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9.

W olfgang schaute ihm lange nach mit einer aus Bewunderung und Mitleid gemischten Empfindung. »Giebt es denn kein Mittelding zwischen Diogenes und Alexander? Und muß man Ambos sein, wenn man der grausamen Kraft des Hammers ermangelt?«

Er trat in den Park und schlenderte zwischen den Hecken und Büschen auf den ihm jetzt schon so vertrauten Wegen ziellos umher. Die Stunde, wo zur Nacht gespeist wurde, war noch nicht da, und weil Wolfgang wußte, daß er heute in dem öden Zimmer allein an der Tafel sitzen würde, so beeilte er sich nicht eben in's Schloß zu kommen. Ueberdies war der Abend herrlich. In den dichten Gebüschen schlugen unzählige Nachtigallen, würziger Duft stieg aus dem Blüthenmeer auf und erfüllte die kühle, labende Luft; ein breiter, safranfarbiger Streifen umsäumte den westlichen Horizont, und goldgeränderte Wölkchen schwammen hier und da in dem lichtgrünen Aether, während schon graue Schatten die hohen Hallen unter den uralten Bäumen erfüllten.

Und allgemach wurden die Schatten dunkler und breiter: über den Wipfeln eines Boskets schwärzlichen Nadelholzes schimmerte aus dem glanzloseren Himmel ein einzelner goldener Stern.

Wolfgangs Blicke waren auf den Stern gebannt, bis in's Herz hinein leuchtete ihm der milde Schein. Die Erregung aus dem seltsamen Gespräch mit dem Schulmeister bebte in seiner Seele nach, aber in weichen weiten Schwingungen, wie die fernsten Kreise, die von einer herabgefallenen Frucht auf dem glatten abendlichen Spiegel eines stillen Gartenteiches verzittern. Gedanken der Liebe füllten seine Seele, aber nicht jener Liebe eines träumerischen Philantropen, sondern jener energischen, jugendfrischen Liebe, die in zwei schönen braunen Augen die ganze Welt versunken sieht. »Warum soll ich nicht in dem einen schönen Stern dort den ganzen Sternenhimmel anbeten? Sein goldenes Gefunkel entrückt mich dieser dunkeln Erde gewaltiger, als dies der Anblick all' der Myriaden flimmernder Gestirne vermochte! Nein, ich will über der Menschheit nicht den Menschen vergessen; ich will um der Zukunft willen nicht die Gegenwart verträumen. Ich will die Menschen lieben, aber bei den Einzelnen will ich anfangen, bei den Einzelnen und vor Allen bei Dir, Du süßes Mädchen, deren Augen so göttlich leuchten, wie jener Stern, deren Stimme so süß klingt, wie der Gesang der Nachtigallen, deren holdes Wesen mich labt, wie diese balsamische, blüthenduftathmende Luft …«

Eine selige, dithyrambische Stimmung, wie er sie nie gekannt, ergriff den Jüngling. Der nachdenkliche, oft düstere Ernst, in den ihn allzufrühe schmerzliche Erfahrungen, die Enge seines Lebens, die strengen Anforderungen seiner Studien gezwungen hatten, fiel von ihm ab wie ein klösterlich Kleid. Es war ihm, als ob er jetzt erst lebe, als ob er jetzt zum erstenmale sich seiner Jugend und seiner Kraft bewußt würde, als ob das Bild schmerzlicher Entsagung, welches ihm der menschenscheue Heilige in der Einsamkeit seines Thurmes gezeigt, das so lange zurückgedrängte leidenschaftliche Verlangen der Jugend nach Glück, nach Liebe, nach vollkräftigem Genuß des Daseins in ihm entfesselt hätte …

Er warf sich auf eine Rasenbank, über die ein Hollunderbaum seine Blüthentrauben breitete. Sein Antlitz glühte; er barg das glühende Antlitz in den beiden Händen …

Ein Rauschen, wie von einem seidenen Kleide, ganz in seiner Nähe erweckte ihn aus seiner Verzückung. Er hob den Kopf, und vor ihm stand, umflossen von dem milden Abendschein – Camilla. Mit einem Rufe freudigster Ueberraschung fuhr er in die Höhe – ein Blick in die braunen, geliebten, strahlenden Augen – er breitete die Arme aus – Camilla lag an seiner Brust und die jungen liebedürstenden Lippen tranken Beseligung in einem langen zärtlichen Kuß.

»Camilla, Holde, Geliebte, liebst Du mich, wie ich Dich liebe?«

Camilla's Antwort war ein zweiter Kuß, heißer, bewußter, als der erste, den Ueberraschung gegeben und genommen hatte. Ihr ganzes Wesen schien sich auflösen zu wollen in überwallender Leidenschaft. Es war, als ob Küssen die einzige Sprache wäre, in der die Seele dieses Mädchens sich verständlich machen könnte. Sie hatte auf Wolfgangs zärtliche Worte keine andere Erwiderung.

Er schlang seinen Arm um den schlanken Leib und so streiften sie langsam beim Licht der Sterne, die immer zahlreicher aus dem blauen Himmel hervortraten, beim Gesang der Nachtigallen, die in immer weicheren und volleren Tönen schlugen, durch die dunkelnden Gänge. Eine Seligkeit, wie er sie in seinen sehnsüchtigsten Stunden nie geträumt hatte, erfüllte Wolfgangs Brust und strömte über in den süßesten Schmeichelworten der Liebe, in tausend herzlichsten Schwüren und in Phantasien, wie sie nur der Kopf eines geistreichen Jünglings, dessen edles Herz von Liebe voll ist, so reich und so glänzend erzeugen kann. »Sieh, Geliebte, ich schaue in meinem Glück, wie in einem reinen Spiegel, das Glück der ganzen Menschheit; ich glaube an die Allmacht der Liebe zur Beseligung Aller, da sie an mir, dem Einzelnen, solche Wunder bewirken kann. Jetzt sehe ich in leuchtender Klarheit das Ziel, das mir dunkel vorschwebte seit meinen Knabenjahren. Ich wollte wirken und schaffen an dem großen Werk der Befreiung der Völker. Aber der Einzelne kann nichts thun, als sich selbst befreien, befreien von dem Gemeinen, das uns Alle bändigt; und das ist nur durch die Liebe möglich. In meiner Liebe zu Dir fühle ich mich schön und heilig, wie Du selbst es bist. An meiner Liebe zu Dir, an Deiner Liebe zu mir, an unserer Liebe werde ich einen Talismann haben, der mich unverletzt durch das Getümmel des Erdenlebens führt. Und auch den Andern wird unsere Liebe zu gute kommen; die heiligende Kraft der Liebe wird von uns ausströmen auf Alle, die in unsrer Nähe weilen. Und wenn das nicht wäre, wenn unsere Liebe mit uns untergehen sollte, wie der Duft der Blume mit der Blume verweht – wir haben doch nicht vergebens gelebt, denn wir sind glücklich gewesen, unsäglich glücklich; nicht wahr, Geliebte?«

Und wieder war ein zärtlicher Kuß die einzige Antwort, welche Camilla auf Wolfgangs feurige Reden hatte. Und er wollte ja keine andere Antwort! es dünkte ihm so süß, diese reine keusche Mädchenseele zum krystallenen Kelch zu heben, in den er alle Perlen und Diamanten, alles Kostbarste seines Denkens und Fühlens niederlegen könnte; es dünkte ihm so schön, diese stumme Psyche wach zu küssen aus ihrem Dornröschenschlafe!…

Sie hatte sich an seine Brust geschmiegt, er legte seine glühende Wange auf ihr vom Abendthau feuchtes Haar. Plötzlich fuhr sie zusammen:

»Horch, was war das?«

»Nichts, Geliebte, nichts als das Klopfen meines Herzens.«

»Nein, nein, es rief Jemand – und Deinen Namen – man darf uns nicht zusammen finden.«

Sie schlüpfte aus Wolfgangs Armen, eilte ein paar Stufen hinauf, die auf eine dem Flügel des Schlosses angebaute Terrasse führten und war im Nu hinter den dichten Hecken und Büschen verschwunden.

Die Empfindung, die Wolfgang hatte, als er so plötzlich in dem dunkelnden Garten allein stand, war die eines Menschen, der aus einem beglückenden Traum zur unerfreulichen Wirklichkeit erweckt wird. In dem schnellen Sichlosreißen Camilla's lag etwas, das wie ein häßlicher Ton die wundervolle Harmonie seiner Liebeshymne zerriß; aber er sollte nicht Zeit behalten, die so rauh berührte Saite in sich ausschwingen zu lassen. Die Stimme, die er vorhin überhört hatte, erscholl jetzt ganz in seiner Nähe. Es war Madame, die ärgerlich seinen Namen rief, und zwischendurch halblaute Scheltworte über diesen Besuch, der einem bei Tag und Nacht keine Ruhe lasse, ausstieß. Eine Ahnung, daß ein Unglück geschehen sei, ergriff Wolfgang. »Hier,« rief er, der Scheltenden entgegeneilend, »hier bin ich; was giebt's?«

»Ah, da ist der junge Herr endlich!« erwiderte Madame, »es ist nun schon das dritte Mal, daß Excellenz mich hinausgeschickt hat, damit ich mir in dem naßkalten Garten Schnupfen und Rheumatismus hole; aber, was ist denn an so einer alten Person gelegen; wenn die jungen Herrschaften sich nur amüsiren, so kann ja natürlich zu Hause Alles sterben und verderben.«

»Beste Madame, es thut mir herzlich leid, wenn Sie sich meinethalben so bemüht haben; aber sagen Sie mir nur um Himmels willen, was es giebt. Ist der Großonkel krank geworden?«

»O, Excellenz befinden sich ausnehmend wohl, aber bei Ihnen zu Hause in der Stadt mag es nicht ganz so gut stehen.«

»Meine Mutter ist krank, ist todt!« schrie Wolfgang, Madame heftig am Arm packend.

»Was weiß ich!« rief diese ärgerlich, »fragen Sie den Kutscher aus der Stadt, der schon seit zwei Stunden auf dem Hofe hält.«

Wolfgang stürzte, ohne das Weib noch eines Blickes zu würdigen, aus dem Garten. Madame sah ihm mit höhnischem Gelächter nach. »Der wäre fort,« murmelte sie, »und die Andern sollen hinter her; dafür will ich schon sorgen.«

Als Wolfgang auf den Schloßhof kam, fand er den alten Köbes, der die noch angeschirrten Pferde mit Brod fütterte. Der alte Köbes war ein Lohnkutscher aus der Nachbarschaft von Wolfgangs elterlicher Wohnung und dem jungen Manne von seinen Kinderjahren her bekannt und lieb. Der alte Köbes hatte den Knaben oft mit in den Stall genommen, während er seine Pferde striegelte und die schönsten Melodieen dabei pfiff. Das war des Köbes Weise sich mitzutheilen. Auf Reden ließ er sich nicht gern ein und auch jetzt konnte Wolfgang mit seinen hastigen, angstvollen Fragen nicht viel aus ihm herausbringen. Köbes sagte, er glaube die Stadträthin sei krank, so gar schlimm könne es aber nicht sein, denn er habe den Stadtrath noch vorher nach dem Rathhause in die Sitzung fahren müssen. Es werde wohl Alles im Briefe stehen.

»In welchem Briefe?«

Köbes wies mit dem Brodmesser über die Schulter nach dem Schlosse.

»An den General?«

Köbes nickte.

Wolfgang eilte in's Schloß und geradewegs in des Großonkels Zimmer. Auf dem Tische, an welchem der General des Abends zu sitzen und zu lesen pflegte, brannte die Lampe mit dem grünen Schirm; aber der Alte saß nicht im Lehnstuhl, sondern humpelte an seinem Stock im Zimmer umher, was er immer nur that, wenn er sich ganz besonders heftig geärgert, oder ihn irgend sonst etwas aufgeregt hatte. Als Wolfgang hastig hereingetreten war, wandte er sich mit Lebhaftigkeit zu ihm und rief, ihm einen Brief, den er aus der Tasche seines Schlafrocks zog, entgegenhaltend:

»Da, lies selbst, Junge! Wird nicht so schlimm sein; machen immer mehr Geschrei, als nöthig ist.«

Der Brief, den Wolfgang mit vor Aufregung zitternder Hand ergriff, war an den General gerichtet und bestand aus wenigen Zeilen, in welchen der Vater schrieb, daß die Mutter in der letzten Nacht ganz plötzlich von ihrem alten Kopfschmerz befallen sei und im Laufe des Morgens in ihren Phantasien mehreremals dringend nach Wolfgang verlangt habe. Er (der Vater) glaube zwar nicht, daß. das Uebel diesmal mehr als sonst zu bedeuten habe, wünsche indessen doch, daß Wolfgang – und wäre es auch nur zur Beruhigung der Mutter – nach Hause komme, »wenn es der Großonkel erlaube.«

»Hätte Dir gern länger hier behalten,« sagte der General, als Wolfgang von dem Briefe zu ihm aufschaute; »bist ein anderer Kerl, als dein Lumpenpack von Verwandtschaft; ist indessen gut, daß Du wieder an die Arbeit gehst. Habe was mit Dir vor, Junge; soll Dein Schade nicht sein, wenn Du folgsam bist. Nun, mach, daß Du fortkommst und schreib mich, wie's der Mutter geht.«

In dem Tone, in welchem der Alte sprach, lag ein Anflug von Empfindung, die Wolfgang dem starrköpfigen, jähzornigen Greise niemals zugetraut hätte, und die ihn in diesem Augenblicke, wo sein Gemüth durch so viele und so verschiedene Eindrücke erschüttert war, doppelt rührte. Er drückte mit Wärme die ihm dargebotene knöcherne Hand und verließ, nachdem er einige Worte des Dankes gestammelt, hastig das Gemach.

Wenige Minuten später saß er in dem Wagen; der alte Köbes schnalzte mit der Zunge und das Gefährt rumpelte über den holprigen Damm des Schloßhofes davon. In dem Zimmer, in welchem die Präsidentin wohnte, brannte Licht. Als die Pferde anzogen, bewegten sich die Vorhänge und ein Mädchenkopf erschien für einen Augenblick hinter den Scheiben, aber Wolfgang schaute nicht herauf; – an dem nächtlichen Himmel, der sich ehern über seinem Haupte wölbte, blitzten unzählige Sterne, aber Wolfgang hatte kein Auge mehr für ihre Herrlichkeit. Er dachte nur an die kranke Mutter, nur an die Gefahr, die über ihrem theuern Haupte schwebte.



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