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12.

E s war am Abend desselben Tages und in derselben Stunde, in welcher Wolfgang sich von dem Schulmeister Balthasar Schmalhans an der Pforte des Parkes verabschiedete, als Tante Bella – so nannte sie Jung und Alt in der ganzen Nachbarschaft – in ihrer Stube mit einer Stickerei beschäftigt am Fenster saß. Draußen wölbte sich der hellblaue Frühlingshimmel über den vom letzten Abendsonnenschein rosig beleuchteten Dächern, Giebeln und Schornsteinen des Häusergewimmels in der alten Rheinstadt; aber die Ufergasse war schmal, und in dem tiefen, niedrigen Zimmer dunkelte es bereits stark; nur der Platz unmittelbar am Fenster, wo Bella saß, war noch ziemlich hell, und dem, welcher jetzt in die Stube getreten wäre, würde Tante Bella in der allerbesten Beleuchtung erschienen sein. Tante Bella hatte durchaus nichts dagegen, den Leuten im günstigsten Lichte zu erscheinen, denn sie war, trotz ihrer achtundvierzig Jahre, keineswegs ganz über die Eitelkeiten der Welt hinaus. Sie hatte das dunkle Schmitz'sche Haar und die dunkeln, lebhaften Schmitz'schen Augen, die allerdings bei ihr ziemlich in die Höhlen gesunken waren, und deren Glanz Krankheit und Kummer längst verwischt hatten. Aber man sah es diesen halb von den Lidern bedeckten Augen an, daß sie vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren sehr groß und schön und ausdrucksvoll gewesen sein mußten, und noch jetzt, wenn Tante Bella – was sehr häufig geschah – von Zorn oder Freude lebhaft erregt war, flammte in ihnen ein Widerschein von dem alten Feuer auf. Besonders aber hörte es Tante Bella gern, wenn man ihre Gestalt, die in der That noch ganz überraschend jugendlich schlank und elegant war, gebührend pries, und es war überhaupt nicht zu leugnen, daß die gute Dame in großer Toilette, zumal aus einiger Entfernung gesehen, noch immer eine angenehme Erscheinung genannt werden mußte.

Heute freilich hatte Tante Bella keine Zeit gehabt, große Toilette zu machen. Peter hatte geschrieben, daß er morgen früh mit Ottilie kommen werde, und Tante Bella, die ihn einen Tag später erwartete, hatte alle Hände voll zu thun gehabt, die nöthigen Einrichtungen zu treffen, mit welchen sie in Folge eines großen Scheuerfestes und anderer heroischer häuslicher Thaten, zu deren Ausführung sie die Abwesenheit ihres Bruders benutzt hatte, etwas in Rückstand gekommen war. Tante Bella nämlich hatte den thatendurstigen, energischen Charakter ihres Bruders und ließ nicht gern eine Spanne Zeit unbenutzt; in diesen Tagen nun vorzüglich hatte sie sich ihren Kummer um den Tod des Bruders und die Sorgen um die arme verwaiste Ottilie, die sie nur einmal vor zehn Jahren als achtjähriges Kind gesehen, wegzuarbeiten gesucht. Das war ihr denn auch zum Theil gelungen; darüber aber hatte sie eine andere Arbeit liegen lassen, die sie für heute Abend fertig zu machen versprochen hatte, und die also heute Abend fertig werden mußte, denn Tante Bella war so gut wie ihr Wort, und das war der Grund, weshalb sie jetzt im letzten Abendlicht, die hellblaue Brille auf der Nase, so nahe als möglich an's Fenster gerückt, mit solchem Eifer an ihrer Stickerei nähte.

Mit Tante Bella's Stickerei-Arbeiten hatte es eine eigene Bewandniß. Sie stickte unglaublich viel, zu jeder Tageszeit, in jeder Minute, die sie sich von ihren andern Arbeiten abmüßigen konnte; aber sie stickte nicht zu ihrem Vergnügen, auch nicht um Andern – wenigstens nicht direct – ein Vergnügen damit zu bereiten – Tante Bella stickte für Geld. Das war aber ein großes und – wie die gute Dame glaubte – für die Augen jedes vom Weibe Geborenen undurchdringlich tiefes Geheimniß. Nur ihr Bruder Peter wußte officiell davon. Zu ihm hatte sie nämlich eines Tages, nicht lange, nachdem sie zu ihm gezogen war, gesagt: »Es ist nicht recht, Peter, daß Du für uns Alle arbeitest. Du hast schon Sorgen genug, und es drückt mir das Herz ab, daß ich Dir auch nun noch zur Last fallen soll. Ich will mir nach wie vor meinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Ich habe freilich nichts gelernt, denn das bischen Französisch, das ich einmal in der Schule gewußt, habe ich längst wieder vergessen, und ich bin zu alt, um wieder von vorn anzufangen. Mein Gedächtniß ist jämmerlich geworden; ich habe gestern über einer Seite Vokabeln vier Stunden gesessen und heute weiß ich keine einzige mehr. Aber ich habe früher recht gut gestickt und habe viel Farbensinn und auch sonst Geschmack; und ich will für Geld sticken.« Darauf entwickelte sie Peter den Plan, den sie sich ausgedacht hatte: wie sie für eine Wollstickereihandlung arbeiten wolle, aber nicht unter ihrem Namen, denn das könnte Petern in seinem Geschäfte Nachtheil bringen, wenn die Leute sagten: er könne seine eigne Schwester nicht aus seiner Tasche erhalten, – sondern unter dem Vorwande, diese Stickereien würden von einer vornehmen Dame, die in ihren Verhältnissen zurückgekommen sei, angefertigt, und sie (Fräulein Bella Schmitz) habe es nur übernommen, die Mittelsperson zwischen eben dieser vornehmen Dame und der Firm »Marie Blad, vormals Gärtner« zu sein.

Peter Schmitz lachte hell auf, als ihm Bella diesen ihren Entschluß mittheilte und sagte: »sie sei nicht klug; sie helfe ihm – wenn doch einmal zwischen ihnen abgerechnet sein solle – in seinem Haushalt dreimal so viel, als irgend eine Wirthschafterin, die er mit theuerem Gelde bezahlen müsse, und überdies sei er glücklicherweise noch immer so gestellt, daß die einzige Schwester, die ihm geblieben« – hier seufzte Peter leicht und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar – »leben könne, ohne daß sie sich an den verdammten Stickereien die Augen aus dem Kopfe sehe. Uebrigens, wenn sie es durchaus wolle, so möge sie es immerhin versuchen, sie werde es bald genug satt bekommen.«

Aber in diesem letzten Punkte irrte sich Peter sehr, wie er denn überhaupt merkwürdigerweise für die Charaktereigenthümlichkeiten seiner ihm in jeder Hinsicht viel ähnlicheren Schwester bei weitem weniger Verständniß und Anerkennung hatte, als für die feineren Züge von Margarethens idealischerer, aber lange nicht so kraftvollen und bedeutenden Natur. Bella hielt den einmal ergriffenen Plan mit derselben zähen Energie fest, mit welcher ihr Bruder seine Pläne zu verfolgen gewohnt war; und ebenso fest, vielleicht noch fester hielt sie die Maske der Anonymität gegenüber der Handlung, welche sie beschäftigte, gegenüber ihren Freundinnen, den Dienstboten, gegenüber aller Welt, trotzdem alle Welt wußte, wie es sich damit verhielt. Es war ganz unglaublich, welche Anstrengungen Tante Bella machte, ihr von Jedermann durchschautes und streng respectirtes Geheimniß zu wahren; unglaublich, zu welchen und zu wie vielen Lügen dieses gute Geschöpf, das die Ehrlichkeit und Geradheit selbst war, ihre Zuflucht nahm. Sie stritt sich mit der Directrice des Stickerei-Geschäfts um einen Groschen mehr oder weniger, weil sie es nicht verantworten könne, daß die geheimnißvolle vornehme Dame um geringeren Lohn arbeite; sie erfand, um die Bekannten, die in das Haus kamen, zu täuschen, Verwandte in Amerika, Australien, China, für deren unzählige Söhne sie all die unzähligen Notizbücher, Cigarrenetuis, Tabacksbeutel, Reisetaschen u. s. w. stickte; sie war einmal Mitglied eines Vereins, welcher sich die Altäre der Kirchen am Cap der guten Hoffnung mit Decken zu versehen vorgenommen hatte; ein anderes Mal Mitglied eines andern, welcher den Waisenkindern bei ihrer Entlassung aus der Anstalt gestickte Morgenschuhe verehrte, um so gleichsam symbolisch anzudeuten, daß ihre Wanderung durch's Leben sanft sein möge. Wenn Tante Bella wieder einmal so eine neue Nothlüge erfunden hatte, und ihr Gewissen darüber in Unruhe gerieth, genügte ein Blick auf das verwitterte, steinerne Wappen über der Hausthür, ihr die verlorene Sicherheit wieder zu geben. Wenn dieses kaum noch erkennbare Wappen nicht das Wappen der Familie Schmitz war, in deren Besitz sich das Haus schon seit über einem Jahrhundert befand – welcher Familie gehörte es denn? Niemand wußte das zu sagen, und bis Tante Bella'n Jemand diese Antwort genügend anderweitig löste, nahm sie an, daß es ihr – das Schmitz'sche – Wappen sei. Für die Tochter aber einer so alten Patricierfamilie, meinte Tante Bella, sei eine Lüge verzeihlicher, als die beschämende Wahrheit, daß sie für die Firma: »Marie Blad, vormals Gärtner« um schnöden Lohn wie eine gewöhnliche Stickerin arbeite.

Tante Bella saß also am Fenster und nähte mit brennendem Eifer an dem Canevas, welchen die geheimnißvolle Dame bis heute Abend vor dem Geschäftsschluß zu füllen versprochen hatte. Ihr Eifer war um so größer, als die Sonne bereits längst hinter den Giebel des gegenüberstehenden Hauses gesunken war, und Tante Bella bei Licht die feineren Schattirungen der Farben nicht mehr gut unterscheiden konnte. Den Kopf tief herabgebeugt, blickte sie durch die Brille, die mit jedem Augenblick tiefer auf die Nase sank, auf die unglückliche Arbeit, die heute gar nicht aus der Stelle kommen wollte, und dabei gingen ihr gar viele Gedanken durch ihren allzeit geschäftigen Kopf. Sie dachte an den furchtbaren Schreck, den die arme Ottilie gehabt haben müsse, als man ihr sagte: der Vater sei todt und sie könne ihn nicht mehr sehen; sie dachte, wie ihre Schwester Margareth wohl die Nachricht aufgenommen haben möge, und ob sie (Bella) nicht doch wohl besser gethan hätte, gestern Abend zu der Schwester selbst hinzugehen, anstatt ihr nur zu schreiben. Seltsam genug, daß Margareth nicht einmal auf die Nachricht hin sie besucht hatte! »Ich glaube, wir Alle sind ihr jetzt gleichgültig, und doch war sie früher ein so sanftes, gutes, liebevolles Kind.« Dann dachte Tante Bella an Peter's flanellene Unterjacke, die er bei dem warmen Wetter ohne Zweifel ausgezogen hatte, wovon ein fürchterlicher Rheumatismus die ganz sichere, ein Nervenfieber, Typhus, vielleicht sein Tod die mögliche Folge sein werde. Dann dachte Tante Bella: was wohl aus ihr und aus der armen Ottilie werden sollte, wenn der arme Peter wirklich stürbe, das alte Haus verkauft würde, und sie und Ottilie hinaus müßten in die Fremde, und wenn dann die Gicht ihr vollends in die Hände träte, sie nicht mehr arbeiten könnte, in's Spital müßte, im Spital sterben müßte, secirt, oder – Schrecken aller Schrecken! – nicht ganz gestorben, nur scheintodt wäre und lebendig begraben würde! im Grabe erwachte, den schweren Sargdeckel dicht über sich fühlte, wüßte, daß sechs Fuß Erde noch darüber lägen, und ihre Angstrufe in der dumpfen Grabesnacht mit ihr selbst erstickten!

Tante Bella vertiefte sich so lange in dieses entsetzliche Bild, bis sie zu ihrem Schrecken wahrnahm, daß sie in der Zerstreuung eine falsche Schattirung genommen habe und sie in Folge dessen die Arbeit der letzten zehn Minuten wieder auftrennen müßte.

Sie nahm die Brille, wie in Verzweiflung, von der Nase und ließ die Arbeit in den Schoß sinken. »Ich bin zum Unglück geboren,« sagte sie ärgerlich; »mir mißlingt Alles, Kleines, wie Großes. Sonst, wenn ich sie nicht brauchen kann, kommen sie schaarenweise zu einem, und heute läßt sich Niemand sehen, nicht einmal Clärchen, die so geschickte Hände und so scharfe Augen hat. Es ist grausam!«

In diesem Momente wurde die nach dem Flur führende Thür geöffnet, und eine sanfte, melodische Stimme fragte: »Darf ich näher treten?«

»Clärchen!« rief Tante Bella, »Gott sei Dank! Kommen Sie nur geschwind herein, Clärchen, und legen Sie ab. Sie müssen mir bei dieser abscheulichen Arbeit helfen. Wollen Sie?«

»Können Sie fragen, Tante Bella?« sagte Clärchen Münzer, legte Hut und Umschlagetuch ab, strich sich mit den Händen über das schlichte, in Flechten geordnete Haar und setzte sich Bella gegenüber in's Fenster.



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