Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Viertes Kapitel.

An der Schanze vor dem Dammtore arbeiteten unter der Aufsicht französischer Profose an dreihundert Menschen, von denen aber kaum zwei Drittel zu der eigentlichen Arbeiterklasse gehören mochten: Knechte aus den Vierlanden, Leute von den Speichern oder vom Hafen. Das andere Drittel war gar sonderbar zusammengesetzt aus Männern und Jünglingen, ja halbwüchsigen Knaben, unter denen kaum einer sein mochte, der vor heute oder wenigstens bevor er in die Kolonne eingestellt war, den Spaten oder die Schubkarre im Ernst gehandhabt hatte: Kaufleute, die man sonst um diese Stunde in ihren Bureaus oder auf der Börse; Handwerker, die man in ihren Werkstätten hätte aufsuchen müssen; Kaufmanns- und Handwerkersöhne, denen man gnädigst verstattet hatte, für ihre erkrankten Väter einzutreten. Denn das »Requisitionsdekret für die Arbeiter an den Festungswerken« kannte keine Exemtion vom höchsten bis zum niedrigsten Einwohner der Stadt Hamburg und ihres Gebietes; es kannte nur noch die Stellvertreterschaft. Diese aber galt nur für die Reichen, mindestens sehr Wohlhabenden; für alle anderen war sie unerschwinglich geworden, da die Requisition eben auf jeden ihre harte Hand legte, und wer einmal einen Feiertag hatte, sich das Opfer der kärglich zugemessenen Ruhe und Erholung kaum um schweres Geld abkaufen ließ.

Es mochte daher der in die Verhältnisse Eingeweihte nicht weiter staunen, wenn er neben jenen aus männlichen Individuen bestehenden Kolonnen eine kleinere Gruppe von Frauen sah. Gab es für das Requisitionsdekret keine Verschiedenheit des Standes, so sah es auch über den Unterschied der Geschlechter weg, im Falle der Hausvater, der Haussohn als Legionär zum Hochverräter geworden, oder einfach aus diesem oder jenem Grunde arbeitsunfähig war. Es hatte dann die Gattin, die Tochter, die Schwester für ihn einzutreten. Man war ja nicht ungalant; man verschonte ja das schöne Geschlecht mit den allergröbsten Arbeiten; aber zu zweien einen größeren, einzeln einen kleineren Korb voll Erde herbeizutragen, das war doch für die Weiberchen eine ganz gesunde Motion, bei der sich hübsche Formen, falls sie vorhanden, noch ganz besonders vorteilhaft präsentierten.

So scherzten ein paar Profose, die, sich auf ihre langen Amtsstocke lehnend, die Weiberkolonne beaufsichtigend, behaglich miteinander plauderten. Zu der letzteren Bemerkung aber hatte eine junge Frau Veranlassung gegeben, die heute zum erstenmal einrangiert war und trotz ihrer höchst einfachen Kleidung unmöglich aus dem niederen Stande der meisten ihrer Gefährtinnen sein konnte. Das bewiesen klärlich ihre Haltung, der Schnitt und Ausdruck ihrer Züge, die Zartheit der weißen Hände, die Schweigsamkeit, mit der sie ihrer Arbeit oblag, wem sie auch eine gelegentliche Frage ihrer Gefährtinnen willig und freundlich beantwortete.

Sie steht in der Liste nur als Minna Billow, Kaufmannsfrau, sagte der eine Profos; aber ich wette: mit der ist es etwas Besonderes.

Ist es auch, Kamerad, erwiderte der andere. Ihr Mann ist sogar Senator gewesen und ein niederträchtiger Verräter, den wir gehangen hätten, wenn er nicht geflohen wäre. Ihr Vater, für den sie heute arbeitet, wird nicht viel besser sein; ihr Bruder ist sogar Offizier in der hanseatischen Legion.

Zum Tausend, Kamerad, woher weißt du das alles?

Ich war gestern auf dem Bureau, um die Listen für heute abzuholen. Der Major Lachelle sprach mit dem Kapitän Villiers über die Dame. Die Herren genieren sich vor unsereinem nicht. Da habe ich die ganze Geschichte erfahren. Weißt du, Lambert, ich glaube, Madame hätte es besser haben können, wenn sie gegen einen gewissen Herrn etwas gefälliger gewesen wäre. Er hat mir Madame noch ganz speziell empfohlen. Du verstehst mich?

Der Major Lachelle?

Ich nenne keinen Namen.

Ist nicht nötig; ich kenne ihn von der letzten Kampagne her. Ich sage dir: das ist, um die Wahrheit zu sagen, ein – na, du weißt.

Ich glaub's gern nach dem, was ich gestern aus seinem Munde gehört habe.

Ich versichere dich. In diesem Falle freilich teile ich seinen Geschmack. Die Kleine ist wirklich scharmant.

Die Kleine? Das ist gut. Weißt du, Kamerad Lambert, daß sie einen halben Kopf größer ist als du?

Der also Verspottete, ein winziger Gascogner, reckte sich in den Hüften.

Als ob's die Länge täte! sagte er, den schwarzen Schnurrbart streichend.

Nicht immer, aber manchmal. Zum Beispiel: wenn du der einen Kuß geben wolltest – bitte dir zuvor den Korb aus, den sie trägt, und stelle dich darauf, dann wird's langen.

Gottes Tod, sagte der Gascogner, durch die weißen Zähne knirschend; ich werde dir beweisen, daß du mit deinen sechs Fuß ein Prahlhans bist.

Sei vernünftig, Kamerad! rief der Lange, dem anderen, der davon wollte, die Hand auf die Schulter legend. Das ist eine ehrbare Frau, und wir sind hier im Dienst. Wenn der Major eine Bosheit gegen sie hat, so ist das seine Sache. Ich mag ihm darin nicht zu Diensten sein, und du solltest es auch nicht. Es könnte sich herumsprechen, und der Marschall, weißt du, versteht in solchen Dingen keinen Spaß.

Hol der Teufel den Marschall, den Major, den Dienst und dich dazu! schrie der Gascogner. Jetzt ist meine Ehre engagiert. Ich lasse mich nicht so verspotten von einem Großmaul von Pariser.

Der Kleine riß sich los und hatte mit ein paar Sätzen die Kolonne der Frauen erreicht, die paarweise hintereinander die mit Erde gefüllten Körbe nach einer bestimmten Stelle des Walles trugen, und von denen die erste Hälfte bereits halbwegs die ziemlich steile Böschung hinauf war. Minna und ihre Gefährtin bildeten das vierte Paar in der Reihe. Der Kleine hatte seinen Vorteil gut wahrgenommen, indem er, von oben her, jeder der heraufkommenden Frauen gegenüber die Neigung des Terrains für sich hatte. Er ließ die drei ersten Paare an sich passieren, sprang dann in den Zwischenraum von dem dritten und dem folgenden Paare und rief: Halt! Sie haben den Korb nicht hinreichend gefüllt, Bürgerin! Ich werde Sie in sofortige Strafe nehmen.

Die Arme ausbreitend, war er im Begriff, Minna zu umfassen, als er sich hinten am Kragen gepackt und ein halbes Dutzend Schritte seitwärts geschleudert fühlte. Sich blitzschnell wendend, sobald er wieder das Gleichgewicht hatte, sah er den, der ihm den Possen gespielt: einen derben, blondhaarigen Schiffer, den ersten einer Kolonne Männer, die mit ihren leeren Karren, parallel mit der heraufsteigenden Linie der Frauen, von der Schanze herabkamen, und die er vorhin in seiner Aufregung nicht gesehen hatte. Seinen Säbel ziehend und einen Fluch brüllend, stürzte er auf den Mann zu, der ihn stehenden Fußes erwartete, ihm, als er zum Schlage aushob, in den Arm fiel, mit einem zweiten Griffe den Säbel entriß, um ihn selbst dann um den Leib zu packen und im Schwunge die Böschung hinabzuwerfen.

Dies alles war so schnell geschehen, daß die Frauen erst jetzt, als der Kleine, sich vielmals überschlagend, die Schanze hinabkollerte, aufkreischen und die Männer in ein schallendes Gelächter ausbrechen konnten. Aber schon eilten der Kamerad, der aus der Nähe, und ein paar andere, die aus einiger Entfernung Augenzeugen des Handels gewesen waren, herzu, während der Gascogner, der sich inzwischen aufgerafft hatte, mit Staub und Sand überdeckt, die Schanze emporstürmte – alle auf den Attentäter los, der sich von einem halben Dutzend Fäuste zugleich gepackt sah. Der brave Bursch, dessen Blut nun auch in Wallung gekommen war, wollte sich leichten Kaufs nicht geben. Seine Angreifer von sich schüttelnd und einen Schritt zurückspringend, ging er seinerseits zum Angriff über, wohlgezielte, gewichtige Boxerhiebe nach allen Seiten austeilend. Schon nicht mehr von seiner Partei der einzige auf dem Plane. Wenn er, als der erste, die Ungebühr des kleinen schwarzen Kerls geahndet, er hatte es nur im Sinne aller getan: in der ganzen Arbeiterschar fand sich keiner, der nicht längst gewußt hätte, wer die Dame war, die heute in ihren Reihen stand; mehr als einer unter ihnen kannte »die Frau Senatorin« von Ansehen; ein paar hatten sogar zu ihren Klienten gehört. Und die heute in einem so leuchtenden Beispiele gezeigt, daß sie, trotz ihres vornehmen Ranges, sich zum Volke rechne, nichts anderes und besseres sein wolle, als jede niedrigste Bürgerfrau – sie sollte man ungestraft von einem solchen elenden Kerl beleidigen lassen? Nein! Recht so! – Nieder mit den Schuften! – Schlagt die welschen Hunde tot! erschallte es aus der Menge, von welcher einer nach dem anderen, den Gefährten zu Hilfe kommend, sich in den mit jedem Augenblicke größere Dimensionen annehmenden Kampf stürzte. Denn jetzt hatten sich auch, von allen Seiten herbeieilend, die Aufseher sämtlicher übrigen Abteilungen um die bedrängten Kameraden geschart und ihre verhältnismäßig geringe Anzahl dadurch furchtbar zu machen gewußt, daß sie, als geübte Kriegsleute einen Knäuel bildend und sich gegenseitig die Rücken deckend, mit ihren Säbeln der Übermenge der waffenlosen Angreifer tapfer zu Leibe gingen. Dennoch würden sie ihnen, deren Wut der hartnäckige Widerstand, auf den sie trafen, und das Blut, das schon mehr als einem aus frischer Wunde troff, nur noch mehr reizten, in kürzester Frist erlegen sein, wenn sich nicht Minna von den heulenden Weibern, die sie durchaus halten wollten, losgerissen und auf die Gefahr, von beiden Seiten verletzt zu werden, zwischen die Kämpfenden geworfen hätte. Die kühne Tat machte die Angreifer zurückprallen und selbst die Angegriffenen ihre Säbel senken. Das Geschrei, das von beiden Teilen erhoben war, verstummte; Minna ließ sich den günstigen Augenblick nicht entgehen. Nach einigen Französisch zu den Aufsehern gesprochenen Worten, in denen sie sich für ihre Sicherheit verbürgte, wenn sie das Geschehene geschehen sein lassen wollten, wandte sie sich zu den anderen.

Lieben Landsleute und Leidsgenossen, rief sie, ich bitte, ich beschwöre euch, haltet Frieden! Brav ist es von euch, und ich danke euch von Herzen dafür, daß ihr eine schuldlose Frau nicht habt ungestraft beleidigen lassen wollen, aber nun ist es genug, mehr als genug. Bedenkt, daß hinter den wenigen hier Tausende stehen, die jede Unbill, die diesen geschieht, furchtbar rächen werden an euch, euren Frauen und euren Kindern. Ist das Maß unseres Unglücks noch nicht voll? Wollt ihr unseren Peinigern einen Vorwand zu neuen Grausamkeiten geben? Brand und Mord herabbeschwören auf unsere geknechtete, waffenlose Stadt? So duldet denn heute, wie ihr gestern geduldet habt, und wie ihr morgen weiter werdet dulden müssen, bis die Stunde der Freiheit schlägt für euch und alle Brüder im großen deutschen Vaterlande.

Minna hatte, während sie, zuletzt die Arme wie im Gebet erhebend, mit tönender Stimme also sprach, höher als ihre seltsame Gemeinde, nur wenig unterhalb des Wallrandes, gestanden. Es war ihr zu ihrer Freude nicht entgangen, welch tiefen Eindruck ihre Rede auf die trotzigen Gesellen machte, die eben noch in wilder Rauflust geglüht hatten und nun, die einen mit nachdenklich gesenkter Stirne vor sich nieder, andere mit ernsten Blicken ehrfurchtsvoll zu ihr aufschauten. Aber auch die Franzosen, trotzdem sie ihrer Worte keines verstanden, hatten sich – vielleicht nur verwundert über die Seltsamkeit des Vorganges – nicht geregt. Und nun kam doch, gerade als sie die letzten Worte sprach, eine Bewegung in sie: sie richteten sich straff auf und senkten, militärisch Front machend, die Säbel, alle nach einem Punkte blickend, der hinter ihr und über ihr sich befinden mußte, und wohin auch plötzlich die Blicke ihrer Landsleute gerichtet waren. Erstaunt wandte sie sich und sah etwas, das ihr das Blut im Herzen stocken machte. Um ein weniges von ihr entfernt auf der obersten scharfen Kante der Böschung stand ein französischer Offizier, der, außer daß er größer und ein paar Jahre älter schien, und eine Narbe ihm auf der linken Seite von der Stirn durch die Wange bis in das Kinn lief, völlig Hypolit glich.

Dann – mit einem zweiten Blicke in seine Augen, die mit dem Ausdrucke unendlicher wehmutsvoller Liebe auf sie gerichtet waren – sah sie, daß er es war, und dann hatte sie das Bewußtsein verlassen.


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