Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Drittes Kapitel.

Die zweite Hälfte der Fahrt, zu der man dann eine halbe Stunde später aufbrach, wurde langsamer als die erste zurückgelegt. Die Braunen hatten am Vormittage ihre frische Kraft so weit ausgerast, und Klaus Neddermeyer suchte, was seinem schweren Kopfe an Klarheit fehlte, durch Bedächtigkeit wieder gutzumachen. Warburg schlief, in Decken und Pelze gehüllt, seinen Rausch aus, meistens auf Billows Schulter, der über die ihm dadurch verursachte Unbequemlichkeit im stillen fluchte und eigentlich doch froh war, so der Pflicht, sich mit den Damen zu unterhalten, enthoben zu sein. Er fühlte, daß er nach der Szene mit Minna, durch die sein Verhältnis zu ihr in ein ganz neues Stadium gerückt schien, den rechten Ton nicht würde zu finden wissen. Da war es denn vorderhand geraten, seine Wohlmeinenheit durch zärtliche Sorge um den Schwiegervater an den Tag zu legen und sich übrigens in ein Schweigen zu hüllen, das ihm freilich wesentlich durch die Schweigsamkeit der Damen selbst erleichtert wurde, von denen Johanna ihr Unwohlsein noch nicht ganz überwunden hatte, und Minna schwerste Gedanken in ihrer Seele wälzte.

So gelangte man, nachdem längst das Dunkel hereingebrochen, an das Stadttor, das man bei der Ausfahrt nur mit Anwendung so vieler Vorsichtsmaßregeln hatte passieren können, und das sich, wie der Wirt vorausgesagt, den Heimkehrenden ohne jede Schwierigkeit öffnete. Kaum, daß der wachhabende Offizier fragte: woher die Reisenden kämen? Von einer Paßkontrolle war keine Rede. Ein höfliches: Bon soir, mesdames! bon soir, messieurs! und Klaus Neddermeyer durfte die ermüdeten Braunen wieder antreiben.

Sie haben jetzt das milde Register aufgezogen, sagte Warburg, der mittlerweile seinen Rausch ausgeschlafen hatte, lachend zu Billow, und dann, sich zu den Töchtern wendend: Kinder, wir dürfen den schönen Tag nicht so zu Ende gehen lassen. Wenn wir auch unerwartet kommen, ein Glas Punsch wird schon noch herzustellen sein. Billow kommt selbstverständlich gleich mit uns.

Billow protestierte: die Damen wären zu angegriffen. Minna bestätigte das, wenn nicht für sich, so doch für Johanna. Warburg wollte es nicht gelten lassen. Man war noch mitten im Streite, als der Schlitten vor dem Hause hielt. Billow, der herabgesprungen war, zog die Schelle. Es währte einige Zeit, bis Christiansen öffnete, ein Licht in der Hand haltend, dessen Schein hell in sein verstörtes Gesicht fiel.

Was ist geschehen? fragte Minna besorgt.

Zum Teufel, wirst du reden! rief der erschrockene Warburg.

Noch auf dem Hausflure, bevor man die vom Schlitten genommenen Sachen aus den Händen gelegt hatte, erfuhr man von dem alten Diener die böse Kunde.

Am zweiten Feiertage, bereits gegen Abend, sei plötzlich ein Polizeikommissar an der Spitze von wenigstens einem Dutzend Polizisten erschienen, der in barschem Tone nach dem Herrn gefragt habe. Auf das Bedeuten Christiansens, daß der Herr mit den Fräulein Töchtern über Land sei, habe der Kommissar unter Vorzeigung eines Stückes Papier erwidert, er habe Befehl, eine Haussuchung anzustellen, wozu Christiansen ihm sofort sämtliche Schlüssel von Schränken, Kommoden und so weiter ausliefern solle. Vergeblich seine Beteuerung, daß die Herrschaft ja selbstverständlich die hauptsächlichen Schlüssel mit sich genommen und er nur einige wenige unbedeutende in Verwahrung habe, die er dem Herrn Kommissar gern zu Gebote stelle. Der aber habe gewettert und geflucht und gedroht, alles kurz und klein zu schlagen, wenn man ihm nicht in fünf Minuten die Schlüssel schaffe; und da das natürlich nicht möglich gewesen, alsbald die Drohung zur Tat gemacht, indem sich die ganze Bande zuerst einmal in des Herrn Zimmer stürzte, mit Stemm- und Brecheisen, die sie bei sich führten, die Kasten des Pultes aufbrechend, und schließlich, da ihnen die Arbeit so noch immer zu langsam gegangen, mit einem Beile, das sie sich zu verschaffen gewußt, dreinhauend, als »wenn das schöne Möbel ein Kloben Tannenholz wäre!«

Was sollte ich tun, Herr Senator? fuhr der Alte weinerlich fort. Ich mußte von Glück sagen, wenn sie mich nicht totschlugen, denn sie waren alle betrunken, und die Herren oben aus den Bureaus, die über dem Heidenspektakel herbeigekommen waren, standen lachend dabei und hetzten die Wüteriche noch gar an. Die hätten denn auch ganz gewiß in den Zimmern der Fräulein ebenso gehaust wie hier, wenn nicht plötzlich einer gekommen wäre, der wohl ein Vorgesetzter des Kommissars sein mußte und diesen grimmig ausschalt in ihrem greulichen Kauderwelsch, das ich ja nicht verstehe, wenn sie es herunterplappern wie Wasser über ein Mühlrad. Genug, sie zogen alle wieder ab; der Herr Oberkommissarius sagte auch etwas zu mir, wovon ich so viel begriff, daß es eine Entschuldigung sein sollte, sintemal man sich nur in der Person geirrt habe, und ich konnte daran gehen, die Bücher, Briefschaften und Papiere zusammenzusuchen, die sie wie Kraut und Rüben auf der Diele durcheinandergeworfen hatten. Daß sie was mitgeschleppt haben, Herr Senator, glaube ich nicht, denn als der Herr Oberkommissarius so schalt, warfen sie alles wieder weg, wenn sie es auch schon aus den Taschen holen mußten. Dann habe ich für die Nacht, aus Furcht, sie könnten wiederkommen, aus dem, was da herumlag, drei große Bündel gemacht und zu mir auf meine Kammer genommen, von wo ich sie erst heute, als alle die Tage nichts weiter geschah, so, wie sie waren, in das Kontor hinabgetragen und dort auf einen Tisch gelegt habe, wo sie der Herr Senator, wenn Sie nachsehen wollen, gefälligst finden werden.

Warburg nahm diese Mitteilung in einer beständig sich steigernden Aufregung entgegen, die Billow ebenso unverständlich wie ärgerlich war. Man hatte ja die Sachen weder gestohlen noch verbrannt; und hätte man's getan, was konnte dem Bankrotteur groß daran gelegen sein, sein kurzes Kredit und sein langes Debet schwarz auf weiß zu haben? Und wo blieb, wenn sich der Alte so wunderlich toll gebürdete, der versprochene Punschabend, bei dem man endlich Gelegenheit gehabt hätte, die unterbrochene Szene auf dem Hofe des Gasthofes fortzusetzen.

Daran war denn freilich nicht zu denken. Warburg erklärte, keine Ruhe zu haben, bevor er den zweifellos angerichteten Schaden wenigstens übersehen könne. Billow mußte sich wohl oder übel verabschieden, kaum, daß er Zeit behielt, Minna einen Gruß an Johanna aufzutragen, die sich bereits zurückgezogen hatte, und ihr die Hand zu drücken mit einem Blicke, den er für sehr bedeutend hielt. Minna fragte dann den Vater, ob sie ihm nicht, wenn er doch die Ordnung der Papiere sogleich vornehmen wolle, dabei helfen dürfe, erfuhr aber eine so schroffe Zurückweisung, daß sie sich, weniger gekränkt, als in ernstlicher Sorge um den Aufgeregten, zurückziehen mußte. Christiansen hatte unterdessen alles herbeigeschafft, was er an Lichtern im Hause auftreiben konnte, und sie im Zimmer des Herrn entzündet, der ihn darauf verabschiedete.

Als er auf dem Flure stand, hörte er, wie der Herr hinter ihm die Tür zweimal abschloß. Als ob er sich vor mir zu fürchten brauchte! murmelte der Alte; als ob ich ihm was stehlen würde! Wo doch alles schon durch meine Hände gegangen ist! Und Geld und Geldeswert ist nicht dabei gewesen. Das kann ich vor Gott und aller Welt beschwören.

Drinnen in dem verschlossenen Zimmer aber hatte Warburg an der Tür gelauscht, bis er den Schritt des Alten nicht mehr hörte; dann war er an den Tisch gestürzt, auf dem die drei großen Pakete lagen, und hatte die sorgsam geknüpften Schnüre mit dem Taschenmesser, das ihm Billow zu Weihnachten geschenkt, durchschnitten. Das Hauptbuch, die Kladde, die anderen kaufmännischen Bücher schichtete er gleich auf einen kleinen Haufen: sie hatten kein Interesse für ihn. Es handelte sich für ihn nur um das übrige, da darin sich finden mußte, was er suchte. Aber es fand sich nicht. Natürlich hatte er es in der ersten Eile zwischen den anderen Paketen, Briefbündeln, einzelnen Briefen übersehen; es konnte ja auch auseinandergefallen sein; er erinnerte sich, daß er das große Kuvert, in das er alles gesteckt, nicht einmal geschlossen hatte.

Er begann die Nachforschung von neuem, langsamer, systematischer, jedes Paket, jedes Bündel sorgfältig prüfend, die einzelnen Briefe nach dem Inhalte ordnend, übereinanderschichtend. Er hatte die mühselige Arbeit vollendet: es war, soweit er übersehen konnte, alles da, was in dem Pulte gelegen hatte; nur nicht, was er suchte.

Ein Hoffnungsstrahl blitzte in ihm auf. Tor, der er war! Er hatte die Trümmer des Pultes, die Christiansen sorgsam in der Zimmerecke aufgetürmt, nicht durchforscht! Da mußte er ja das in die Tiefe des Pultes eingelassene geheime Schubfach unversehrt finden!

Er stürzte auf den Trümmerhaufen zu. Fast das erste, was er in die Hand bekam, war ein Kasten, auf dessen Form er nur einen Blick zu werfen brauchte, um zu wissen, daß er den Rest ruhig liegen lassen könne.

Der Angstschweiß rann ihm in kalten Tropfen von der Stirn, seine Hände zitterten. Dennoch: es mußte geschehen! zum dritten Male!

Diesmal ging es selbst über die Bücher her, die er vorhin beiseite gelegt, und die er jetzt Blatt für Blatt umschlug, trotzdem er sie bereits wie toll geschüttelt hatte, und es eine bare Unmöglichkeit war, daß zwischen den Blättern noch etwas steckte. Dann kam wieder das übrige an die Reihe; aber bereits begannen seine Gedanken sich zu verwirren. Hatte er dies Paket nicht eben als unverdächtig links aus der Hand gelegt? Wie kam es dann wieder nach rechts? Oder war alles, was rechts lag, das bereits Durchsuchte, und lag links das andere?

Er war zu Ende mit seiner Kraft; er mußte es aufgeben. Mitternacht war längst vorüber. Morgen vielleicht –

Er hatte es vor sich hingemurmelt, während er mit schlaffen Gliedern und schmerzendem Rückgrat in dem Lehnstuhle hing, und dann lachte er laut auf. Er war sicher, daß er morgen so wenig wie heute Héricourts und Minnas Briefe finden würde, die er unterschlagen und die das Geheimfach des zertrümmerten Pultes nun doch herausgegeben hatte.


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