr wichtiges Paket. Ich habe oben auf meiner Kammer jedes Winkelchen ab- und ausgesucht, aber hinter das Bett habe ich freilich nicht gesehen; es saß ja mit zwei dicken Eisenklammern fest an der Wand.

Was ist denn in dem Paket? fragte Minna. Wahrscheinlich ganz gleichgültige Papiere. Und wenn es auch wichtige Sachen wären – Sie haben treu Ihre Pflicht getan und brauchen sich nachträglich keine Gewissensbisse zu machen. Geben Sie!

Sonderbarerweise zögerte der wunderliche Alte.

Es fielen ein paar Briefe heraus, stotterte er; das Kuvert ist nicht geschlossen – da konnte ich nicht anders als die Aufschriften lesen. Ich weiß nicht, wie dies möglich gewesen ist, und ob sich Mademoiselle Minna freuen wird, oder sehr traurig sein.

So geben Sie! wiederholte Minna ungeduldig, dem Alten das kleine Paket aus der noch immer widerstrebenden Hand nehmend.

Es war eigentlich ein großes Briefkuvert, oder doch ein Papier, das in die Form eines solchen gefaltet war; offen, wie Christiansen gesagt hatte, und das eine größere Anzahl Briefe einzuschließen schien. Minna kam der Gedanke, daß dies eine private Korrespondenz des Vaters sein möchte, die er geheimzuhalten Ursache gehabt habe; und ob es deshalb für sie sich schicke, näher nachzuforschen. So sagte sie, das Paket in der Hand haltend, noch immer ahnungslos:

Sie haben die Aufschriften gelesen? An wen?

An Sie! An Mademoiselle Minna Warburg! Und an –

Der Alte kam nicht weiter. Mit einem Schrei, der ihm durch Mark und Bein ging, war Minna an den Tisch gestürzt und hatte das große Kuvert vollends aufgerissen: an die zwanzig Briefe fielen heraus und lagen vor ihr: seine Briefe an sie, ihre Briefe an ihn – alle, oder wohl die meisten noch geschlossen. So viel Schamgefühl hatte er also doch gehabt!

Sie sind mir nicht bös? sagte Christiansen traurig.

Minna hatte den Alten ganz vergessen.

Gehen Sie! sagte sie über die Schulter; ich bin Ihnen nicht bös. Ich danke Ihnen tausendmal.


 << zurück weiter >>