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15.

E s war etwa zwei Stunden später. Die Frühlingsnacht hatte ihren weichen durchsichtigen Schleier über Wald und Feld und Strom und Stadt gebreitet. Am dunkelblauen Himmel schwamm der volle Mond und badete das Gewirre der Thürme, Giebel und Dächer in seinem friedlichen Licht.

Aber unten auf den mondbeschienenen Straßen zwischen den ragenden Häusern wimmelte es von unruhig hin- und herwogenden Menschen. Die schöne Frühlingsnacht und ein dunkles Gerücht: »es werde heute losgehen«, das sich in der ganzen Stadt verbreitet hatte, ließ die Leute nicht an Schlafengehen denken. Sie standen in kleinen Gruppen auf den Gassen und Plätzen, sie zogen lärmend und singend in Haufen durch die Straßen. Es war ein Treiben, beinahe wie zur Zeit des Karnevals, nur daß heute statt der übermüthigen Festeslust dumpfe Unruhe und bange Erwartung die Gemüther erfüllten.

In dem altehrwürdigen Saale des Rathhauses waren die Väter der Stadt schon seit dem Nachmittage in Permanenz versammelt um ihr Haupt, den Oberbürgermeister, Doctor beider Rechte, Sebaldus Willibrod Dasch. Herr Willibrod Dasch war ein stattlicher Herr, sechs Fuß hoch, ohne die Schuhe, und dabei unverhältnißmäßig, das heißt: ganz außergewöhnlich breit und dick. Vielleicht, daß Herr Willibrod Dasch nicht ganz so breit und dick geworden wäre, hätte er, seitdem er vor zehn Jahren sein Amt antrat, auch nur alle Monat einmal vierundzwanzig Stunden lang so viel Sorge und Angst auszustehen gehabt, wie heute. Ja, seine Neider und Feinde – welcher große und gewichtige Mann hätte deren nicht! – behaupteten, er sei seit dem März dieses Jahres jeden Tag um ein Pfund leichter geworden, und soviel stand fest: man hatte seitdem auf seinem aufgedunsenen Gesichte nicht ein einziges Mal jenes zuversichtliche, um nicht zu sagen, freche Lächeln bemerkt, das sonst beständig um seine dicken, grobsinnlichen Lippen und um seine kleinen halbverquollenen Augen so zuversichtlich-oberbürgermeisterlich spielte. Desto öfter hatte man ihn sich mit bekümmerter Miene den Schweiß von seiner Stirn wischen sehen, vielleicht aber niemals häufiger, als an diesem herrlichen, warmen Frühlingsabend.

Es war aber auch gar zu dumpfig in dem hohen Sessionszimmer hinter den ellendicken Mauern, und man konnte es deshalb dem Oberbürgermeister und den übrigen Herren vom Rathe nicht verdenken, daß sie alle Augenblicke in die tiefen Nischen der Fenster traten und durch die herabgelassenen grünen Vorhänge auf den von Menschen wimmelnden Marktplatz herablugten, um sich zu vergewissern, daß das Bataillon Bürgerwehr, welches schon seit mehreren Stunden vor dem Rathhause unter dem Gewehr stand, noch immer heldenmüthig seine von Niemand angefochtene Position behauptete. Je dunkler es wurde und je röther die Flammen der in den Kandelabern vor dem Rathhause angezündeten Pechpfannen die Giebelhäuser des Marktes bestrahlten, desto unheimlicher däuchte den Herren vom Rathe ihre Situation. Es schien jetzt außer allem Zweifel, daß die Führer der Menge absichtlich die im Römer tagende Volksversammlung in die Länge zogen, um unter dem Schutze der Nacht ihre entsetzlichen Absichten in's Werk zu setzen. Was war von der Verwegenheit dieser Menschen nicht zu fürchten? Plünderung, Brand, Mord – darauf mußte man vorläufig gefaßt sein.

Vergebens, daß einige minder zaghafte Mitglieder den geknickten Muth der übrigen aufzurichten suchten, indem sie nachwiesen, daß die Sachen gar nicht so schlimm ständen. Der Stadtrath von Hohenstein besonders hob nachdrücklich die großen Erfolge hervor, mit welchen seine Bemühungen, die Arbeiter in den Fabriken für die gute Sache zu gewinnen, gekrönt worden seien. In sechs großen Etablissements, die er während des Nachmittags im Auftrage des Rathes besuchte, hatte er die Stimmung unter den Leuten vortrefflich gefunden. Nur in der großen Maschinenwerkstatt von Heydtmann und Compagnie waren einige oppositionelle Stimmen laut geworden, die aber von den andern schleunigst und energisch zum Schweigen gebracht wurden. So lange aber diese gefährlichste Klasse der Arbeiter nicht mit den Aufrührern Hand in Hand gehe, habe es noch keine Gefahr. Sodann machte Herr von Hohenstein geltend, daß ja die Volksversammlung – es müßten denn die zu verschiedenen Malen ausgesandten Kundschafter sämmtlich gelogen haben – bei Weitem nicht so zahlreich sei, als die Führer des Volkes gehofft und die Freunde der Ordnung gefürchtet hatten, anstatt sechstausend eben so viele hundert und vielleicht eher darunter, als darüber. Nun gebe er zu, daß die späte Stunde etwaige Aufstandsversuche ungemein begünstige, daß der Dr. Münzer ein gefährliches Subject und sein Schwager Peter Schmitz – hier zuckte der Stadtrath die Achseln – zum mindesten ein höchst excentrischer Kopf sei – indessen Beide seien zu klug, um sich in einem Versuche, dessen mehr als zweifelhaften Ausgang sie sich gewiß nicht verhehlten, irreparabel zu compromittiren, respective ihre Existenz auf's Spiel zu setzen; und schließlich habe er von mehreren, ihm von früher her befreundeten Officieren die wiederholte Versicherung erhalten, daß die Truppen vor Begierde brennten, sich an dem Pöbel für die in der letzten Zeit seinetwegen ausgestandenen Leiden einer fortwährenden Casernirung zu rächen und nur auf den Befehl zum Einhauen warteten.

Herr von Hohenstein drang freilich mit seinen Ansichten nicht durch, aber man erkannte die großen – oder, wie der Bürgermeister Dasch sich emphatisch ausdrückte – unsterblichen Verdienste, die er sich heute durch sein kluges, energisches Verhalten um das Wohl der Stadt erworben habe, willig und dankbar an, um so dankbarer, als man im Stillen von dem als liberal verschrieenen Stadtrath ganz etwas Anderes erwartet haben mochte. Es war mit dem Stadtrath seit ungefähr acht Tagen eine große Veränderung vorgegangen; er hatte eine bedeutende Schwenkung nach rechts gemacht. Man erzählte sich, daß er mit seinem steinreichen Onkel, dem alten General auf Rheinfelden, vollkommen ausgesöhnt sei, und wie er mit seinen Brüdern stand, hatte ja alle Welt heute Nachmittag sehen können, als der Präsident von Hohenstein, um mit dem Magistrat zu conferiren, auf dem Rathhaus gewesen war, und sich die beiden Brüder auf dem großen Vorsaal vor allen Kanzleidienern und Rathsboten umarmt hatten. Nun, lieber Himmel, es war ja am Ende auch kein Wunder, wenn ein Edelmann von so altem und reinem Adel sich im entscheidenden Augenblicke daran erinnerte, daß seine Vorfahren schon Jahrhunderte, bevor die jetzt regierende Dynastie in's Land kam, als reichsfreie Herren über Leben und Tod ihrer Hintersassen geschaltet hatten.

Unter diesem verworrenen Hin- und Herreden und diesem bänglichen Warten war es ein halb zehn geworden und noch immer war keine Entscheidung erfolgt. Das vor dem Rathhause aufgestellte Bataillon der Bürgerwehr hatte durch ein zweites abgelöst werden müssen, auf das man sich indessen lange nicht so fest verlassen konnte, als auf jenes. Schon wurden in den Reihen einzelne Stimmen laut: es sei ja lächerlich, hier zu stehen und sich um nichts und wieder nichts das Harz aus den Pechpfannen auf die Kleider tropfen zu lassen. Wenn die Stadt wirklich von den Demokraten an allen vier Ecken in Brand gesteckt werden sollte, so sei es doch besser, sie gingen nach Haus und sähen nach dem Ihrigen. Vergebens, daß die Officiere den Leuten zuredeten, vergebens selbst, daß Herr Bürgermeister Dr. Dasch von der obersten Stufe der Rathhaustreppe eine Ansprache an sie hielt. Auf seine pathetische Frage: »sind wir nicht alle Kinder derselben Stadt?« hatte eine grobe Stimme geantwortet: »ja wohl, mit und ohne Rinderbraten!« und eine andere: »der dicke Dasch soll leben, wir aber auch, hurrah! hoch!« – in welchen Ruf bewaffnete Macht und Volk jubelnd eingestimmt hatten. Endlich hatte man versprochen, noch eine halbe Stunde zu warten, wenn es bis dahin aber »nicht losginge« nach Hause gehen zu wollen.

Der Oberbürgermeister kehrte keuchend und schweißtriefend in das Sessionszimmer zurück, ließ die Thüren schließen, bat die Herren, ihm für einen Augenblick Gehör zu schenken, und sprach, als sich Alle um den grünen Tisch versammelt hatten, in einem heisern Flüsterton, als fürchtete er, es könnte von dem, was er sagte, ein Wort durch die dicken Wände und Thüren nach draußen dringen:

»Meine Herren! der Augenblick der Entscheidung ist gekommen, darüber kann ich, nach dem, was ich so eben gehört und gesehen habe, nicht länger im Zweifel sein. Ein fanatischer Pöbel tyrannisirt die Gutgesinnten, die Bürgerwehr droht mit dem Abfall – wir können uns auf Niemand mehr verlassen, als auf uns selbst und das herrliche Kriegsheer, die letzte Stütze des Thrones, des Altars und des häuslichen Heerdes. Der Commandant der Stadt, Generalmajor Graf Hinkel von Gackelberg, hat mir so eben durch seinen Adjutanten nochmals die gesammte reguläre Streitmacht zur Verfügung gestellt. Ich habe in Ihrem Sinne, meine Herren, zu antworten geglaubt, wenn ich dem Herrn Grafen sagen ließ, daß ich von seinem Anerbieten Gebrauch machen würde, falls nach Ablauf einer halben Stunde die drohenden Wolken, die über unsern Häuptern hängen, sich nicht gelichtet haben. Meine Herren: ich weiß, daß unter diesen qualvollen fürchterlichen Verhältnissen ein so weites Hinausschieben des Augenblickes der Rettung eine an Heroismus grenzende Entsagung ist; aber meine Herren: ich glaubte im Interesse unserer Würde, unserer Ehre und in Erinnerung gewisser Ereignisse in unserer Stadt, die noch zu frisch im Gedächtniß Aller sind, einen Conflict zwischen dem Militair und dem Pöbel so lange vermeiden zu müssen, als es mit der Wohlfahrt Aller irgend verträglich ist. Ich weiß, meine Herren, wie ungeheuer meine Verantwortung ist, ich weiß, daß diese halbe Stunde verhängnißvoll werden kann für viele Gute, in erster Linie für Uns, meine Herren, die der aus dunklem Himmel herabzuckende Schwefelblitz heute zuerst treffen wird. Wenn der Sturm hereinbricht: er soll uns Alle, Alle auf unserm Posten finden; nicht wahr, meine Herren: Sie werden Ihren Oberbürgermeister nicht verlassen?«

Herr Willibrod Dasch hatte diese letzten Worte mit sehr bewegter Stimme gesprochen. Er mußte einen Augenblick inne halten, um sich den Schweiß von der Stirn zu trocknen. Es war ein feierlicher Moment, als sich jetzt die sämmtlichen anwesenden Herren von ihren Stühlen erhoben und dadurch zu erkennen gaben, daß sie mit ihrem heldenmüthigen Chef sterben oder leben bleiben wollten.

»Aber,« fuhr Herr Willibrod Dasch fort, nachdem das dumpfe Gemurmel des Beifalls an der gewölbten Decke des Saales verhallt war, »wenn wir auch bereit sind, unser Leben für die gute Sache in die Schanze zu schlagen, oder unser Vermögen auf's Spiel zu setzen, so haben wir doch die Pflicht, das Vermögen der Stadt vor den Händen des beutegierigen, raublustigen Pöbels zu sichern. Vor Allem sind es die dreimalhunderttausend Thaler Stadtschuldscheine, welche, wie die Herren wissen, aus Gründen der Zweckmäßigkeit von der vierprocentigen Anleihe noch immer nicht emittirt sind und die oben in der Schatzkammer liegen. Wie leicht ist es möglich, daß dieser Umstand den Führern der Emeute bekannt ist? daß« – hier deutete Herr Dasch auf die Thür und flüsterte noch leiser, »daß der Verrath da draußen lauert? Sind wir unserer Boten, Diener, unserer Kanzellisten sicher? Haben wir Ursache, auf ihre Anhänglichkeit, auf ihre Dankbarkeit unbedingt zählen zu können? Nein, meine Herren, verhehlen wir uns das Bedenkliche unserer Situation nicht! Wir sind isolirt, wir müssen uns auf uns selbst verlassen. Deßhalb hören Sie meinen Vorschlag! Die Stadtschuldscheine und die übrigen Werthpapiere dürfen nicht an einem Orte bleiben, der so Vielen bekannt ist. Wir müssen sie anderswo unterzubringen suchen und meine sehr specielle Kenntniß der Räumlichkeiten und Heimlichkeiten des Rathhauses hat mich auch schon ein Plätzchen auffinden lassen, das der Spürkraft des abgefeimtesten Spitzbuben entgehen würde. Aber es ist aus Gründen, die ich nicht weiter zu entwickeln brauche, unräthlich, daß wir die Translocirung der Werthpapiere in corpore vornehmen. Ich stelle daher den Antrag, daß Sie mich und an Stelle unseres sehr zur Unzeit erkrankten Kämmerers, Einen aus Ihrer Mitte designiren, damit wir Beide gemeinschaftlich die nöthigen Schritte thun können.«

»Ich schlage zu diesem Zweck meinen werthen Collegen und Freund, Herrn von Hohenstein vor, dem wir Alle für seine heute dem Gemeinwohl geleisteten Dienste eine Anerkennung schuldig sind;« quäkte der Maschinenfabrikbesitzer, Stadtrath Heydtmann und Compagnie.

Wiederum rauschte dumpfes Gemurmel des Beifalls zur gewölbten Decke empor. Der Oberbürgermeister erhob sich, mit ihm die übrigen Väter der Stadt.

»Ich danke Ihnen, meine Herren,« sagte Herr Willibrod Dasch, »für die kühle Ruhe und hohe Geistesgegenwart, welche Sie in einem so kritischen Augenblicke an den Tag gelegt haben, aus bewegtem Herzen und bitte meinen sehr werthen Freund und Collegen, den Herrn Stadtrath von Hohenstein, die durch allgemeine Acclamation auf ihn gefallene Wahl annehmen zu wollen.«

Herr von Hohenstein verbeugte sich: »Mein Kopf und mein Arm gehören dem Wohl der Stadt;« sagte er, mit einer anmuthigen Bewegung die Hand auf's Herz legend.

Als der Oberbürgermeister und Herr von Hohenstein den Sitzungssaal verlassen hatten, machte Einer die Bemerkung, der Stadtrath sei, wie Herr Heydtmann seinen Namen genannt habe, sehr blaß geworden und seine Hand habe auch, als er den Armleuchter ergriff, um Herrn Dasch zu leuchten, auffallend gezittert – eine Behauptung, die von Herrn Heydtmann und Anderen bestritten wurde. Herr von Hohenstein habe im Laufe gerade dieses Tages zu deutlich bewiesen, daß er als städtischer Beamter den Muth des Edelmannes und Officiers sich vollständig bewahrt habe.

Der Oberbürgermeister Dasch und der Stadtrath von Hohenstein schritten unterdessen einen langen, schmalen Corridor zu Ende bis zu einer Seitentreppe, die von da aus in den oberen Stock des Gebäudes führte; darauf wieder einen Corridor entlang und standen endlich vor einer Thür, die, außer auf die gewöhnliche Art, noch durch zwei eiserne, mit sehr künstlichen Vorlegeschlössern versehene Riegel gesichert war. Durch diese Thür, welche sie, nachdem sie eingetreten, sorgsam von innen wieder verschlossen, gelangten sie in's Archiv, aus dem Archiv in einen dumpfigen, melancholisch aussehenden Raum, dessen Fenster, zu Ehren mehrerer eiserner Koffer und Schränke, welche seine ganze Ausstattung ausmachten, mit starken Eisengittern versehen waren. Dieser Raum war die Schatzkammer der Stadt.

»Uff!« sagte Dr. Dasch, als er die schwere Thür wieder in's Schloß gedrückt hatte; »ich komme heute noch vor Hitze um.«

»Mich friert eher,« erwiderte Herr von Hohenstein, »mir däucht, es ist hier empfindlich kalt.«

»Die feuchte Luft!« sagte Dr. Dasch; »man wird sich noch den Tod holen dieser verdammten Demokraten wegen. Lassen Sie uns an's Werk gehen, lieber Herr College. In jenem Koffer sind die Schuldscheine; die sind mir das wichtigste. Die andern Wertpapiere kann man discreditiren; aber wer schützt uns vor unseren eigenen Fünf- und Ein-Thalerscheinen, wenn sie einmal auf ungesetzmäßige Weise in Cours gebracht sind? Ich denke nun, lieber Herr College, wir bringen erst einmal die dreimalhunderttausend in Sicherheit. Sie befinden sich in einem Kasten von Eisenblech in diesem Koffer. Bitte, lassen Sie mich! Uff! Sehen Sie, das ist es! Und nun nehmen Sie gütigst das kleinere daneben stehende Kästchen auch heraus; es sind die ersten zweimalhunderttausend drin gewesen; möglicherweise kriegen wir den großen Kasten nicht in das Versteck, das ich mir ausgedacht habe, und werden deshalb das Geld umpacken müssen. Dieses Schlüsselchen paßt für beide Kasten.«

Herr von Hohenstein hob die beiden ihm bezeichneten Kasten heraus. Als er sich umwandte, schlug der schwere Deckel des Koffers mit einem dumpfen Knall zu. Herr von Hohenstein fuhr zusammen und stieß einen leisen Schrei aus.

»Es hat Sie doch nicht getroffen?« fragte der Bürgermeister ängstlich.

»Nein,« erwiderte der Stadtrath; »ich weiß nicht, meine Nerven sind so aufgeregt; es ist von den Anstrengungen des Tages, dazu die Krankheit meiner Frau –«

»Lassen Sie uns aus dem Loche fortkommen,« sagte der Andere, »mich selbst fängt hier an zu frieren. Ich will Sie an den Ort führen, den ich meine.«

Sie verließen die Schatzkammer und gingen schnell, damit ihnen Niemand begegne, den Corridor wieder zurück bis zu einer Thür, welche der Oberbürgermeister, der jetzt mit dem Armleuchter voranging, aufschloß.

»Es ist mein Privat-Arbeitszimmer, wie Sie sehen,« sagte er, »ich meine, die Hallunken werden viel zu schlau sein, als daß sie annehmen sollten: ich würde unsere Schätze in meinem eigenen Zimmer verstecken, eher suchen sie in allen Kellern und Böden. Sehen Sie, hier ist der Schrank, den ich meine, ein einfacher Wandschrank, von dessen Existenz, glaube ich, außer mir Niemand etwas weiß. Ich habe ihn zufällig entdeckt und bediene mich desselben, wie Sie sehen, um ein paar Flaschen Wein in der Nähe zu haben. Bitte, stellen Sie die Flaschen in das obere Fach und nun helfen Sie mir den Kasten hineinschieben.«

Aber der Kasten wollte in die schmale Oeffnung nicht passen. Sie versuchten es auf jede Weise; es ging nicht.

»Dacht' ich's doch!« sagte der bestürzte Oberbürgermeister.

»Wir müssen ein anderes Versteck suchen,« erwiderte Herr von Hohenstein.

»Ich weiß kein anderes, und die Minuten sind kostbar. Wir wollen es umpacken, es ist das Beste. Hier ist der Schlüssel; ich habe ihn stets bei mir. Versuchen wir, ob der andere Kasten hineingeht. Ausgezeichnet! Nun schnell wieder herunter damit! Wir haben keinen Augenblick zu verlieren.«

Herr Dasch schloß den vollen Kasten auf. Da lagen in sauberen Packeten die neuen Stadtschuldscheine, Dutzende und aber Dutzende von Hundertthalerpacketen in Einthaler- und Fünfthalerscheinen, Dutzende und aber Dutzende von Tausendthalerpacketen in Fünfzig- und Hundertthalerscheinen.

»Ich werde sie Ihnen herausreichen,« sagte der Oberbürgermeister, »schichten Sie das Zeugs in dem andern Kasten auf. Das wäre eine herzbrechende Arbeit für einen armen Schlucker! Gott sei Dank, daß wir Beide wohlhabende Leute sind. Was ist Ihnen?«

»O, nichts!« sagte Herr von Hohenstein, sich auf einen Stuhl setzend und sich den kalten Schweiß von der Stirn trocknend; »meine Nerven sind etwas angegriffen; es wird gleich vorübergehen.«

»Trinken Sie ein Glas von diesem Portwein,« sagte der Bürgermeister, eine der Flaschen aus dem Schranke nehmend; »es wird Ihnen gut thun.«

Herr von Hohenstein schenkte mit zitternder Hand ein Wasserglas, das auf dem Tische neben einer Caraffe stand, voll und leerte es, ohne abzusetzen.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte Dr. Dasch.

»Besser,« erwiderte Herr von Hohenstein.

»Dann lassen Sie uns machen, daß wir zu Ende kommen.«

In diesem Augenblicke erscholl von dem Marktplatze her, auf welchen die Fenster des Zimmers hinausgingen, großes Geschrei.

»Was ist das?« rief der Oberbürgermeister und ließ vor Schrecken die Packete, welche er eben in der Hand hatte, wieder in den Kasten fallen.

Die beiden Männer eilten an das Fenster. Der helle Mondenschein und das Licht der Pechpfannen ließen Alles, was draußen vorging, deutlich erkennen. Aus einer der auf den Marktplatz mündenden Straßen wälzte sich eine schwarze Menschensäule hervor, auf das Rathhaus zu. Die Menge, welche den Platz schon seit einigen Stunden überschwärmt hatte, drängte hierhin und dorthin, zumeist den Ankommenden entgegen, Hurrah rufend, pfeifend, schreiend; durch den Lärm ertönte die Löwenstimme des dicken Bürgerwehrmajors: »Gewehr auf! – Gewehr auf!« doch konnte man sehen, daß nur sehr wenige von den Wehrmännern dem Befehle nachkamen.

Der Oberbürgermeister, Doctor beider Rechte, Sebaldus Willibrod Dasch, zitterte an allen Gliedern.

»Wir sind verloren!« keuchte er; »was sollen wir thun?«

»Eilen Sie hinab, Herr Oberbürgermeister,« erwiderte Herr von Hohenstein rasch; »Ihre Gegenwart ist unbedingt nöthig. Bieten Sie den Aufrührern einen Vergleich an; versprechen Sie Volksbewaffnung, Alles, bis wir das Militair requiriren können. Aber eilen Sie, sonst geht Alles drunter und drüber. Ich folge Ihnen, sobald ich hier fertig bin.«

»Wollen Sie nicht lieber statt meiner gehen?« stotterte der Andere kläglich.

»Aber, Herr Doctor, bin ich denn Oberbürgermeister?« sagte Herr von Hohenstein.

»Sie haben Recht – ich gehe; ich muß gehen; ich muß meine Pflicht thun. Aber kommen Sie sobald als möglich.«

»Sobald als möglich,« erwiderte Herr von Hohenstein, den hasenherzigen Koloß fast zur Thür hinausdrängend.

D»e Thür fiel hinter dem Oberbürgermeister zu, und Herr von Hohenstein schob hastig den Riegel vor. Dann stürzte er nach dem Tische, wo der Wein stand, füllte das Glas noch einmal bis an den Rand und trank mit gierigen Zügen, bis es leer war.

Er stellte das leere Glas auf den Tisch, und schaute mit glühenden Augen im Zimmer umher. Dann fuhr er sich mit den beiden eiskalten Händen an die brennende Stirn und dann lachte er gell auf.

War es denn nicht zum Lachen? Er, der Schuldenbelastete, der sich mit schlechten Wechseln von einem Termin zum andern hinfristete, dessen unaufhaltbarer Ruin hereindrohte – hier, wühlend in diesen Schätzen, von denen der zwanzigste Theil ihn aus seiner Noth reißen konnte. Er hatte heute noch, zum wievielsten Male seit den letzten zehn Jahren! – überlegt, ob er nicht am besten thäte, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Aber dazu war's ja noch immer Zeit, wenn der Diebstahl an den Tag kommen sollte. Diebstahl! nicht doch! nicht Diebstahl! nur eine nützliche Verwendung von Geld, das hier ganz unbenutzt lag – und dann, er konnte es ja ersetzen! es brauchte nur eine Speculation, die er mit dem Gelde unternehmen konnte, gut einzuschlagen; und dann der Onkel auf Rheinfelden, der an dem Jungen ordentlich einen Narren gefressen zu haben schien und nicht zugeben würde, daß der Vater dieses Jungen in's Zuchthaus wanderte. Und dann – der Kämmerer, welcher die Stadtgelder verwaltete, war kränklich und feig dazu, hatte längst schon geäußert, daß er in diesen schlimmen Zeiten nicht der rechte Mann für sein Amt sei, und sein Amt niederzulegen gedenke – es war die höchste Wahrscheinlichkeit, daß man ihn, der sich in diesen Tagen so unentbehrlich gemacht, zum Nachfolger des kranken, schwächlichen Greises machte – und da konnte er leicht nach und nach das Deficit in der Kasse ersetzen. Oder sollte er die Dreimalhunderttausend, wie sie da waren, nehmen, zu entkommen suchen – was heute Abend nicht schwer fallen konnte – die Noten zu einem Drittel, einem Viertel des Werthes – gleichviel! – in London losschlagen, und mit deren Erlös nach Amerika dampfen? Und seine Frau, die heute Nachmittag, als ihn die Unruhe aus dem Hause trieb, so ängstlich seine Hände festgehalten hatte! und sein Sohn, den er noch heute Abend zurückerwartete, den er vorfinden mußte, wenn er jetzt mit seinem Raube nach Hause kam! Aber er that's ja nur für Weib und Kind! doch um seinethalben nicht! Fürchtete er sich vor dem Tode? Hatte er nicht schon mehr als einmal vor der Pistole seines Gegners gestanden? Und übermorgen hatte er Wechsel im Betrage von zehntausend Thalern zu bezahlen! Zehn Packetchen von den vielen da, so dünn, daß er sie bequem in der Seitentasche seines Rockes verbergen konnte – aber es ist zu spät – Du hast zu lange gezögert.

Herr von Hohenstein blickte nach der Pendüle, die ihm gegenüber an der Wand hing, und auf die sein Blick zufällig gefallen war, als er die leere Flasche wieder auf den Tisch setzte. Sie hatte auf zehn Uhr gewiesen; sie wies noch auf zehn! Sie mußte stehen geblieben sein; aber der Pendel schwang hin und her, und die Rathhausuhr in dem Thurmzimmer über ihm fing eben an zu schlagen. – Die Welt von wahnsinnig durcheinander huschenden Gedanken hatte sich in eines Augenblickes engen Kreis gedrängt!

So war es doch noch Zeit! – Da! – waren da nicht Schritte, die den Corridor heraufkamen? Näher, näher, immer näher – jetzt oder nie! Va bancque! Was ist's denn weiter? Leben und Ehre auf einen Wurf gesetzt …

Es raschelt an der Thür …

»Was giebt's?«

»Herr Stadtrath!«

»Wer ist da?«

»Ich der Rathsdiener Wenzel! Der Oberbürgermeister lassen Herrn Stadtrath bitten, doch sogleich zu kommen!«

»Sogleich!«

Der Kasten von Eisenblech steht verschlossen in dem Wandschrank, die Tapetenthür deckt die Oeffnung, so genau – wie er sich umsieht, kann er sie kaum wieder entdecken. Er athmet tief auf. Er knöpft den leichten Ueberrock, den er trägt, fest zu über der Brust, und im nächsten Augenblicke fällt ihm ein, daß das Verdacht erwecken könnte und er knöpft ihn wieder auf. Er öffnet die Thür, mit dem Armleuchter in der Hand. Der alte Rathsdiener Wenzel schreit: »Jesus, Maria und Joseph, der Herr Stadtrath sehen ja aus wie ein Todter!«

»Mir war recht unwohl, lieber Wenzel; jetzt geht es aber wieder. Bitte, nehmen Sie den Leuchter und gehen Sie voran. Wie steht's denn bei Ihnen zu Hause, lieber Wenzel?«

»Danke, Herr Stadtrath, recht gut!« erwidert der Rathsdiener, verwundert, wie Herr von Hohenstein in diesem Augenblick zu dieser Frage kommt.

»Ein wenig knapp, nicht wahr? Das Gehalt langt nicht immer?«

»I nun, Herr Stadtrath, es muß gehen; man streckt sich eben nach der Decke,« sagt der Rathsdiener, der gar nicht begreifen kann, wie der Herr Stadtrath gerade jetzt zu diesen Fragen kommt, und deshalb meint, der Herr Stadtrath sei gewiß kränker, als er zugiebt.

»Wollen sich der Herr Stadtrath vielleicht ein wenig auf meinen Arm stützen?« fragt er, sich umwendend.

»Danke, danke!« antwortet Herr von Hohenstein, der in dem Augenblicke, als Wenzel sich herumdreht, den letzten Knopf an seinem Paletot zuknöpft, und sie jetzt sämmtlich wieder aufreißt.

Der Alte sagt nichts mehr, sondern beschleunigt seine Schritte; es ist ihm unheimlich das wirre Reden und das sonderbare Mienenspiel des kranken Stadtraths.

Sie kommen in den ersten Stock auf den großen Flur vor dem Sessionszimmer. Der Oberbürgermeister und einige andere Herren treten eben heraus; andere stehen in dem tiefen runden Erker, der gerade über dem Portal hängt, und von wo man das Treiben auf dem Platze besser sehen kann, als vom Sessionszimmer aus. Der Oberbürgermeister tritt Herrn von Hohenstein entgegen und zieht ihn auf die Seite. Sein Gesicht strahlt vor Freuden.

»Ich glaube, wir haben uns umsonst gequält, liebster Herr College! Die Banden sind schon im Abziehen, nachdem Münzer ein paar Worte geredet hat. Wo haben Sie den Schlüssel zur Chatouille und zum Schrank?«

»Hier und hier!«

»Danke, danke! Ich kann ja den Kasten, wie er geht und steht, morgen wieder in die Schatzkammer schaffen lassen, nicht?«

»Gewiß, gewiß! Der ganze Unterschied ist, daß das Geld jetzt in dem kleinen, anstatt in dem großen Kasten liegt.«

»Tausend, tausend Dank, lieber, lieber College!«

Und Herr Oberbürgermeister Dasch umarmt in seinem Enthusiasmus Herrn von Hohenstein zu wiederholten Malen. Andere Herren, ihnen voran Herr Maschinenfabrikbesitzer Heydtmann und Compagnie, treten ebenfalls mit Danksagungen und Glückwünschen auf ihn zu; sie schütteln ihm die Hände; sie nennen ihn den Retter der Stadt.

Herr von Hohenstein wehrt ihnen mit ungeduldiger Heftigkeit.

»Ich danke den Herren,« sagte er; »ich habe nur meine Pflicht gethan. Entschuldigen mich die Herren! Ich fühle mich unwohl und möchte um die Erlaubniß bitten, zu meiner kranken Frau zurückkehren zu dürfen.«

»Einen Wagen für Herrn von Hohenstein! Einen Wagen!«

»Ich möchte lieber gehen. Die Nachtluft wird mir wohlthun. Gute Nacht, gute Nacht, meine Herren!«

Herr von Hohenstein drängte sich durch die Umstehenden, wie Jemand, der ohnmächtig zu werden fürchtet, wenn er nicht sofort in's Freie kommt.

»Sagt' ich es nicht?« meinte einer der Rathsherren; »er sah ja schon blaß und elend aus, als er mit dem Oberbürgermeister hinaufging.«

»Kein Wunder!« meinte ein Anderer; »er hat es sich heute blutsauer werden lassen. Und noch dazu die Frau krank –«

»Und morgen Ultimo!« murmelte der Advokat und Stadtverordnete Kaltebolt. »Mich soll nur wundern, wie er seine Wechsel bezahlen wird.«

»Meine Herren!« sagte der Oberbürgermeister, »ich vermag freilich nicht in die Zukunft zu sehen, und weiß nicht, was die nächsten Tage uns bringen werden, aber ich glaube, uns dazu gratuliren zu können, daß wir für diesmal durch unsere Kaltblütigkeit und Energie die Stadt ohne Blutvergießen vom drohenden Untergange gerettet haben.«



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