Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Fünfzehntes Kapitel.

Sie hatte das Buch unter den vielen, die in schönen, völlig gleichmäßigen Einbänden die verschnörkelten Repositorien des Bibliotheksaales schmückten, mit freudigem Schrecken entdeckt. Wußte sie doch, daß es sein Lieblingsbuch war, in welchem sie noch nie eine Zeile gelesen! Er hatte sie vor ihm gewarnt: es sei keine Lektüre für ein junges Mädchen, dem man die Illusionen nicht vor der Zeit rauben dürfe. – Nun, sie hatte keine Illusionen mehr zu verlieren; sie glaubte die Welt zu sehen, wie sie ist, strebte danach wenigstens mit allen Seelenkräften; so mochte sie denn getrost die geheimnisvollen Siegel auch dieses Werkes lösen.

Des wundersamen Werkes, dessen leidenschaftgetränkte Blätter sie nun nimmermüden Auges durchflog, während draußen der Wintersturm heulte und drinnen in dem hohen Kamin zwischen den das Gesims tragenden Karyatiden die Flamme knisterte; des unsterblichen Werkes, geschrieben von einem, dem ein Gott gab, mit Engelzungen zu reden, und dem doch nichts Menschliches fremd war; der, ach, so oft den Tribut der Menschheit in brennenden Tränen der Scham, in wütenden Selbstanklagen zahlen mußte, den Liebenden gleich, die er nach seinem Bilde schuf! Mit wie tausend beredtesten Worten sie einander und sich selbst glauben zu machen suchen, daß sie, von allem Erdenleid gelöst, in der Tugend elysäischen Gefilden wandeln – der Schatten des verlorenen Glückes, er wandelt mit ihnen, er fällt vor ihnen her auf ihre sonnigsten Pfade, Armer St. Preux! die Geliebte ist die Gattin »des Besten der Männer« seit zehn Jahren, die Mutter dreier blühender Kinder. Du bist der Busenfreund ihres Gatten, der Erzieher ihrer Kinder; sie selbst und du, ihr habt euch geschworen, einander Bruder und Schwester zu sein! Und du brauchst nur auf einer Reise ein gewisses Gastzimmer zu betreten, das du auf Stunden innegehabt in der Zeit, als du noch der einzig Geliebte warst und: »Zehn Jahre sind aus meinem Leben verschwunden; all mein Leid seitdem vergessen. – Vergessen? wenn der nächste Augenblick mir die Last des Leides zwiefach wiedergibt?« – Unglückliche Julie, doppelt unglücklich, die du von dem Geliebten für glücklich gehalten wirst, selbst bekennst, daß dir der Himmel nichts zu wünschen übriggelassen, und in der Fülle deines Glückes wohlbedächtig das furchtbare Wort schreiben kannst: »Mein Glück langweilt mich.«

Und das war nicht St. Preux, das war nicht Julie d'Etange, das war Hypolit d'Héricourt, das war sie selbst! Das Weltkind Claire mit ihrem Lachen und Weinen in einem Atem, das war nicht die von der Heldin »unzertrennliche Cousine«, es war leibhaftig ihre Schwester Johanna; der Baron, der das Glück seiner Tochter den eigenen Interessen so resolut zum Opfer bringt – es war ihr leibhaftiger Vater! Und wenn Theodor Billow und Monsieur de Volmar noch so himmelweit verschiedene Naturen sein mochten – in dem einen Umstande glichen sie sich völlig: sie begehrten, sie nahmen ein Mädchen zur Gattin, von dem sie wußten, daß es einen anderen liebte, für sie im besten Falle nie etwas anderes empfinden würde, als Achtung und Freundschaft!

Im besten Falle? Wenn aber der schlimmere eintrat? wenn – nein, daran durfte sie nicht denken, so wenig, wie sie sich in jedem Punkte mit Julie vergleichen mochte. Hätte sie ihrem Hypolit jemals, wie Julie dem St. Preux, wenn auch in einem von der Kirche nicht geheiligten Bunde, voll angehört, nun und nimmermehr würde sie eines anderen Gattin geworden sein, und hätte er tausendmal die Philosophie und die Tugenden des Herrn von Volmar besessen! Und nun und nimmermehr – wäre sie dem Zwange der Verhältnisse bis zu diesem schmachvollen Maße erlegen – hätte sie den Geliebten ihrer Jugend zum Augenzeugen ihres ehelichen Lebens gemacht!

Wenn Minna auf solche Dinge stieß, die ihrer reinen Seele als Abscheulichkeiten erschienen, dann mochte es wohl geschehen, daß sie, von ihrem Sitze in die Höhe fahrend, mit verschränkten Armen und stammenden Augen in dem Gemache auf und nieder schritt, entschlossen, auch nicht eine Zeile mehr in dem entsetzlichen Buche zu lesen, um sich wenige Minuten später wieder in dem phantastischen Zaubernetz verstrickt zu finden, aus dem kein Entrinnen war, wie aus der Welt, die es mit seinen Gedanken umspannte.

Und wie hätte sie auch der magischen Anziehungskraft eines Buches widerstehen können, in dem dann wieder ganze Seiten kamen, .die der Geliebte und sie selbst mit ihrem Herzblute geschrieben zu haben schienen? Wahrlich, es bedurfte keiner Phantasie, sich einzubilden, das stehe nicht seit so vielen Jahren gedruckt, sondern sie lese es tränenden Auges in der schönen Handschrift des Geliebten aus einem Briefe, den sie eben erhalten: »Gestern abend kam ich in Paris an, und der, welcher nicht leben zu können glaubte, wenn er zwei Straßen von Dir entfernt war, ist es jetzt um mehr als hundert Meilen. Beklage mich! beklage Deinen unglücklichen Freund! Hätte mein Blut in langen Strömen diesen unendlichen Weg bezeichnet, er würde mir weniger lang erschienen sein. Ach! kennte ich doch wenigstens den Augenblick, der uns wieder vereinigen soll, wie ich die Entfernung kenne, die uns trennt, ich würde an jedem der verlorenen Tage die Schritte zählen, die mich wieder zu Dir tragen! Aber diese Schmerzensbahn ist mit der Finsternis der Zukunft bedeckt, und ihr Endpunkt entzieht sich meinem trüben Blick. O Zweifel! o Qual! Mein unruhig Herz sucht Dich und findet nichts. Die Sonne geht auf und bringt mir keine Hoffnung, Dich zu sehen; sie geht unter, und ich habe Dich nicht gesehen; meine freudlosen Tage verrinnen in eine ewige Nacht ... Geliebte, zärtliche Freundin meines Herzens, auf welches Leid muß ich mich gefaßt machen, wenn es meinem vergangenen Glücke gleichkommen soll?«

Und war dies nicht ihre verzweiflungsvolle Antwort auf den trostlosen Brief?

» ... Du weißt, welchen Gatten mein Vater mir bestimmt hat; Du kennst die Bande, in denen mich die Liebe hält. Gehorsam und Treue legen mir entgegengesetzte Pflichten auf. Soll ich dem Zuge meines Herzens folgen? Wem soll ich den Vorzug geben? Dem Geliebten? oder dem Vater? Ach! höre ich nun auf die Stimme der Natur, oder der Liebe, dem einen und dem anderen bringe ich Verzweiflung. Indem ich mich der Pflicht opfere, begehe ich ein Verbrechen; und welchen Entschluß ich auch fasse; lebend und sterbend werde ich zugleich unglücklich und schuldig sein.«

Minna schloß den Band und starrte vor sich nieder, bei sich den letzten Satz wiederholend: »Lebend und sterbend werde ich zugleich unglücklich und schuldig sein.« – Nein, so war es nicht. Unglücklich? Gott wußte es, wie sehr! Aber schuldig? doch nur in dem Falle, wenn man, wie St. Preux und Julie, die Hoffnung nicht aufzugeben vermag, sich noch einmal im Leben zu begegnen und »geschwisterlich« nebeneinander hinleben zu wollen. Dann, freilich schuldig, doppelt und dreifach schuldig der feig verratenen Liebe. Aber nicht, wenn die moralische Unmöglichkeit des Wiedersehens für die Liebenden feststeht in der klaren Erkenntnis, daß Gott sie für dies Leben geschieden hat, um sie in jenem, das da kommen wird, desto herrlicher zu vereinigen.

Sie erhob sich und stellte das Buch an seinen Platz in dem Regale, aus dem sie es vorhin nur herabgenommen, jene Stellen noch einmal zu lesen. Zum letzten Male. Der fahle Tagesschein war im Erlöschen, und morgen in der Frühe sollte nun, da das Wetter sich aufgeklärt und der Schnee sich gesetzt, die solange hinausgeschobene Abreise endlich vor sich gehen.

An der Tür, die auf den Hauptflur führte, wurde leise gepocht. Ein bitteres Lächeln zuckte um ihre Lippen. Wie denn? so zaghaft, wenn man als Gläubiger kommt, zu fordern, worauf man ein wohlerworbenes Recht hat?

Nur herein! sagte sie laut und fuhr, als Billow wie zögernd die Tür öffnete und langsam in das Gemach trat, fort: Fürchten Sie nicht, daß Sie mich stören, ich habe Sie erwartet.

Das freut mich, erwiderte Billow, das heißt, nur in dem Falle, daß – aber es ist ja beinahe finster hier. Verstatten Sie, daß ich Licht bringen lasse!

Minna hatte sich gesetzt und deutete auf einen Stuhl in ihrer Nähe.

Weshalb? sagte sie. Zu dem, was wir uns zu sagen haben, bedarf es des Lichtes nicht; es sei denn eines, das nicht von außen kommt.

Billow war ihrem Winke gefolgt und hatte Platz genommen, während er sich heimlich sagte: Dies endet nicht gut. Mach, daß du fortkommst! oder bringe etwas Gleichgültiges vor! – In demselben Momente aber fragte er sich schreckensvoll, was er denen sagen sollte, die da wußten, in welcher Absicht er nach oben gegangen war? Und dann suchten seine Blicke in dem Halbdunkel die reizenden Formen zu erspähen, in deren Betrachtung er schon so oft geschwelgt, die genießen zu wollen er sich zugeschworen hatte anfangs in rasender Liebesleidenschaft, später in knirschendem Haß. Und jetzt? Hätte es sein Leben gegolten, er würde darauf eine bestimmte Antwort nicht gehabt haben. Er wußte nur das eine: das schöne, stolze Mädchen sollte ihm gehören – um jeden Preis.

Es waren nur Sekunden gewesen, daß ihm das alles durch den Kopf geschossen; ihm aber schien es, als wäre darüber eine unschicklich lange Zeit vergangen. So sagte er denn atemlos hastig, als handle es sich um eine verspätete Botschaft:

Fräulein Minna, Sie wissen, weshalb ich komme. Nach dem, was an jenem Abend zwischen uns vorgefallen ist, sollte ich vielleicht nicht wiedergekommen sein. Aber es ist viel Zeit seitdem vergangen. Sie werden mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen: ich habe diese Zeit redlich benutzt, mir bei Ihnen Verzeihung zu erwirken für mein damaliges Betragen, das mir selbst hinterher bitter leid getan hat. Und nun komme ich eben, zu fragen, ob mir das gelungen ist, ob Sie inzwischen eine bessere Meinung von mir zu fassen vermochten, mich nicht mehr für den egoistischen Menschen halten, als der ich Ihnen an jenem Abende erscheinen mußte; mit einem Worte, ob –

Ich Ihre Gattin werden will, ergänzte Minna den Satz.

Er hatte ihn nicht vollenden können, weil ihm die Kehle plötzlich wie zugeschnürt gewesen war, und sie hatte es so ruhig gesagt, so fest und so kühl! Und jetzt wußte er ganz bestimmt, daß das, was da in ihm gärte, nicht Liebe war; daß er und sie nun und nimmer zueinander gehörten; daß ihre Vereinigung ein Kampf und in diesem Kampfe sie von beiden die Stärkere sein würde. War sie es doch bereits in diesen Augenblicke, indem sie das entscheidende Wort sprach, das ihm zugekommen wäre, und damit bewies, daß sie sich von vornherein über den eigentlichen Zweck dieser Winterreise völlig klar gewesen war, er mithin die kritische Frage ebensowohl Knall und Fall am ersten Abend hätte stellen können, wie jetzt nach so langem, kläglichem Zaudern am letzten.

Und welche ist Ihre Antwort, Fräulein Minna?

Wieder war es sehr dumpf und unsicher herausgekommen, und wieder war der Ton ihrer Stimme ruhig, fest und kühl, als sie erwiderte:

Ich will es Ihnen sagen nach meinem besten Wissen und Gewissen. Sie haben mir die Ehre erwiesen, sich um meine Hand zu bewerben bereits zu einer Zeit, als mein Herz noch frei war. Es ist Ihnen nicht unbekannt, daß dann eine Zeit kam, in der es nicht mehr frei war und Sie auf Ihrer Werbung nicht länger bestehen mochten. Heute erweisen Sie mir die Ehre zum zweiten Male. Es ist meine Pflicht, Ihnen zu sagen: mein Herz hat seine Freiheit nicht wiedergewonnen, kann sie niemals für dies Leben wiedergewinnen. Aber es sind seitdem Umstände eingetreten, die ich zu würdigen weiß, und die mir den Sinn so weit gewandelt haben, daß ich Ihnen heute immer noch nicht mein Herz, wohl aber meine Hand zu bieten vermag. Ich verstehe das aber so: ich will, wenn Sie mich unter dieser Bedingung – bedenken Sie wohl, unter dieser Bedingung! – zur Gattin haben wollen, Ihre Gattin sein, die nie vergessen wird, welchen großen Dank sie dem Retter ihrer Familie schuldet und sich redlich bemühen wird, diesen Dank gegen Sie abzutragen durch treue Erfüllung ihrer Pflichten jederzeit. Sie kennen mich hinreichend, um zu wissen, daß ich nichts verspreche, als was ich mir reiflich nach allen Seiten überlegt habe, und wovon ich überzeugt bin, daß ich es halten kann, womit denn wiederum gesagt ist, daß ich es halten werde. Dies ist meine Antwort. Wenn Sie mir erwidern: dann muß ich auf Ihre Hand verzichten, so haben Sie dazu gewiß das vollste Recht, und ich glaube, wäre ich an Ihrer Stelle, ich würde von diesem Rechte Gebrauch machen. Aber verhehlen darf ich auch nicht: diese Ihre Antwort würde mir keine Freude bereiten, sondern aufrichtigen Schmerz um meiner Familie willen, die dann in jedem Sinne Ihre Schuldnerin bleibt; um meiner selbst willen, die ich mich so der einzigen Möglichkeit beraube, zu beweisen, daß mein Dank gegen unseren Retter keine hohle Phrase ist, vielmehr der ehrliche Wille: wie er von uns ein schwerstes Unglück abgewandt hat, zu seinem Glücke beizutragen, was in meinen Kräften steht.

Sie hatte ihm bei den letzten Worten ihre Hand entgegengestreckt zur Bekräftigung dessen, was sie gesagt, keineswegs in der Meinung, daß er nun mit dem Gesagten einverstanden sein müsse, im Gegenteil einer Antwort seinerseits gewärtig, die, in welchen Ausdrücken immer, auf eine Verzichtleistung hinauslaufen würde.

So erschrak sie denn heftig über den Kuß, den sie in dem nächsten Moment auf ihrer Hand fühlte, und der noch ein paarmal leidenschaftlich wiederholt wurde, als er ihr mit einigen gemurmelten Worten, die sie nicht verstand, zu Füßen stürzte. Kaum, daß es ihr gelang, den Angstschrei, der ihr aus der Kehle wollte, zu unterdrücken, indem sie sich jäh erhob und, an allen Gliedern zitternd, die Hand, die er geküßt, und die sie ihm entzogen hatte, von sich streckte, wie ein Glied, das ihr nun nicht mehr gehöre. Sie wollte rufen: was ich da vorhin gesagt, es ist nicht wahr, ich nehme es zurück: ich kann die Ihre nicht sein, unter keiner Bedingung! Aber die ungeheure Erregung lähmte ihr die Zunge. In dem nächsten Augenblicke wurde die Tür, die, von ihr unbemerkt, bereits seit ein paar Minuten leise geknarrt hatte, ganz aufgetan, und Johanna stürzte herein, erst sie, dann Billow umarmend, rufend: Kinder, ich konnte es nicht länger aushalten! Ihr spannt den Menschen ja auf die Folter. Komm herein, Oskar! – Auch der Vater? natürlich! – Und Georg! – Kommt nur alle herein und helft mir gratulieren! Die beiden sind einig! Zwei Brautpaare unter einem Dache! Das soll ein vergnügter Abend werden!


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