Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Siebentes Kapitel.

Billow war erst am vierten Tage der Grabesruhe, die seit dem verunglückten Aufstände über Hamburg lag, von Warnesoe heimgekehrt in der übelsten Laune. Das sei nun der Dank für alle seine Mühen um Georg und der Lohn einer monatelangen Gastfreundschaft! Noch bei seinem vorletzten Aufenthalte auf Warnesoe habe er den jungen Menschen zum hundertsten Male beschworen, sich weiter ruhig zu verhalten, und kaum habe er den Rücken gewandt, da laufe der Tollkopf – unmittelbar hinter ihm her – zu Fuß nach Hamburg, um sich in den unsinnigsten aller Krawalle zu stürzen, vielmehr: diesen Krawall durch demagogische Umtriebe schlimmster Art ins Werk zu setzen. Und möge er doch seine Haut zu Markte tragen, wenn er's durchaus nicht lassen könne! Aber was sage der Herr Vater, was sagten die Damen dazu, daß er sechs junge Knechte von Warnesoe verführt habe, ihn auf seiner Eskapade zu begleiten und an dem Aufruhr tätigsten Anteil zu nehmen? Ein wahres Wunder und ein rechtes Glück, daß sie alle heil zurückgekommen feien! Trotzdem sei die Sache ruchbar geworden – wie sollte sie auch nicht? – und er, der Gutsherr, möge nun zusehen, wie er einen so groben Friedensbruch gegen die befreundete französische Macht bei der dänischen Regierung verantworten könne!

Der Vater und Johanna, die jetzt erst erfuhren, was da alles Schreckliches vorgegangen war, ohne daß sie eine Ahnung davon gehabt hatten, stimmten Billow nicht nur bei, sondern überboten ihn noch in seinen Klagen und Anschuldigungen. Der Vater verschwor sich, einen Sohn, der so jedes Gefühl der Pietät verleugne, jede Rücksicht der Dankbarkeit und Freundschaft aus den Augen setze, nicht wieder vor seinen Augen sehen zu wollen; Johanna erklärte, einem Menschen nie wieder trauen zu können, über den man sich zu Weihnacht totlachen und zwei Monate später die Augen ausweinen müsse, und der arme Bauernjungen erst zum Spaß und hernach im Ernst zu Landsknechten mache. Minna konnte nicht in Abrede stellen, daß Georg ein schweres Unrecht begangen habe, indem er Leute, die, mochten sie von Geburt und im Herzen noch so gute Deutsche sein, doch nun einmal dänische Untertanen waren, in sein kühnes Unternehmen mit hineinriß; aber zu welchen Ungehörigkeiten, ja Abscheulichkeiten die Not die Menschen verführe und zwinge, hätten die Franzosen selbst bewiesen, welche die Dänen zu Hilfe riefen, als ihnen die Gewalt in der Stadt zu entschlüpfen drohte; und die Dänen selbst, indem sie einem Hilferufe folgten und Gewalt brauchten gegen eine Stadt, mit der sie bis jetzt doch noch in tiefem Frieden lebten.

Aber das ist ganz etwas anderes, rief Billow. Dergleichen geschieht aus Staatsräson. Ein Staat kann und muß vieles tun, was der einzelne hübsch zu unterlassen hat, will er nicht, daß man ihm die Räson abspricht.

Und wenn der Aufstand nun geglückt wäre? erwiderte Minna, wenn Georg, anstatt zu unterliegen und sich dafür ausschelten lassen zu müssen, wie einen Schulbuben, gesiegt und seinen Namen in das goldene Buch unserer Geschichte eingetragen hätte, wie dann?

Mit Verlaub, Fräulein Minna, rief Billow heftig, das sind schöne Redensarten, mit denen man uns Männern von der Börse nicht beikommt. Wenn? Wenn Herr X. sich nicht verspekuliert hätte? Er hat sich aber eben verspekuliert und Notabene nicht mit eigenem Gelde, sondern mit Fonds, die er, ohne zu fragen, aus anderer Leute Tasche nahm.

Billow hat ganz recht! rief Warburg.

Georg hat gehandelt wie ein törichter Knabe, sagte Johanna, das hübsche Näschen rümpfend.

Geben Sie sich keine Mühe! rief Billow. Was liegt Fräulein Minna daran, ob man mir in Kopenhagen einen Hochverratsprozeß macht oder nicht?

So wenig, erwiderte Minna ruhig, wie Sie danach zu fragen scheinen, ob unsere Abmachung von unterwegs in baldige Erfüllung geht oder nicht.

Billow wußte auf diesen Einwurf nichts zu erwidern. Er wurde rot, murmelte Unverständliches durch die Zähne, ergriff seinen Hut und stürmte davon.

Es ist ein Elend um die Kinder, die immer nur an sich denken, murmelte Warburg, mit einem zornigen Blick auf Minna ebenfalls das Zimmer verlassend.

Du wirst uns noch alle unglücklich machen, rief Johanna, in Weinen ausbrechend.

Ich weiß nicht, was du willst und warum du weinst, sagte Minna, und ich glaube, du weißt es selber nicht. Oder fürchtest du, daß Billow, weil ihm mein Betragen nicht gefällt, es dich und Oskar entgelten lassen wird?

Also hatten er oder Vater es dir schon gesagt?

Was?

Daß Oskar in Kopenhagen ist und gar zu gern, bevor er nach London weiterreist, noch einmal hierher kommen möchte, oder daß wir ihm bis Warnesoe entgegenführen, wie zu Weihnacht. Billow hätte uns allen die Freude gewiß gemacht, obgleich er sagt, daß Oskar sehr dringend in London gewünscht wird. Aber natürlich, wenn Georg solche Streiche macht, und du dich so häßlich gegen deinen Bräutigam benimmst, wird er sich wohl hüten. Vater hat ganz recht: du denkst eben nur an dich.

Minna erwiderte nichts, aber sie konnte nicht verhindern, daß ein bitteres Lächeln um ihren Mund zuckte.

Genier dich nicht! rief Johanna, sag es nur frei heraus, daß wir alle untergeordnete Wesen sind, gar nicht imstande, dich zu begreifen. Mir ist das ja nichts Neues. Aber denkst du denn, daß Billow nicht auch dahinterkommt und sich hüten wird, eine zu heiraten, die sich so himmelhoch erhaben über ihm fühlt?

Damit war auch Johanna zur Tür hinaus; Minna blickte ihr traurig nach. War das ihre fröhliche, gutherzige Johanna, die aller Welt wohlwollte, für jeden ein freundliches Lächeln, ein verbindliches Wort hatte! und so zu ihr reden, mit solchen Augen zu ihr aufblicken konnte! Um was? Was hatte sie denn Schlimmes, was hatte sie denn nicht getan, soviel in ihren Kräften stand und ach! vielleicht über das Maß ihrer Kraft hinaus, um den Ihren das entschwundene Glück wiederzubringen? jedem zu schaffen, wonach sein Herz zumeist begehrte: dem Vater die frühere kaufmännische Stellung, der Schwester den Bräutigam, dem Bruder die Rückkehr ins Vaterland und die Möglichkeit, für dessen Befreiung zu streiten? Sie hatte ja keinen Dank gewollt, aber es war doch hart, daß ihr statt des Dankes so häßlicher Undank wurde. Oder mußte sie auch dies erfahren, um Kraft zu gewinnen zum Siege über den letzten Rest trotziger Selbstsucht, daß sie sich fortan unverzagten Herzens der großen Sache weihen könne? Der großen Sache, die ihr immer mehr zum Tempel wurde, über dessen heilige Schwelle die Unholde ihr nicht folgen durften, die sie draußen auf dem gemeinen Markte des Lebens umdrängten und umgrinsten?

Aus dem väterlichen Hause, in dem man sie als Friedensfeindin und Glücksstörerin mit scheelen Augen ansah, flüchtete sie in das Perthessche, um dort volles Verständnis ihrer Gedanken und Strebungen, Beschwichtigung ihres Kummers, Trost ihrer Sorgen zu finden. Perthes, der, sobald er von dem Aufstande Kunde erhalten, spornstreichs nach Hamburg zurückgeeilt war, glühte nun erst recht von Hoffnung und Tatendrang. Selbst die Notwendigkeit der Wiederauflösung seiner geliebten Bürgerreserve, nachdem er sie unter der Nachwirkung des Aufstandes vom vierundzwanzigsten kaum ins Leben gerufen, konnte ihn nicht irremachen. – So müssen wir uns eben, sagte er zu Minna, ganz auf das Volk stützen, wie sie es ja immer gewollt haben. Wir können uns auf es verlassen. Es hat bewiesen, daß es zu großen Schritten bereit und wenig grausam und bösartig ist. Steht es so aber trotz alledem hier bei uns nicht schlecht, so steht es in Berlin vortrefflich. Sehen Sie, was mir eben mein würdiger Freund Reimer schreibt: »Hier ist jetzt alles Leben und Tätigkeit. In schöner Regung und Bewegung freut sich das Gemüt, und der innere Mensch wird neu geboren, und der einzelne verschwindet sich selbst und geht auf in seiner Beziehung zur Gesamtheit.« – das sind Sie, liebe Freundin, wie Sie leiben und leben in Ihrer edeln Opferfreudigkeit und völlig selbstlosen Hingabe an das Ganze – Sie und Ihr Georg! Bloß, daß der prächtige Junge nichts dahinzugeben hat als sein liebes Leben, und »das Leben ist der Güter höchstes nicht«, sagt unser Lieblingsdichter. Sie, liebe Freundin, Sie bringen noch ganz andere Opfer.

Minna hatte zu dem Freunde und seiner Gattin niemals direkt von ihren persönlichen Verhältnissen, ihren traurigen Herzenserlebnissen und qualvollen Seelenkämpfen gesprochen. Aus Äußerungen, wie diese, konnte sie entnehmen, daß die früher völlig unbefangenen Freunde jetzt mehr als sie sagen mochten, vielleicht alles wußten.

Wenn sie an dem letzteren noch zweifelte und zumal annahm, daß mindestens ihre Liebe zu Hypolit d'Héricourt den Perthes ein Geheimnis geblieben war, sollte sie auch darüber eines anderen belehrt werden. Als sie eines Tages in den Vormittagsstunden die Freunde zu besuchen kam, fand sie Perthes nicht daheim. Er war, wie ihr der vertraute Gehilfe, ein wackerer, patriotischer Mann, mitteilte, mit den Herren von Heß, Prell, Beneke, Mettlerkamp und anderen auf dem großen Boden eines benachbarten Hauses, wo sich die Eifrigen zu versammeln Pflegten, sich in der Handhabung der Waffen zu üben, damit vorkommendenfalls es an solchen nicht mangle, die als militärische Führer auftreten könnten. Minna durchblätterte in dem Laden die mit der letzten Post eingegangenen Zeitungen, unter denen sie der Pariser Moniteur immer besonders interessierte. Der Moniteur fehlte. Der Gehilfe sagte, Frau Perthes habe die Nummer mit nach oben genommen. Minna ging, was sie auch sonst getan haben würde, zu der Freundin hinauf, die bei ihrem Eintreten eben jene Moniteurnummer, worin sie las, hastig und, wie Minna schien, mit einer gewissen Verlegenheit beiseite legte.

Das Unglücksblatt bringt wieder einmal böse Nachrichten? sagte Minna.

Wenigstens keine für uns erfreulichen, erwiderte Frau Karoline. Es prahlt, daß dem Grafen Stackelberg, den, wie Sie sich erinnern, der Kaiser Alexander schon im vergangenen Monat nach Wien geschickt hatte, die gebührende Antwort geworden sei, und Österreich fester als je an dem Bündnisse mit Frankreich halte; – ein Resultat, an dem freilich niemand gezweifelt habe, besonders, seitdem Se. Majestät die Verhandlungen in die Hände eines Mannes gelegt, den seine vornehme Geburt ebenso wie seine eminenten Fähigkeiten zur Lösung der wichtigen, ihm anvertrauten Aufgabe prädestinierten.

Frau Karoline ließ das Blatt, aus dem sie den letzten Passus vorgelesen hatte, in den Schoß sinken und sagte, ohne die Augen zu erheben:

Sie haben den Marquis d'Héricourt gut gekannt, liebe Minna?

Ja, erwiderte Minna in ruhigem Tone, trotzdem ihr das Herz plötzlich zu klopfen begann; er verkehrte viel in unserem Hause.

Und Sie interessieren sich noch immer für ihn? fuhr Karoline fort; ich meine, Sie nehmen noch immer Anteil an seinen persönlichen Schicksalen?

Gewiß, sagte Minna, mit gewaltsamer Energie die wachsende Unruhe in ihrem Busen bändigend.

Nach Frauenart, sprach Karoline weiter. Wir sind eben treue Geschöpfe, Gott sei Dank! und was uns einmal ans Herz gewachsen ist, das hat sich auch für uns ein Daseinsrecht erworben; wir hegen und pflegen es weiter, um so sorgsamer und liebevoller, wenn Zufall oder Verhängnis es auf die Seite unseres Seelenlebens gerückt haben, dahin die Sonne des Glückes nicht mehr scheint. Wir müssen ja so früh uns bescheiden lernen und das Leben lieb behalten und es heilig halten, trotzdem wir nur zu wohl wissen, daß »nicht alle Blütenträume reifen«. Sie, liebe Minna, sind früh durch die strenge Schule der Erfahrung gegangen, die für uns Frauen gleichbedeutend ist mit Entsagung. Ich weiß es. Und so schäme ich mich der Regung, die mich vorhin, als Sie eintraten, überkam, und mich dies Blatt vor Ihnen verbergen wollen hieß, weil es auch von einem Blütentraume spricht, der Ihnen nicht reifen sollte.

Sie hatte, sich erhebend, eine Stelle in dem aufgeschlagenen Blatte bezeichnet, Minna heftig in die Arme geschlossen, ihr einen Kuß auf die Stirn gedrückt und war zu dem Gemache hinaus.

Minna aber, die eine Hand auf das pochende Herz drückend, hob mit der anderen das Blatt auf und las:

»Paris, den 24. Februar.

Es wäre ebenso ein Beweis unpatriotischer Gesinnung, wollten wir den öffentlichen Angelegenheiten nicht jenes Interesse zuwenden, die sie unter allen Umständen verdienen, wie es ein sträfliches Mißtrauen in die unergründliche Weisheit unseres erhabenen Herrschers an Tag legen hieße, steigerten wir jenes Interesse zu einem Grade, welches die Teilnahme an den Ereignissen des privaten Lebens ausschlösse. Dergleichen Depravation und Verkehrung der gesunden Empfindung mag bei schwachen und unterdrückten Völkern gefunden werden; einer starken und siegreichen Nation, wie der unseren, ziemt sie nicht und wird auch, Gott sei gelobt, bei uns nicht gefunden. Einen neuen Beweis des normalen Standes unseres gesellschaftlichen und moralischen Niveaus bietet die große Teilnahme, die, man darf wohl sagen, in allen Kreisen der Hauptstadt eine gewisse, vorgestern hier – übrigens in aller Stille – gefeierte Vermählung hervorgerufen hat. Wir meinen natürlich die des Marquis Hypolit d'Héricourt mit Marguerite Silvestre, dem einzigen Kinde des bekannten Präfekten des Departement der unteren Seine. Wie wir im Vertrauen mitteilen dürfen, ist es kein Geringerer als unser erhabener Herrscher selbst, der die Verbindung des Abkömmlings eines unserer ältesten und vornehmsten Adelsgeschlechter mit der Tochter einer Familie inauguriert hat, die den ungeheuren, unter der Regierung der letzten Könige erworbenen Reichtum längst schon in den Dienst der Humanität und des Vaterlandes zu stellen lernte. Man sieht, die Verschmelzung aller Schichten der Gesellschaft zu dem korinthischen Erz einer in jedem Atom von dem heiligen Feuer des Patriotismus durchglühten Masse ist, dank der Weisheit eines Herrschers, mit dem sich an Kriegsruhm kein Cäsar, an väterlicher Fürsorge für seine ihn anbetenden Untertanen kein Augustus messen kann, nicht mehr eine Frage der Zeit, sondern eine Tatsache. – Das junge Paar ist, wie wir soeben hören, alsbald nach der Zeremonie, die in Notre-Dame stattgefunden hat, begleitet von den Segenswünschen der Ihrigen, nach Wien abgereist, wohin den jungen Gatten seine strenge diplomatische Pflicht rief, der er sich eben nur so lange entziehen durfte, als hinreichte, der zarten Pflicht des Herzens zu genügen.«


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