Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Vierzehntes Kapitel.

Es war am Abend vorher in der Gesellschaft verabredet worden, den nächsten Vormittag zur Besichtigung des Schlosses und einer Wanderung durch den Park zu benutzen, an die sich eine Spazierfahrt durch die nächste Umgebung bis an die See schließen sollte. Von diesem Programm konnte heute nur der erste Teil zur Ausführung gelangen. Ein unendlicher Schnee war über Nacht gefallen, der die Parkpfade fußhoch überschüttet und die Wege vorläufig selbst für Schlitten unpassierbar gemacht hatte. So mußte es bei einem Rundgange durch das Schloß sein Bewenden haben. Da gab es allerdings des Sehenswerten genug. Im ersten Anfang des vorigen Jahrhunderts erbaut, bot es in seinen großen Verhältnissen, wie in der Ausstattung der einzelnen Räume, ein vollkommenes Bild jener prachtliebenden Zeit: gewaltige Hallen, in denen breite Steintreppen mit schweren Balustraden zu den oberen Stockwerken führten; die ungeheure Rüstkammer, aus deren Schätzen sich noch ein Dutzend Ritter von Kopf zu Fuß ausstaffieren, eine ganze Landsknechtschar hätte waffnen können; die Kapelle mit ihren verschnörkelten Säulen und pausbäckigen Engeln; in Gold und Marmor, Decken- und Wandgemälden prangende Säle mit kirchenhohen Fenstern – unbehaglich und eigentlich unbewohnbar – wofür es dann wieder an halbdunkeln Kabinetten nicht fehlte, wie Bienenzellen aneinandergeklebt und zum Teil von so winzigen Dimensionen, daß ein längerer Aufenthalt in ihnen ebenfalls kaum erfreulich erscheinen mochte.

Und doch waren in diesen weiten Sälen glänzende Feste gefeiert worden, hatten in diesen engen Zellen Menschen in Freud' und Leid gehaust; ja man mochte glauben, die ehemaligen Insassen hätten die Räume erst gestern verlassen, um morgen wieder zu ihren alten Gewohnheiten, zu den vertrauten Beschäftigungen zurückzukehren, jeden Gegenstand des Gebrauches, jedes Möbel noch auf den bestimmten Plätzen zu finden. Auch erzählte Billow, daß, seitdem sein Vater vor dreißig Jahren von dem letzten verwilderten Sproß der gräflich Bernekowschen Familie diese Besitzung für ein Spottgeld gekauft, in dem Schlosse, außer in einigen Zimmern des unteren Geschosses, kein Möbel verrückt, kein Bild umgehängt, er dürfe wohl sagen: kein Nagel eingeschlagen sei. Man habe sich eben begnügt, die Räume zu lüften, die Sachen abzustäuben, kleine Schäden, welche Wind und Wetter, Ratten und Mäuse angerichtet, sorgfältig zu reparieren, und so dem Lande Holstein eine Reliquie zu erhalten, auf die es bereits anfange stolz zu sein. Er müsse gestehen, diesen Stolz nicht zu empfinden, wenn er sich auch andererseits nicht habe entschließen können, die sehr namhaften Gebote zu akzeptieren, die ihm Private, ja selbst die Regierung für Schloß und Inventar gemacht hätten. Einen derartigen Besitz in der Familie zu haben, sei immerhin eine respektable Sache, die dem Rotürier auch dem Adel gegenüber ein Ansehen gebe; und am Ende fände sich gar einmal ein Billow, der sich nach Stille und Zurückgezogenheit sehne. Man solle eben nichts verreden. Vielleicht daß selbst in ihm früher oder später diese Sehnsucht erwache. Genug getummelt habe er sich in der Welt, um sich mit seinen dreißig Jahren manchmal schon ordentlich alt vorzukommen. Und wenn man die schlimme Zeit bedenke, in der man lebe, wer könne wissen, ob man nicht eines Tages Gott dafür danken werde, wenn man einen Zufluchtsort habe, in ihm still und geduldig auf bessere Tage zu harren.

Man stand, als Billow so sprach, an dem hohen Nischenfenster eines der Säle, in den Park blickend, zu dem eine Rampe mit flachen Stufen hinabführte, erst auf eine weite, jetzt mit Schnee bedeckte Fläche, die im Sommer wohl ein herrlicher Rasengrund sein mochte, und von der verschiedene Alleen, die hier konzentrisch zusammenliefen, in die Tiefe der Anlagen führten. Die Öffnungen der Alleen standen wie Tore da, eingeschnitten in die Mauer gewaltiger Eichen und Buchen, die den Platz im Halbkreise umgaben, und auf deren mächtig sich streckenden Ästen und ragenden Häuptern der Schnee in dichten Massen lag. Grau und schwer hingen regungslose Wolken fast bis hinab auf die Wipfel. Ein paar Krähen kamen durch die dicke Luft geschwingt. Die letzte wollte sich auf den Wipfel eines der Bäume setzen und eilte, wie erschrocken über die Lawine, die ihr Flügelschlag losgelöst hatte, krächzend den anderen nach, die bereits hinter dem Walde verschwunden waren. Dann lag das Bild wieder erstarrt, wie das Wasser in der großen Fontäne auf dem Rondell, leblos wie die Sandsteingötter, die, wunderlich vom Schneesturme drapiert, an den Eingängen der Alleen Wache hielten.

Die Gesellschaft schritt weiter durch die Gemächer, Minna folgte wie im Traume. Was sie da eben gesehen, es war ihre Zukunft gewesen: tödlich kalt, still wie der Tod. Aber der letztere Gedanke hatte auch wieder für sie etwas Versöhnendes, ja schauerlich Süßes. Für immer befreit von ihrer hoffnungslosen Liebe herben Schmerzen, sein selbst vergessend, mit kühlem Kopfe und ruhigem Gemüte für die anderen leben zu können: den Schwachen eine Stütze, den Leidenden eine Hilfe, den Kummervollen ein Trost; weiter so, wie jetzt für die Ihrigen, für die vielen, die von ihr abhängen würden, und in denen sie nur eine einzige große Familie sehen wollte, sich zu opfern, bis dann das Gleichnis Ereignis wurde und der wirkliche Tod kam, sie aus dem winterlichen Leben zu einem Lenz zu erwecken, der keinen Herbst und kein Verblühen kannte – in dem allen lag doch nichts, das eine Seele, die entsagt hatte, schrecken konnte; im Gegenteil: es war alles, was sie noch wünschen durfte. Es kam nur darauf an, sich das völlig klarzumachen, sich mit diesen Ideen ganz zu durchdringen, wie der Neophyt mit den Glaubenssätzen des Evangeliums.

Das waren ja nun, wie sie sich selbst gestehen mußte, dieselben Gedanken und Entschlüsse, mit denen sie sich bereits seit Monaten getragen hatte, und so erschien es gleichgültig, ob das entscheidende Wort heute oder morgen gesprochen wurde. Aber, nachdem es einmal gestern abend nicht gesprochen war, würde es schwerlich heute oder morgen, sondern erst im letzten Augenblicke vor der Abreise gesprochen werden.

Die Abreise hatte ursprünglich den Tag nach dem Feste stattfinden sollen, aber es war schon jetzt ersichtlich, daß man diesen Termin nicht werde einhalten können. Dem ungeheuren Schneefall der Nacht war ein scharfes Frostwetter, dann abermals ein reichlicher Schnee mit Oststurm gefolgt, der die so schon schwer passierbaren Wege vollends verweht hatte. Selbst die Kommunikation zwischen den einzelnen Gütern und Dörfern war unterbrochen, an die lange Fahrt nach Hamburg vorderhand nicht zu denken. So sah man sich auf den Verkehr unter sich innerhalb der Mauern des Schlosses angewiesen.

Das konnte niemand willkommener sein, als Oskar und Johanna. Durften sie doch nun den ganzen Tag nicht voneinander lassen und, bald in dieser, bald in jener Ecke kauernd, unersättlich jene Schwüre und Beteuerungen austauschen, die zu sagen und zu hören Mund und Ohren Liebender nicht müde werden, und endlose Gespräche über Dinge führen, die anderen so nichtig und ihnen von so unermeßlicher Bedeutung scheinen. Und da man, der guten Sitte gemäß, um diese Tête-à-tête in höflichem Bogen herumging, bestand die übrige Gesellschaft nur noch aus den drei Herren und Minna, was diese denn zum Vorwand nahm, die Herren in ihren gewichtigen Gesprächen über Dinge nicht zu stören, von denen ein Frauenzimmer nichts verstehe, so wenig wie vom Kartenspiel, der immer bereiten Zuflucht auf dem Lande eingeschneiter Stadtherren.

Solche Entschuldigungen veranlaßten die Herren zu Ausdrücken lebhaften Bedauerns, aber riefen keine eigentliche Opposition hervor. Man hatte sich offenbar dahin verständigt, keinerlei Zwang auszuüben auf ein Wesen, das sich niemals einer Nötigung beugen würde, außer der, die von ihrer eigenen Überzeugung ausging. So vermied denn der Vater auch die leiseste Anspielung auf das, was für ihn doch der alleinige Zweck des Besuches und Inhalt dieser Tage war. Georg, von dem Minna wußte, daß sein Feuerherz nur für eines glühte: die Befreiung des Vaterlandes von der gehaßten Franzosenherrschaft – er schien dies eine vergessen zu haben über der Fuchsjagd, auf die er mit Klaus Neddermeyer morgen früh wollte, und der Vorzüglichkeit der Punschbowle gestern abend, die ihn sein Mißgeschick im Tarock habe vergessen lassen. Billow seinerseits schien nichts im Auge zu haben, als die sorgsame Erfüllung seiner wirtlichen Pflichten. Und wenn es für Fräulein Minna wirklich von Interesse sei, sich in der Wirtschaft umzusehen, so würde es Herrn und Frau Neddermeyer zur höchsten Ehre und Freude gereichen, sie in jedes Detail einzuweihen. Auch wolle er nicht verfehlen zu bemerken, daß es heute morgen endlich gelungen, in dem Bibliotheksaale nach vierundzwanzigstündigem Heizen Tag und Nacht eine behagliche Temperatur herzustellen.

Minna machte von der erhaltenen Erlaubnis ausgiebigen Gebrauch. Sie durchwanderte mit Herrn Neddermeyer die Scheunen und die Ställe, schaute dort mit Vergnügen der munteren Arbeit der Drescher, hier dem behaglichen Stilleben der wohlgepflegten Tiere zu; bewunderte aufrichtig Frau Neddermeyers Leistungen in der Vorratskammer, der Milchstube, der Küche, welche überall ein Bild der peinlichsten Ordnung und Sauberkeit boten; auch verschloß sie den braven Leuten nicht den Mund, wenn sie – nach Art Untergeordneter – auf den »Herrn« zu sprechen kamen. Denn es hatte sich bald herausgestellt, daß sie eigentlich Schlechtes von ihm nicht zu berichten wußten. Zwar sei er bei der Revision der Rechnungen immer ein wenig krittlig; aber das sei ja wohl die Art der Kaufherren; und wenn er für die Not der Katenleute kein rechtes Herz habe, so sei das erklärlich, weil er von diesen Zuständen aus eigener Erfahrung nichts wissen könne, und was ein Mensch nicht wisse, das mache ihn bekanntlich nicht heiß. Aber sonst sei er, alles wohl erwogen, ein leidlicher Herr; und der noch leidlicher sein würde, wenn er eine gute Frau hätte. Nur beileibe keine von seinen englischen Verwandten, wie man ein paarmal schon gemunkelt habe! Das fehle ihnen noch gerade, die sie, als gute Deutsche, die sie seien, unter dänischem Regiment von so verzwickten Verhältnissen schon genug zu leiden hätten! Und dazu als Herrin eine Ausländerin, und gar eine Engländerin mit englischen Gewohnheiten und Schrullen! Nein! ein deutsches Fräulein müsse es sein, die hier auf Warnesoe das Regiment führe; eines mit klaren Augen im Kopfe, und die den armen Mann und seine Not auf den ersten Blick verstehe und liebreich mit aller Welt zu reden wisse.

Minna mußte im stillen lächeln über dies letztere, augenscheinlich auf sie gemünzte Kompliment, welches ihr bewies, daß ihre Verbindung mit Billow nicht bloß im Herrenhause, sondern auch in der Inspektorwohnung beschlossene Sache sei. Sie hatte es sich leicht genug verdient durch ein paar freundliche Worte, die sie im Vorübergehen zu den Knechten und Mägden gesprochen, und einige Besuche, die sie in den Hütten der Katenleute abgestattet hatte. Aber freilich war ihr die bei solchen Gelegenheiten bezeigte Teilnahme nur als eine Abschlagszahlung der werktätigen Liebe erschienen, mit der sie sich dem Schicksale der Armen und Hilfsbedürftigen in der Folge zu widmen gedachte. War er wirklich ein »leidlicher« Mann, wie sie hier alle sagten, er würde sie sicher gewähren lassen, vor allem es begreiflich finden, wenn sie die Bedingung machte, ein Paar Monate des Jahres mitten unter ihren Schutzbefohlenen auf dem Schlosse zubringen zu dürfen.

Das alte Schloß aber wurde ihr mit jedem Tage, ja jeder Stunde sympathischer. Mochte auch in dem Entwurfe des Ganzen, der Ausstattung im einzelnen phantastischer Pracht- und Prunkliebe mehr als billig Rechnung getragen sein – nicht bloß der Bannerspruch auf der Banderole des mächtigen steinernen Wappens über dem Portal verkündete in goldenen, bereits halb erblindeten Lettern: Noblesse oblige – es sprach aus allem ein lebhaftes, energisches Gefühl der Würde, die dem zieme, der diese Räume bewohne. Sie mochte sich nicht denken, daß man sich in diesen hohen Hallen mit niedrigen Gedanken tragen könne, in diesen lauschigen Kabinetten nicht zur Einkehr in sich selbst gelangen solle, um dort den Frieden einer Seele zu finden, die mit der Weltlust abgeschlossen hat, sich mit dem Leben nur noch durch die Sympathie für das Weltleid verbunden weiß.

Es war dieselbe Empfindung, welche Rousseau in der Nouvelle Héloise seine Julie aussprechen läßt, die an Claire schreibt:

»Wenn mir manchmal die Stille meines Zimmers notwendig ist, so ist es, wenn irgend eine Erregung mich beunruhigt und ich überall anderswo übler daran sein würde. Da finde ich dann, in mir selbst einkehrend, die Ruhe der Vernunft. Wenn eine Sorge mich drückt, ein Leid mich quält, dahin gehe ich, um sie los zu werden. Alle diese Erbärmlichkeiten verschwinden vor einem erhabeneren Gegenstande.«


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