Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Achtes Kapitel.

In Tränen gebadet lehnte Minna über den Briefen, deren Lektüre sie soeben beendet hatte. Nicht ein einziges Mal hatte sie sich gefragt, ob ihr Schicksal ein anderes geworden wäre, hätte der Vater diesen ungeheuren Verrat nicht geübt. Vor einem Großen und Heiligen empfindet die fromme Seele nur demutsvollen Dank und wunschlose Anbetung, und diese Ergüsse eines edeln Geistes und reinen Herzens erschienen Minna als ein Größtes und Heiligstes. Welch hoher Adel der Empfindung! welch treuer Glaube an die Menschheit in all dem Wust und Greuel der Unmenschlichkeit! welch mannhafter Stolz! welch kindliche Bescheidenheit! – Welch herrlichste poetische Ergüsse, als wären sie aus Rousseaus geweihter Feder geflossen! welch köstlich naives Geplauder wie eines harmlosen Knaben! Und ach, was sie vor Wonne erbeben und wieder in Wehmut zerstießen machte: welche zärtliche, innige, vertrauensvolle, glaubensstarke, jetzt wie von Adlerfittichen getragene, dann wie Sommerfäden träumerisch dahinschwebende, immer gleich selbstlose Liebe!

Und wer war sie, die einer solchen Liebe gewürdigt worden war? sie in der Heftigkeit ihrer Leidenschaft, der Wandelbarkeit ihrer Stimmungen? dem hochmütigen Dünkel, der Selbstüberhebung, derer man sie und sie sich selbst so oft beschuldigte? Das Schicksal hatte es anders gewollt und sie auf ewig getrennt; aber wert wäre sie seiner nie gewesen.

Ein bitterer Trost! und doch ein Trost, an dem Minna in diesen Fieberschauern von Seligkeit und Verzweiflung gierig sog.

Und dann trat jede Empfindung zurück vor einer sich allmächtig vordrängenden: dem Verlangen, ihm nun doch noch einmal begegnen und danken zu dürfen für seine große Liebe.

Sollte sie ihn um eine Zusammenkunft bitten? Es war unmöglich; aber schreiben konnte sie ihm; schreiben und ihre uneröffneten Briefe schicken. Wessen sie sich jetzt noch aus ihnen erinnerte, es kam ihr kleinlich und ärmlich vor im Vergleiche zu dem Großen und Herrlichen seiner Briefe. Aber, daß sie ihn geliebt mit ihrer ganzen armen Seele – das stand doch darin.

Sie hatte sich hingesetzt und mit fliegender Feder geschrieben, was ihr das übervolle Herz diktierte; auch in aller Kürze, wie ein Zufall – ihres Vaters zu erwähnen, verbot ihr die Scham – die Briefe wieder an das Licht gefördert, die sie ihm nun sende, bittend, seine bei derselben Gelegenheit aufgefundenen Briefe als teures Andenken ihrer ersten und einzigen Liebe behalten zu dürfen. Eben schrieb sie die Adresse auf das kleine Paket, das sie zurechtgemacht hatte, als an die Tür gepocht wurde. Sie erschrak, als wäre sie bei einem Diebstahle ertappt, und ließ das Paketchen in die Tasche gleiten.

Es war Doktor Boutin. Er hatte sie erst vor zwei Stunden verlassen; irgend etwas, das er vergessen, ihr zu sagen, mochte ihn so bald zurückgeführt haben; aber ein Gleichgültiges konnte es nicht sein. Darum wäre er nicht gekommen, und seine Augen hätten anders geblickt. Wie ein Blitz fuhr es ihr durch die Seele: es handelte sich um Hypolit!

Sie rief es ihm entgegen; er nickte und beeilte sich, zu erwidern:

Ja, Liebste, es handelt sich um ihn. Es ist ein böser Handel, aus dem wir ihn aber ziehen werden. Und nun lassen Sie hier alles stehen und liegen und kommen Sie mit mir! Ich sage Ihnen das Nötige unterwegs. Ihre Abreise kann sich um einige Tage verzögern. Ich habe Christiansen draußen schon gesprochen, der mag dann vorläufig Neddermeyer instruieren. Es ist jetzt sieben, um acht wollte Neddermeyer kommen. Die Nacht muß er sowieso bleiben. Vielleicht auch, daß ich Sie morgen früh schon fortschicken kann.

Sie gingen durch die abendlichen Gassen. Der Doktor hatte Minna den Arm geboten, ihren eilenden Schritt zu zügeln.

Eile mit Weile, sagte er. Was hilft es, wenn wir ohne Atem anlangen, und ein bißchen zum Berichten, wie das alles gekommen ist, muß ich doch auch behalten. Er hat also einen Ehrenhandel gehabt, bei dem die Ehre allerdings nur auf seiner Seite war: mit dem schuftigen Major Lachelle nämlich, und einen häßlichen Stich durch den linken Oberarm bekommen – Verletzung einiger bedeutenden Blutgefäße et cetera, – so daß er seit gestern abend – gestern morgen ist die Geschichte passiert – in einem regelrechten Wundfieber liegt. Ich selbst bin erst seit einer Stunde au courant. Da begegnete mir der Kapitän d'Aubigny von den Chasseurs – dessen Sie sich ja erinnern müssen – er ist sein Sekundant gewesen – war auf dem Wege zu mir, den er als einen geschickten Arzt zu kennen behauptete; meinem französischen Kollegen, der unseren Patienten bis dahin behandelt hatte, vermöge er dasselbe Zeugnis nicht auszustellen. Sie können sich denken, daß ich mich nicht zweimal bitten ließ, und so fand ich ihn denn, wie ich Ihnen gesagt habe, mit einem miserabeln Verbande und ohne andere Wartung, als der eines willigen, leider völlig unerfahrenen Dieners. Er bedarf aber eines geschulten Pflegers, respektive einer solchen Pflegerin, und das sollen eben Sie sein – vorderhand, bis ich unser altes Krankenhausfaktotum, die gute Neumann, aufgefunden habe, von der ich nicht weiß, wo sie augenblicklich steckt. Wie der Handel sich angesponnen hat? fragen Sie. Nun, es ist eine alte Geschichte, die spätestens bis zu dem Tage zurückdatiert, als es dem Menschen beigekommen war, Sie zu belästigen und ihm von Héricourt die Tür Ihres Hauses gewiesen wurde. Seitdem sind sie sich aus dem Wege gegangen, auch in der Kampagne, in der sie der Zufall ein paarmal zusammengeführt hatte. Ich weiß das alles natürlich von d'Aubigny. Dann sind sie sich erst wieder hier begegnet am Tage der Ankunft Héricourts – das heißt: dem Tage vor Ihrer Affäre auf dem Wall – in der Kommandantur, als Héricourt sich dort meldete. Der Schuft hat sich ihm nähern wollen, als wenn niemals etwas zwischen ihnen vorgefallen wäre, aber eine kühle Zurückweisung erfahren, worüber er um so wütender gewesen ist, als er, der früher Héricourts Vorgesetzter war, jetzt um zwei Grade unter ihm steht. D'Aubigny sagte mir auch, daß Lachelle, der als mauvais sujet und poltron dazu in der ganzen Armee verrufen gewesen sei, längst weggejagt wäre, wenn Davoust ihn nicht gehalten hätte, der ihn zwar ebenfalls gründlich verachtete, aber als brauchbares Werkzeug zur Ausführung mancher Dinge, die einem ehrlichen Kerl zu schwer würden, nicht wohl entbehren konnte. Doch das nebenbei. Wie es Héricourt zu Herzen gegangen ist, als er Sie in der wunderlichen Situation auf dem Walle fand, das wissen wir beide. Er hat anfänglich gemeint, daß es in der leidigen Sache soweit mit rechten Dingen zugegangen sei. Nun hat sich aber der Schuft Lachelle gerühmt, er habe sehr wohl gewußt, wer die »Bürgerin Billow«, die sich als Remplaçantin ihres erkrankten Vaters gemeldet hatte, in Wirklichkeit war, und nicht nur keinen Anstand daran genommen, wie es jeder Ehrenmann an seiner Stelle getan hätte; im Gegenteil: sich köstlich darüber amüsiert und zum Überflusse dem betreffenden Profosen unterderhand zu verstehen gegeben, er werde sich freuen, wenn der Mensch Ihnen noch einen kleinen Extratort spiele. Das erfährt Héricourt. Das andere können Sie sich denken. Lachelle hat erst alles in Abrede stellen wollen; dann, als das nicht ging, in seiner gewohnten hündischen Weise um Entschuldigung gebeten, aber Héricourt sich nicht darauf eingelassen und auf dem Duell bestanden. Das hat denn, wie gesagt, gestern morgen stattgefunden, Héricourt soll seinen Stoßdegen sehr gut führen, aber Lachelle nicht gewachsen gewesen sein, der es überdies von vornherein auf den Tod des Gegners abgesehen hatte. Dennoch sind, dank der Ruhe, mit der Héricourt die wütenden Angriffe Lachelles zurückgewiesen, die beiden ersten Gänge, bis auf ein Paar Schrammen hinüber und herüber, unblutig abgelaufen, bis Lachelle, seine ganze Kunst und Kraft zusammennehmend, Héricout durch die linke Schulter gerannt hat, in demselben Augenblicke, als ihm dessen Degen durch die Brust fuhr. Zum Spaße hatten sich die beiden eben nicht gefordert, und man kann von Glück sagen, wenn nur der eine auf dem Platze geblieben ist.

Der Doktor hüstelte und fügte dann in etwas rauhem Tone hinzu:

Lachelle ist sofort tot gewesen; Héricourts Degen war ihm gerade durch sein schlechtes Herz gegangen.

Er schwieg abermals, Minna erwiderte nichts; so gelangten sie an ein Haus in der Großen Bleichen, wo Héricourt auch während seines früheren Aufenthaltes bei guten Leuten gewohnt hatte.

Da sind wir, sagte der Doktor, und nun, Liebste: Kopf oben und das Herz in beide Hände genommen!


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