Friedrich Spielhagen
Noblesse oblige
Friedrich Spielhagen

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Fünftes Kapitel.

Die Blicke der kleinen Gesellschaft waren erwartungsvoll auf den alten Mann gerichtet, der mit halb geschlossenen Augen dasaß, bald einen, bald den anderen Finger der verrunzelten, schwärzlichen Händchen, die er über den spitzen Knien gefaltet hielt, flüchtig bewegend, als kalkuliere er, wie er sein Gewerbe am schicklichsten anbringen könne, Jetzt mußte er sich schlüssig gemacht haben. Das gesenkte, kahle Köpfchen hebend und die dunkeln, seltsam glänzenden Augen freundlich erst auf die Mädchen, dann auf Warburg richtend, sprach er:

Ich habe heraussagen lassen, ich sei der Bringer guter Botschaft. Ich denke, Sie werden Samuel Hirsch nicht Lügen strafen, wenn er meldet: der wackere Sohn dieses Hauses hat seinen Feinden zu entrinnen gewußt und ist wohl verborgen in Twer bei guten Leuten, die dafür sorgen werden, daß er ohn' Gefähr wieder zurückgelangt in seine Heimat und sein elterliches Haus: zu dem Vater, zu den Schwestern, zu den Freunden.

Der alte Mann lächelte; er hatte Ursache, mit der Wirkung seiner Botschaft zufrieden zu sein: Warburg war in freudigem Schrecken von seinem Sitze in die Höhe gefahren; Minna hielt die jüngere Schwester, die ihr schluchzend um den Hals gefallen war, umschlungen; auf den Gesichtern der beiden jungen Männer stand wenigstens die lebhafte Teilnahme deutlich geschrieben.

Woher – von wem wissen Sie es? fragte Warburg dringend, indem er dem Alten die bebende Hand auf den Arm legte; ist es sicher?

Sicherer wie der Hamburger Schatz in der Bank, erwiderte Samuel Hirsch. Ich will dem Herrn Senator, den guten Demoiselles und den ehrenwerten Freunden ausführlich, der Wahrheit gemäß, berichten, wie ich und durch wen ich meine Nachricht habe. Dabei ich mir denn aber das Versprechen erbitten muß, über alles, was ich sagen werde, bis auf weiteres das tiefste Stillschweigen zu beobachten, wenn Sie so gütig sein und einen alten Mann, dazu sich selbst, nicht in schlimme Verlegenheit bringen wollen.

Ich verspreche es Ihnen im Namen von uns allen, sagte Warburg.

So hören Sie!

Der alte Mann hatte aus der Innentasche seines langen schwarzen Rockes erst eine große Hornbrille genommen, die er sich auf die Nase klemmte, dann einen Briefbogen, den er jetzt langsam entfaltete.

Die Herrschaften könnten es nicht lesen, sagte er, auch wenn es nicht hebräisch wäre: der arme Brief hat sich gar viel gefallen lassen müssen auf der langen Reise, aus einer Hand in die andere, aus einer Tasche in die andere.

In der Tat war der Brief, den er nun aufgeschlagen in einiger Entfernung von sich hielt, trotz des starken, groben Papiers bös zerknittert und mit argen Flecken betupft. Johanna hatte geschäftig die beiden Lichter bis an den Rand des Tisches vor den Platz des Alten gerückt. Der aber nickte der jungen Schönen dankend zu und fuhr, von Zeit zu Zeit in den Brief blickend, also fort:

Dieses ist geschrieben von meinem Vetter Isaak, welcher ist ein Handelsmann in Twer, einer Stadt, die liegt dreißig Meilen von Moskau auf der Straße nach Nowgorod und Petersburg, am zwanzigsten September, also daß er ist gewesen nur vier Wochen unterwegs.

Unmöglich! rief Billow, unsere Briefe –

Gehen mit der Post, unterbrach ihn der alte Mann, und kommen an oder kommen auch nicht an; unsere gehen nicht mit der Post, aber sie kommen uns sicher zu Händen.

Weiter, weiter! rief Johanna.

Der Alte schlug die glänzenden Augen zu dem jungen Mädchen auf, als ob er sagen wollte: Ich bin nicht schuld an der Unterbrechung, und hob von neuem an:

Es ist aber gewesen zehn Tage nach einer Schlacht, welche geschlagen ist bei Borodino zwischen den Russen und den Franzosen am siebenten desselben Monats, als sich hat ergossen über Twer eine große Schar Russen, die aus der Schlacht gekommen sind auf dem Rückzüge nordwärts. Unter denen hat sich befunden ein junger Deutscher, welchen der Allbarmherzige geführt hat in das Haus meines Vetters, eines liebreichen Mannes, der schon oft gewesen ist hier in Hamburg, und alle Firmen kennt auf hiesigem Platze. Dem hat sich der Jüngling anvertraut: seinen Namen und seine Sippe und woher er stamme, und daß er desertiert sei von den Franzosen in der Schlacht vor Smolensk, die er mitgekämpft habe bereits für die Russen gegen die Franzosen, ebenso wie hernach die bei Borodino, wo er ist geworden verwundet – nichts Schlimmes, meine liebwerten Demoiselles, nichts Schlimmes! Eine Wunde im Oberarm, die geheilt sein wird in vier Wochen, wofür sich verbürgt meines Vetters Schwager Jakob, welcher ist ein großer Arzt. Ach, liebwerte Demoiselles, es sind noch gar viele, viele Verwundete in Twer, die nicht werden geheilt werden in vier Wochen, und –

Der alte Mann starrte vor sich hin und begann nach einer kleinen Pause abermals leisen, wehmütigen Tones:

Liebwerte Demoiselles und sehr geehrte Herren, ich will Sie nicht behelligen mit einer Schilderung des Kriegselends da hinten in Rußland, wie ich könnte, wollte ich Ihnen übersetzen den ganzen Brief. Es ist eben eine schlimme Zeit, in der wir leben, da des Herrn Hand schwer liegt auf allen Völkern, und jeder einzelne unter uns sagen möchte mit dem unsträflichen Hiob: »Schrei' ich zu dir, so antwortest du mir nicht; trete ich hervor, so achtest du nicht auf mich. Du bist mir verwandelt in einen Grausamen und zeigest deinen Grimm an mir mit der Stärke deiner Hand.« Aber seien wir getrost! es steht auch geschrieben in demselben Buche: »Ich zerbrach die Backenzähne des Ungerechten und riß den Raub aus seinen Zähnen.«

Er hatte bei den letzten Worten die Stimme abermals erhoben, und die großen Augen, von denen er bereits die Brille wieder entfernt hatte, leuchteten in einem seltsamen Feuer. Nun strich er sich, wie aus einer Vision erwachend, ein paarmal mit der Hand über die buschigen Brauen und sagte, den Brief sorgsam zusammenfaltend und in die Tasche steckend, lächelnd:

Hätte ich alter, schwachköpfiger Mann beinahe vergessen zu melden, was den Herrn Vater und die Demoiselles Schwestern und die Herren Freunde am meisten erfreuen wird: Mein Vetter Isaak hat abgenommen dem Jüngling das Versprechen, daß er sich nicht wieder stürzen will in den grausamen Krieg, wo er nicht sterben würde eines ehrlichen Todes, fiele er je in die Hände seiner Feinde, sondern, daß er will zurückkehren, sobald er ist von seiner Wunde genesen, auf sicherer Straße, die ihm offenbaren wird mein Vetter, in sein Vaterland, wo er alsdann streiten mag, als ein Rechtschaffener und Untadliger, gegen den Widersacher seines Volkes und der Menschheit.

Der Alte hatte den letzten Knopf des langen schwarzen Rockes über der eingesunkenen Brust geschlossen und sich erhoben. Die anderen waren mit ihm aufgestanden. Warburg hatte ihm die Hand gereicht mit flüchtigem Druck. Desto höflicher und wortreicher waren seine Danksagungen. Der Alte wehrte verlegen ab, neigte dann aber willig das kahle Köpfchen zu Johanna, die von der anderen Seite lebhaft auf ihn einsprach. Minna stand etwas seitwärts, blaß, mit niedergeschlagenen Augen, in sich versunken. Billow, der sie schweigend beobachtet hatte, trat an sie heran und sagte mit einem unholden Lächeln, laut genug, daß es auch die anderen hören möchten:

Sie scheinen an der allgemeinen Freude nur einen mäßigen Anteil zu nehmen, Fräulein Minna.

Das junge Mädchen zuckte leicht zusammen und streifte schweigend den Vermessenen mit einem unwilligen Blicke, was diesen nur noch mehr reizte.

Aber Sie denken wohl daran, sagte er, wie unmöglich es ist, daß Georg, auch wenn er genesen ist, hierher zu uns nach Hamburg zurückkehrt, wo Monsieur d'Aubignac ihm einen schönen Empfang bereiten würde. Nun, so bleibt er eben in Schweden, oder in England, oder wo er sich sonst vor der französischen Polizei sicher weiß, und wartet, bis die Luft in Deutschland wieder rein ist. Ich fürchte freilich, er dürfte darüber zum alten Manne werden.

So sollte ein Patriot nicht reden.

Billow fuhr herum und stierte Herrn Hirsch, der diese Worte gesprochen, zornig an.

Sie erlauben sich – rief er.

Bitte um Verzeihung, sagte der alte Mann ängstlich, ich wollte nicht beleidigen – weiß doch alle Welt, daß Herr Theodor Billow ist ein guter Patriot! Und wenn er gesagt, was er gesagt, so ist es, weil er wohl weniger kennt die wahre Lage der Dinge und nicht weiß, was ich weiß – nicht aus eigener Klugheit, sondern ebenfalls durch meinen Korrespondenten aus Rußland.

Und er legte die Hand auf die Stelle, wo der Brief unter seinem Rocke verborgen war.

Billow lächelte verächtlich. Was können Sie wissen, rief er, was wir nicht wüßten, auch wenn Ihr Brief wirklich ein bißchen schneller gegangen ist, als die kaiserlichen Bulletins?

Er ist gegangen schneller, erwiderte Hirsch, und er enthält, was die kaiserlichen Bulletins nicht enthalten: die Wahrheit.

Mag sein, rief Billow, in den Details! Mein Gott, so dumm sind wir auch nicht, daß wir nicht wissen sollten, wie solche Bulletins gemacht werden, und daß die Dinge in Wirklichkeit nicht ganz so glatt gehen und so rosig aussehen. Das ändert nur leider in der Hauptsache nichts. Oder wäre die Schlacht von Borodino, von der Ihr Vetter schreibt, etwa nicht von den Franzosen gewonnen worden?

Sie ist von ihnen geworden gewonnen, sagte Herr Hirsch.

Und wäre etwa der Kaiser nicht sieben Tage später, am vierzehnten, in Moskau eingezogen?

Der Kaiser ist eingezogen in Moskau am vierzehnten, erwiderte der Alte.

Nun also, rief Billow triumphierend, was prahlen Sie denn von Dingen, die Sie wüßten und wir nicht!

Der Alte stand da mit niedergeschlagenen Augen. Auf dem blassen, mageren Gesichtchen zuckte es hin und her; den nervös fingerierenden Händen schien der breitrandige, niedrige, schwarze Filzhut jeden Moment entgleiten zu wollen. Dann blickte er auf und sagte, Billow fixierend, ruhig mit sanfter Stimme:

Ich will nicht gehen aus diesem Hause als einer, der mit grauen Haaren als ein Tor erfunden ist. Was Sie wissen und alle Welt weiß von dem Stande der Dinge in Rußland durch die Zeitungen und die Bulletins, ist eitel Lug und Trug, was soll streuen den Menschen Sand in die Augen und sie blind machen, solange es geht. Es wird nicht mehr lange gehen. Die große Armee ist keine große mehr, sondern eine, die durch die Schlachten, durch Krankheit und jegliche Not des Leibes und der Seele zusammengeschmolzen ist zu kaum einem Viertel von dem, was sie war, als sie im Frühsommer ging über die russische Grenze. Der Kaiser Napoleon ist eingezogen in Moskau; aber er hätte sich ebensogut betten können in der Hölle. Die Stadt brennt – will sagen: hat gebrannt, als mein Vetter expedierte seinen Brief – an allen Ecken, und die Russen selbst haben sie angezündet. Die große Armee, die geworden ist eine kleine, wird antreten müssen den Rückzug oder hat ihn jetzt schon angetreten durch ein Land, in welchem verwüstet ist vorher und nachher alles, was sie auf dem Durchzuge nicht selbst verwüstet hat – die Hunderte von Meilen umdrängt, umschwärmt von erbitterten Feinden – eine gräßliche Beute des Hungers, der Krankheiten und der Kälte. Also schreibt Isaak Jakobsohn von Twer; und er ist ein weiser Mann, ein bedächtiger Mann, der die Worte abwägt, die er sagt oder schreibt. Ja, verehrter Herr Warburg, liebwerte Demoiselles und würdige Herren, wohl haben Sie Ursache, den Allmächtigen zu loben und zu preisen, daß er errettet hat den Sohn und Bruder und Freund aus dem Höllenrachen, der sich aufgetan, so vieler Mütter Söhne zu verschlingen ohne Unterschied: den Tapferen und den Feigen, den Guten und den Schlechten, den Gerechten und den Ungerechten.

Ich habe nichts dagegen, rief Billow; mögen sie sterben und verderben, einer wie der andere! und serves them right! Ich muß mich nur wundern, daß Herr Samuel Hirsch ein so enragierter Franzosenfeind ist.

Weil der Hirsch ist ein Jud'? erwiderte der alte Mann erregt, und der Jud' hat kein Vaterland? Oh, wie sehr irren Sie sich, mein Herr! Wohl hat der Jud' ein Vaterland, wenn seine Väter auch nicht sind geboren und er selbst nicht ist geboren im selbigen Lande. Sondern ist gekommen in das Land, ein armer Jüngling, wie ich gekommen bin nach Deutschland in meinem achtzehnten Jahre und hierher in unsere gute Stadt Hamburg, die mir gegeben hat Obdach und Schutz, daß ich nachgehen konnte meinem Gewerb und finden mein Brot und drei Jahre später heimführen aus dem fernen Brody meine Sara, die mir geboren hat sechs Kinder, so wir aufgezogen haben in Ehrbarkeit nach dem Gesetz unserer Väter und in Liebe zu der Stadt, welche nun doch wahr und wahrhaftig ist ihre Vaterstadt. Der wiedergeben möge Gott der Gerechte ihren alten Glanz und ihre Herrlichkeit, wie es ist mein tägliches Gebet und meiner Sara und meiner Kinder.

Bravo! rief Billow. Ich kenne Hamburger und sogar Hamburgerinnen, deren Gebet ganz anders lautet.

So möge Gott, der ins Herz sieht, erwiderte der Alte, ihr Herz erleuchten und ihren Verstand erhellen, auf daß sie sehen den Weg, den ihnen vorschreibt sein heiliger Wille, desgleichen menschliche Vernunft und Ehrbarkeit, auf daß nicht heimgesucht werde ihre Unvernunft und Unehrbarkeit an ihnen selbst und ihrer Sippe, an ihren Verschwägerten und Gefreundeten, ihren Geliebten und Verlobten, ihren –

Halten Sie ein! rief Johanna.

Sie hatte gesehen, daß die Schwester während der letzten Worte, die der alte Mann mit bebender Stimme in leidenschaftlicher Erregung gesprochen hatte, womöglich noch bleicher geworden war als zuvor und plötzlich mit seltsamer Gebärde in die Luft griff. Johanna sprang hinzu, eben zeitig genug, die Ohnmächtige vor einem schweren Fall auf den Fußboden zu bewahren. Auch Oskar war sofort zur Hilfe und trug mit starken Armen die schöne, bleiche Gestalt bis zu dem nächsten Fauteuil.

Eilen Sie, Sandström, und schicken Sie mir die Luise! rief Johanna, um die Schwester bemüht. Und Sie, meine Herren; auch Du, Vater – bitte: geh! – bitte, bitte: gehen Sie alle! Du siehst, Vater, sie schlägt die Augen schon wieder auf. Sie ist meine starke Schwester; nicht wahr, Du bist stark, lieb Herz! Du – da ist Luise schon!


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