Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Sechstes Kapitel.

Johanna und die Magd hatten Minna nach unten geführt und ihr in das Bett geholfen; Minna hatte erklärt, daß ihr nichts weiter not tue, als Ruhe, und sie dringend bitte, sie auch nicht mit einem Worte zu stören. Johanna hatte das Mädchen fortgeschickt, sich soweit entkleidet und dann im nebenangrenzenden Zimmer, dem gemeinschaftlichen Wohnzimmer der Schwestern, beim gedämpften Scheine der Lampe zu einer Lektüre gesetzt, in der sie es nicht über die ersten Zeilen brachte. Da war heute abend unzweifelhaft zwischen Minna und Billow etwas vorgefallen – etwas ganz Besonderes und ganz besonders Bedenkliches, das sie jedenfalls hätte verhindern können, wenn sie mit Sandström am Tische sitzengeblieben wäre! Aber wer konnte denken, daß der Vater weggehen würde, nachdem sie bereits zu spielen begonnen hatten? Oder hatten sie gar nicht gespielt, sondern nur sich gezankt? Sie wollte gar nicht mehr mit dem Blondkopfe spielen, jedenfalls keine Quatremains, und am allerwenigsten sich zanken. Beim Spielen kam man so oft mit den Fingern aneinander, und, wenn sie sich zankten, blickte er ihr immer so sonderbar in die Augen, gar nicht, als ob er bös auf sie wäre – im Gegenteil! Und sie setzte den Zank fort, nur damit er sie weiter so ansah – heute abend wieder! ordentlich geleuchtet hatten seine Augen. Ach was! Des alten Samuel Hirsch Augen hatten auch geleuchtet – es gibt eben Menschen, die solche Augen haben – auch Tiere – Katzen zum Beispiel, deren Augen sogar im Dunkeln funkeln – und es wäre besser gewesen, wenn der alte Mann seine Nachricht, für die man ihm gewiß dankbar sein mußte, morgen am Tage gebracht hätte, ohne soviel schreckliche Reden zu führen, bei denen die arme Minna freilich vor Kummer und Herzeleid vergehen mußte.

Ein unterdrücktes Stöhnen aus dem Schlafgemache machte das junge Mädchen aus ihrem Grübeln aufschrecken. Ohne sich die Zeit zu lassen, wieder in die abgestreiften Pantöffelchen zu fahren, eilte sie zur Schwester.

Ich denke, du schläfst, lieb Herz!

Schlafen! ich! großer Gott! Mir ist, als könnte ich es nie wieder, oder als möchte ich ewig schlafen.

Sie hatte, sich aufrichtend, beide Arme um den Hals der Schwester geschlungen und brach in wildes Weinen und Schluchzen aus. Johanna, sie an sich drückend, ließ sie gewähren. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, daß der Ärmsten diese Tränen eine größere Linderung verschaffen würden, als Worte hervorzubringen vermöchten. In der Tat war der Sturm der Leidenschaft nach einiger Zeit gebrochen; sie weinte leiser, und jetzt hielt Johanna den Augenblick gekommen, um zu sprechen.

Worin denn nun eigentlich das Unglück bestehe, das ihre kluge, ihre tapfere, ihre starke Schwester so außer sich habe bringen können? Daß Billow endlich gesprochen – nun, es sei das ja gewiß sehr dumm von ihm, da er doch, wäre er nur halbwegs verständig, die Antwort voraussehen konnte; aber warum habe auch der Vater ihm und den anderen Freunden und Bekannten des Hauses Minnas Verlobung mit Hypolit nicht mitgeteilt, wie Minna und sie selbst ihn so dringend gebeten? Nun könne Billow immer sagen und habe gewiß heute abend gesagt: er wisse von nichts; oder: er habe wohl davon gehört, aber nicht daran geglaubt; oder geglaubt, daß er und die anderen sich in ihren Beobachtungen geirrt hätten und dergleichen mehr. Das sei ja, wie gesagt, sehr dumm und unzart und wie es Minna sonst noch nennen wolle; aber etwas so Fürchterliches könne sie beim besten Willen nicht darin sehen. Schlimmer sei ja freilich, daß Hypolit noch kein einziges Mal geschrieben habe, vielmehr kein einziger seiner Briefe nach Hamburg gekommen sei. Doch auch das erkläre sich sehr natürlich, wenn, wie doch ohne Zweifel der Fall, die Schilderung, welche Samuel Hirsch nach dem Briefe des russischen Vetters von dem Zustande der französischen Armee gemacht, auf Wahrheit beruhte. Wie solle da wohl ein so wackerer Offizier wie Héricourt die Zeit zum Briefschreiben finden? Und wie leicht könne in solchem Wirrwarr ein Brief oder könnten Dutzende von Briefen verloren gehen? Und damit werde ihr doch Minna nicht etwa kommen wollen, daß Hypolit ein Unglück widerfahren, er verwundet oder gar tot sei! Erstens habe der alte Hirsch vorhin die Sache sicher übertrieben mit seiner jüdischen Phantasie und angestachelt durch Billows Nörgeleien und Zweifelreden; sodann, läge sie wirklich so schlimm: wo ein Wille, sei auch ein Weg, sagten die Engländer. Und wenn Georg, der Deserteur, den Weg gefunden, warum solle der französische Offizier, der vornehme Herr Marquis, der notorische Günstling des allmächtigen Kaisers, ihn nicht auch finden?

Das junge Mädchen hatte so ohne Unterbrechung wohl eine Viertelstunde lang gesprochen mit, wie sie sich heimlich sagte, noch ganz ungewöhnlicher Beredsamkeit und Überzeugungskraft. Sie erschrak deshalb ernsthaft, als die Schwester, die sie völlig beruhigt zu haben glaubte, den in die Hand gestützten Kopf traurig schüttelnd, sagte: Ich danke dir, du Gute; aber du gibst dir vergebliche Mühe. Mein Unglück ist beschlossen; jeder Versuch, ihm zu entrinnen, ist vergeblich. Ich weiß es, wußte es lange vor heute abend, und ich hätte deshalb besser getan, ja zu sagen anstatt nein. Das Nein heißt nur die Kette um ein weniges verlängern, nicht sie zerbrechen. Andromeda an ihrem Felsen, für die kein Perseus kommt – kein Perseus!

Die Trauer wollte sie wieder überwältigen; aber sie kämpfte den Andrang kraftvoll nieder und fuhr, sich höher richtend und Johanna näher an sich ziehend, fort:

Was du da gesagt hast, liebes Kind, davon kam gewiß manches aus deiner Überzeugung, anderes hast du wohl nur vorgebracht, um mich zu trösten. Gleichviel: richtig und zutreffend war wenig, kaum etwas. Ich habe dich Gute nicht mit meinem Kummer belasten wollen und dir das helle Leben verdüstern. Aber ich fühle, ich muß jemand haben – eine Freundin, der ich mich anvertraue, ich habe keine bessere als meine über ihre Jahre mutige und kluge Schwester. Und nun höre zu und unterbrich mich nicht, wie ich dich nicht unterbrochen habe! – Ja, Billow hat mich heute abend um meine Hand gebeten. Ich wußte, daß er es bei der nächsten Gelegenheit tun würde; es war ganz zufällig, ob die Gelegenheit heute kam oder ein anderes Mal. Ich wußte es vom Vater. Nicht, als ob er es mir direkt gesagt hätte! Aber er hat mich heute morgen, als ich vom Markte kam, zu sich ins Kontor gerufen und mich gefragt: was ich wohl von dem Stande seiner Angelegenheiten halte? Ich erwiderte, daß ich leider nicht daran zweifeln könne, derselbe sei ein sehr schlechter und prekärer. Sehr richtig, sagte Vater, aber der Krug konnte doch noch immer zu Wasser gehen. Seit gestern, nachdem ich in der ganzen Stadt vergeblich eine Hypothek auf meine Spinnerei vor dem Brooktor aufzunehmen versucht habe, ist es aus: ich bin bankrott, völlig, schmachvoll – es sei denn, daß – hier brach er ab. Ich war so verwirrt und erschrocken, daß ich kein Wort vorzubringen vermochte. Auch Vater schwieg eine Weile, dann fing er wieder an, nun aber von mir und meiner Liebe zu Hypolit. Er werde sein Wort nicht zurücknehmen und die Einwilligung, wenn er dieselbe freilich auch sehr wider seine Überzeugung und nur auf mein Drängen und Bitten erteilt habe. Aber er habe seine Einwilligung zu einer glücklichen Verbindung gegeben, nicht zu einer, die allem Anscheine nach zu einem so traurigen Ende bestimmt sei. Er wolle nicht sprechen davon, daß keine Briefe von ihm kämen: das könne ein unglücklicher Zufall sein. Aber, ob ich mir denn klargemacht habe, daß der Marquis d'Héricourt, der selbst offen eingeräumt: er besitze nichts als seinen alten Adel und seinen Degen, jetzt nicht die reiche Hamburger Kaufmannstochter heiraten werde, sondern die Tochter des Bankrotteurs? er, der wiederum kein Hehl daraus gemacht, daß seine stolze Familie die Deutsche und Bürgerliche, wenn überhaupt, so doch sicher nur nach hartem Widerstande aufnehmen würde? Er halte sich für verpflichtet, mich, von der er wisse, daß sie selbst nicht ohne allen Stolz sei, darauf aufmerksam zu machen, nachdem nun für immer – denn unser Haus werde sich nie wieder von dem Schlage erholen – das letzte, das einzige Gegengewicht fortgefallen, das ich gegen den Stolz der Héricourts in die Wagschale hätte legen können.

Das war heute morgen; heute abend hält Billow um mich an! Kann ich einen Augenblick zweifeln, daß dies beides in Zusammenhang steht: der Vater mich auf Billows Antrag hat vorbereiten wollen, Billow den Antrag gewagt hat, weil er mich vorbereitet wußte, mein Jawort als leichte Beute davonzutragen hoffte? Ich habe nein gesagt, aber ich wiederhole: es ist nur eine Verlängerung der Kette, mit der ich festgeschmiedet bin an den Felsen einer gräßlichen Notwendigkeit. Auf der einen Seite ein Vater, der seinen Ruin vor Augen sieht, in der Angst vor einer schrecklichen Zukunft sein mir gegebenes Wort bricht; mich, deren Liebe er kennt, ausliefert an den Mann, der die Stirn hat, mir zu sagen, daß er der einzige sei, der den Vater retten könne, aber freilich nur um den Preis meiner Hand retten wolle. Auf der anderen Seite ich Ärmste, die ich mich an den Gedanken der Möglichkeit einer Verbindung klammere, von der ich mir sagen muß, daß sie unmöglich geworden ist. Und das ist das Schrecklichste noch nicht. Ach, Johanna, welch furchtbare Stunde war dies! was habe ich gelitten! Ich konnte mich nicht rein freuen über Georgs Rettung; mußte ich doch daran denken, daß er jetzt seinen Schwur eingelöst und die erste Gelegenheit ergriffen hat, die Waffen gegen den verhaßten Feind zu wenden, in dessen Reihen der Verlobte seiner Schwester kämpft. Ich möchte den Wilden schelten und kann es nicht. Wie ein Blitz fuhr es mir durch die Seele: wärst du ein Jüngling und in seiner Lage, du hättest ebenso gehandelt! Und dann der alte Mann, der die Vornehmen auf der Straße kaum zu grüßen wagt, aus Furcht, sie möchten ihm den Gruß verübeln; der sich selbst den Spott und das Hänseln des gemeinen Mannes geduldig gefallen läßt – er glüht in zornigem Eifer um das geknechtete Deutschland, für dessen Befreiung er einstehen will mit allem, was er kann und vermag, Gott bittend, an denen, die es mit den Franzosen halten, nicht heimzusuchen ihre Unvernunft und Unehrbarkeit. Hast du sie wohl gehört, die gräßlichen Worte: Unvernunft – Unehrbarkeit! Es war zu viel, zu viel! Und das unglückliche Mädchen drückte, am ganzen Körper zusammenschaudernd, das Gesicht in die Kissen.

Ei, so wollte ich doch, der alte häßliche Jude wäre auf dem Wege zu uns in die Alster geplumpst! rief Johanna verzweifelt; oder der greuliche, schmutzige Brief von dem Vetter Habakuk, oder wie er heißt, wäre in einer der vielen Taschen, durch die er gewandert ist, kleben geblieben!

Minna erhob sofort wieder das Haupt.

Du bist wie die Kinder, sagte sie, welche die Tischkanten schlagen, an die sie sich gestoßen. Was schiltst du den alten Mann, der, ohne an sich zu denken, seine menschenfreundliche Pflicht getan hat? Mich solltest du schelten, die nur an sich denkt und nicht an ihre Pflichten!

So! sagte Johanna, und gegen Hypolit hättest du keine? Auch nicht die Pflicht, dem Treue zu halten, dem du Treue geschworen?

Und wenn er selbst mich nun von meiner Pflicht löst? murmelte Minna.

Wann, wie, wodurch hatte er das getan? rief Johanna.

Minna antwortete nicht sogleich. Und dann mit dumpfer Stimme:

Es geht mir schon seit Wochen durch den Kopf. Ich habe es selbst dir nicht sagen mögen, weil ich mich im Anfange meines Kleinmuts schämte. Denn für Kleinmut hielt ich es und für eine Versündigung an ihm; und ich wußte, daß du mir das eine so wenig verzeihen würdest wie das andere, bis es immer öfter kam und mich nicht mehr losließ, Tag und Nacht, und jetzt bei mir feststeht, als wäre es da in mein Gehirn gebrannt: es ist kein böser Zufall, daß keine Briefe von ihm kommen; es können keine kommen – er hat keine mehr geschrieben.

Um Gottes willen! rief Johanna.

Keinen mehr nach dem aus Berlin, fuhr Minna in demselben gepreßten Tone fort. Du weißt ja! Und wie verzweifelt er schrieb und mich beschwor, ihm oft, so oft als möglich zu schreiben; es würden meine Briefe sein einziger Trost sein in der schrecklichen Kampagne, und daß er wieder schreiben werde, wo und wann er nur immer Zeit und Gelegenheit finde. Das war im März, heute sind wir im Oktober – sieben Monate – und keine Zeile von ihm! Das kann kein unglücklicher Zufall sein, der die Briefe verloren gehen ließ, wie doch selbst der Vater noch heute morgen annahm. Ich habe mich erkundigt. Es sind ja so manche von unseren jungen Männern in der Armee – Peter Böhm, der zuletzt bei Herrn Friedrich Perthes im Geschäft war und eine Zeitlang, du wirst dich dessen nicht erinnern, auf unserem Kontor arbeitete – ich habe seinen alten Vater gesprochen – Herrn Perthes selbst, der es doch, wenn einer, gewiß weiß. Er sagt, die Briefe aus Rußland von der Armee kamen unregelmäßig wohl und manchmal mit großen Verspätungen, aber sie kämen doch, alles in allem sogar regelmäßiger und sicherer, als die Geschäftsbriefe, was kein Wunder sei, da sie durch die kaiserlichen Feldposten befördert würden, die immer noch einen Weg fänden, wo die gewöhnlichen liegenblieben. Und das sind Briefe von gemeinen Soldaten – Konskribierten! Warum sollen sie ankommen und die eines französischen Offiziers verloren gehen – alle verloren gehen! Es ist unmöglich.

So gibt es noch andere Möglichkeiten, sagte Johanna eifrig. Er ist blessiert – er kann nicht schreiben.

Er hätte dann durch einen Kameraden schreiben lassen, erwiderte Minna, den Kopf schüttelnd. Ich habe ihm das Versprechen abgenommen, daß er das tun würde. Ich weiß, was du jetzt sagen wolltest, du gutes Kind, und nicht zu sagen wagst: so ist er tot. Er ist nicht tot. Wäre er's, ich wüßte es.

Wie denn? wie das? stammelte Johanna, die Schwester, die mit starren Augen vor sich hin wie ins Leere blickte, furchtsam von der Seite ansehend.

Ich wüßte es, wiederholte Minna, immer mit demselben gespannten Blicke. Auch das haben wir uns zugeschworen in feierlicher Stunde: es dürfe keiner von uns beiden aus dem Leben scheiden, ohne Abschied zu nehmen von dem anderen, und wären wir durch tausend Meilen getrennt. Sieh mich nicht so erschrocken an! Ich bin völlig bei Sinnen. Und es ist kein Gespensterwahn, dem ich dabei verfallen wäre. Es ist mein fester Glaube, vielmehr, es ist für mich völlige Gewißheit: ein so Großes könnte nicht eintreten, ohne daß es dem Zurückbleibenden sich ankündigte. Nein, nein, Hypolit lebt!

So liebt er dich nicht mehr, murmelte Johanna; und ich weiß nicht, ob ich nicht da an deiner Stelle wünschen würde, er wäre tot.

Um Minnas Lippen spielte ein wehmütiges Lächeln; sie streichelte sanft die braunen Locken der neben ihr Kauernden, wie eines Kindes, dem man vergeblich eine schwierige Sache klarzumachen sich bemüht.

Er ist es nicht, sagte sie, aber wäre er es: leben und einander lieben, tot sein und einander lieben, das ist für mich und Hypolit eines und dasselbe.

Dann weiß ich wieder nicht, sagte die Jüngere trotzig, weshalb du so unglücklich bist und dich so jammervoll gebärdest. Wenn du ihn liebst, dich von ihm geliebt weißt, was kannst du mehr wollen?

Ihm angehören! rief Minna leidenschaftlich, angehören mit Leib und Seele, schon hier in der Zeitlichkeit, wie die Seelen allein einander angehören werden in der Ewigkeit! Und das wird nicht sein. Er – dafür ist er ein Mann – hat es längst begriffen, hat es mich lehren wollen durch sein Schweigen eindringlicher, beredter, als alle Briefe und Worte es vermöchten: es wird nicht sein, nicht hier auf Erden! Da gehörst du deinem Vater, der seine letzte Hoffnung der Rettung vor Armut und Schmach auf dich setzt; gehöre ich meinem Kaiser, dem ich Treue geschworen habe, die ich ohne Schande nicht brechen kann, ohne doppelte Schande, nun, da er zum erstenmal auf seiner Siegesbahn das Schicksal gegen sich hat. Siehst du denn nicht, begreifst du denn nicht, wie das Unglück, das über dein Haus gekommen ist, und das Unheil, dem wir hier erliegen in der russischen Steppe, die Zeiger sind von zwei Uhren, die von derselben geheimnisvollen Kraft getrieben werden, dir wie mir gleicherweise unser Schicksal deutend? Die Not lehrt beten; sie lehrt auch denken. Wir beteten nicht, und wir dachten nicht in den Tagen des Glücks. Die Sonne schien zu hell, und die Vögel sangen zu laut – nun ist es Nacht worden, tiefe, stille Nacht. Hörst du die warnende Stimme jetzt? Du mußt sie hören – auf deinem Lager im engen Kämmerlein, beim Scheine der Lampe deutlich, wie ich sie höre hier auf öder Steppe am Biwakfeuer, an dem nur ich noch wache, deiner denkend, und über mir flimmern die ewigen Sterne –

Erwache, Liebste, erwache! rief Johanna, der Schwester, die mit geisterhaften Augen aufgerichtet im Bette saß, geängstigt die Arme um den Hals schlingend und sie an sich pressend.

Die aber drängte sie hastig von sich, vorwurfsvoll murmelnd: Warum verscheuchst du ihn mir! Ich sah ihn so deutlich!

Jetzt halt' ich es nicht mehr aus! rief Johanna, von dem Bettrande aufspringend; jetzt schicke ich zum Doktor Boutin.

Um Gottes willen! rief Minna.

Was soll ich tun? erwiderte Johanna halb weinend; soll ich dich die ganze Nacht so phantasieren und mir die Seele aus dem Leibe ängstigen lassen?

Ich phantasiere nicht, sagte Minna, fühle meine Stirn – sie ist ganz kühl. Und wenn ich dich geängstigt habe, so tut es mir herzlich leid. Das wollte ich wahrlich nicht, du liebes Kind.

Ich bin kein Kind, rief Johanna, und begreife dich soweit ganz gut, wenn du etwa meinen solltest, daß das nicht der Fall wäre. Und ich sehe auch wohl ein, daß du und dein Hypolit in einer bösen Lage seid, aus der es schwer halten wird, herauszufinden. Aber weshalb du so ganz verzweifelt zu sein brauchst, das sehe ich nicht ein. Und ich sage: das ist gar nicht meine mutige Schwester, die sich so in Schrecken jagen läßt von Vaters Lamentationen und Billows Zudringlichkeit, und weil ein alter, halb närrischer Jude seine Weisheit vor ihr auskramt. Der kommt mir nicht wieder in das Haus! Und wenn du um Vaters willen den Billow heiratest, den du nicht ausstehen kannst, und mit dem ich kein freundliches Wort wieder spreche, so heirate ich deinen Hypolit, wenn er zurückkommt – ja, ja, ich, die Kleine – la petite – Mignonne, la Rieuse, oder wie sonst der großmächtige Herr mich zu nennen beliebte, weil ich einen Finger breit kleiner bin, als meine »große Schwester«. Siehst du, nun mußt du selber lachen. Und nun gib mir einen Kuß! und wenn du in zehn Minuten nicht schläfst – Doktor Boutin, sage ich dir! Und du weißt, der spaßt nicht.

Sie umarmte und küßte die Schwester noch einmal, das schöne Haupt sanft auf die Kissen drückend. Minna ließ es geschehen und lag da mit geschlossenen Augen.

So! sagte Johanna, nun schläfst du aber auch.

Sie wartete noch ein Weilchen, dann erhob sie sich leise und schlüpfte in ihr Bett auf der anderen Seite des Zimmers.

Ob Minna ihrem letzten Befehle gefolgt war, hätte sie nicht zu sagen gewußt. Sie selbst war trotz des aufrichtigen Kummers, den sie um die geliebte Schwester empfand, nach wenigen Minuten fest entschlummert.


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