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8.

U nd mit einem Lächeln auf den Lippen erwachte Wolfgang am nächsten Morgen, und wer ihn in den folgenden Tagen beobachtet hätte, würde dies Lächeln noch manchmal auf seinen Lippen bemerkt haben. Er wußte selbst kaum, was ihn denn eigentlich so heiter stimme, und mit jenem Instinct, der frühreife Naturen über die Flüchtigkeit sonniger Stunden selten täuscht, vermied er es auch geflissentlich, allzu genau darüber nachzudenken. Und dann, warum sollte er gegen die Lieblichkeit dieses herrlichen Frühlings unempfindlich sein, der so warm und duftig über den Feldern, Wiesen und Weingärten lag? Warum sollte er die Gelegenheit zwanglosesten Umgangs mit einem jungen Mädchen, an dessen Schönheit sein bewundernder Blick von Tage zu Tage mit größerem Entzücken hing, nicht benutzen? War ihm solch' Glück doch in seinem einfachen, ernsten Leben noch nie zu Theil geworden! Er hatte nie mit Schwestern und mit den Freundinnen der Schwestern verkehren können, wie andere junge Leute; und der Reiz der weiblichen Gesellschaft, den Manche so früh kennen lernen, daß sie ihn später gar nicht mehr zu schätzen wissen, erschloß sich dem Zwanzigjährigen hier in dieser ländlichen Einsamkeit zum ersten Male – was Wunder, daß er Sirenen singen zu hören glaubte, wo für Andere nur mit Menschenzungen geredet wurde? – Da die Präsidentin für längere Promenaden zu bequem war und, verwöhnt durch vieles Sitzen und die Stubenluft, es bald zu heiß und bald zu kühl, bald zu windig und bald zu drückend fand, so schweiften Wolfgang und Camilla beinahe zu allen Tageszeiten allein in dem ungeheuren Park umher, der in seiner Verwilderung noch viel größer erschien, als er in Wirklichkeit war. Die beiden jungen Leute stellten förmliche Entdeckungsreisen nach den verschiedensten Richtungen an, und es fehlte nicht an anmuthigen Abenteuern, die diese Fahrten oft zu improvisirten Robinsonaden machten. Einmal setzten sie auf einem paar Baumstämmen, die Wolfgang mit Weidenruthen zusammenband, über einen sumpfigen Teich, um zu einem kleinen verfallenen Tempel, welcher inmitten des Teiches auf einer Insel lag, zu gelangen, da das Boot, welches früher die Ueberfahrt vermittelt hatte, nur noch mit der Spitze aus dem Schlamm und Röhricht des Ufers hervorragte. Ein anderes Mal wurden sie von einem heftigen Gewittersturm überrascht, vor dem sie sich eben noch in eine Grotte retten konnten, die ihnen für eine Stunde lang zum reizendsten Gefängniß wurde, während der Regen in Strömen herniederrauschte, blendende Blitze durch den verdunkelten Tag zuckten und die sonst so stillen Räume unter den riesenhohen uralten Bäumen von dem rollenden Donner wiederhallten. Wieder ein anderes Mal entdeckten sie in der äußersten Ecke des Parks, versteckt hinter fast undurchdringlichem Gestrüpp und hochgewachsenen, breitästigen Linden, einen Söller, den sie unter vielem Lachen und Scherzen auf einer bedenklich morschen Treppe erstiegen, um sich, als sie oben waren, der reizendsten Aussicht zu erfreuen. Auf drei Seiten umgeben von dem Grün der Bäume, die ihre schwanken Zweige laubenförmig über den Söller breiteten, blickten sie nach der vierten über den Rand der Parkmauer den Strom hinauf und hinab und über den Strom in das weite, reiche Land. Die Sonne war schon hinter die Bäume des Parks gesunken, aber von dem Widerschein des glühenden Westens leuchteten die majestätischen Windungen des Flusses weithin in rosigem Licht, und drüben auf den Wiesen und den Feldern junger grüner Saat webten die letzten Abendsonnenstrahlen ihr zauberhaftes Gespinnst. Dann ertönte das Läuten der Abendglocken überall her aus den Dörfern von nah und fern, und allgemach erlosch die Gluth in den graulichen Wassern, weiche blaue Nebel verhüllten die prangende Landschaft, und zuletzt schimmerte nur noch ein Fenster der hohen Kathedrale aus der »heiligen Stadt« wie das Licht eines Pharus über einem Nebelmeere, bis auch das verschwand, der Abend dunklere Schatten über die Erde breitete und aus dem tiefblauen Himmel die goldenen Sterne hervortraten.

Solche Bilder, solche Scenen übten einen magischen Einfluß auf Wolfgangs für alles Schöne leicht erregliches Gemüth aus, um so mehr, als sie doch nur den Rahmen und den Hintergrund abgaben für die anmuthig schöne Erscheinung des jungen Mädchens, mit dem ihn der Zufall in ein so nahes, vertrauliches Verhältniß gebracht hatte. Sich mitzutheilen, wo er verstanden zu werden hoffte, war für Wolfgang das höchste Glück, und der Eifer, mit welchem Camilla auf die von ihm angegebenen Themata einging, das Interesse, welches sie für seine Studien, seine Pläne, seine Hoffnungen an den Tag legte, die Dankbarkeit, mit der sie seine Belehrungen hinnahm, – das Alles entzückte ihn nicht minder, als das holde Spiel ihrer sanften Augen, das schüchterne Erröthen ihrer zarten Wangen und das naive Lispeln, mit dem sie die mancherlei Lücken ihrer Pensionatserziehung treuherzig eingestand.

Wolfgang hatte alle diese Tage gehofft, dem Schulmeister Balthasar wieder im Park zu begegnen – aber vergebens. Der abgeschabte Frack und die gelben Nankinghosen waren und blieben verschwunden. Und doch war des jungen Mannes Theilnahme für den wunderlichen Heiligen nur noch gewachsen. Er hatte sich bei den Bedienten nach dem Schulmeister, den er auf einem Spaziergang in den Feldern gesehen haben wollte, erkundigt, aber so vorsichtig er auch seine Fragen gestellt hatte – die Leute hatten ihm scheu und ausweichend geantwortet, bis endlich einer, der schwatzhafter war, als seine Kameraden, sich zu folgenden Mittheilungen herbeiließ: »Der Schulmeister, Balthasar Schmalhans, oder Hänschen, wie Alt und Jung ihn nennten, sei durchaus und hoffnungslos verrückt und zu weiter in der Welt nichts nutze, als höchstens den Jungen im Dorfe das ABC und die Gebete beizubringen, wozu ja am Ende nicht viel Verstand gehöre. Er habe nie einen Pfennig, geschweige denn ein ›Kastemännchen‹ in der Tasche, weil er Alles verschenke oder für nichtsnutzige Bücher ausgebe, hinter denen er wie ein Rabe her sei. Madame sei wirklich seine Frau, aber sie lebe schon seit zwanzig Jahren von ihm getrennt auf dem Schlosse, weil Excellenz sie nicht wohl entbehren könne, und es ihr am Ende ja auch nicht zu verdenken sei, daß sie mit einem Verrückten nicht haushalten wolle, der längst verhungert wäre, wenn ihm nicht täglich aus der Schloßküche sein bischen Essen geliefert würde. Uebrigens sei Hänschen ein ganz harmloser Mensch, der keinem Kinde was zu Leide thue, und der, wenn man sich nur mit ihm einlassen wollte, so pudelnärrische Reden führe, daß es oft zum Todtlachen sei. In der Küche hätten sie immer ihren Tausendspaß mit ihm.«

Als Camilla eines Nachmittags ihrer Mutter, die an Migraine litt, Gesellschaft leisten mußte, fiel es Wolfgang ein, daß er die Zeit nicht passender als zu einem Besuch bei dem Schulmeister im Dorfe verwenden könne. Er machte sich also, seit acht Tagen das erste Mal allein, auf den Weg durch die Felder und Weingärten. Seine Stimmung war die heiterste. Er hatte gestern einen Brief von seiner Mutter erhalten, die ihm schrieb, daß sie sich ungewöhnlich wohl fühle, und daß die gute Laune, welche der Vater von Rheinfelden mitgebracht, gewiß nicht unwesentlich dazu beitrage. Der Vater lasse ihn (Wolfgang) bitten, den alten eigensinnigen Großonkel möglichst zu schonen, und durch ein kluges, freundliches Betragen gegen die Präsidentin und Camilla das gute Einvernehmen, das sich so plötzlich und so unerwartet zwischen den beiden Familien gebildet habe, möglichst zu befestigen.

»Damit hat's keine Noth,« sagte der junge Mann lächelnd zu sich selbst und blieb stehen, um nach dem Schloß zurück zu blicken. Durch die Linden hindurch konnte man einige Theile desselben sehen – ein Stück des mit Ornamenten bedeckten Frieses, ein paar Fenster, die Wolfgangs scharfes Auge als die von der Präsidentin Zimmer erkannte, in welchem Camilla soeben weilte.

»Adieu, lieber Wolfgang!« sagte der junge Mann mehreremale leise und stets in einem anderen Tone.

»Ich treff's nicht,« murmelte er, den Kopf schüttelnd; »sie hat aber auch eine gar zu weiche, süße Stimme!«

Er setzte, von lieblichen Bildern seiner Phantasie wie von freundlichen Genien umschwebt, seinen Weg fort und hatte bald die kurze Strecke bis zum Dorfe zurückgelegt.

Das Dorf Rheinfelden war ein wüstes Durcheinander von einstöckigen, zerfallenen Häusern, jämmerlichen Scheunen und noch jämmerlicheren Ställen, und kleinen Gärtchen, in denen nur das Unkraut gut fortzukommen schien, das Ganze umgeben von den Trümmern einer Mauer, die nach dem Aussehen der Steine und der Form des runden, halb abgetragenen oder eingestürzten vielfach geborstenen Thurmes zu schließen, aus einer sehr alten Zeit stammen mußte. Ein niedriges, baufälliges Haus, dessen einer Giebel an diesen Thurm angeklebt war, wurde Wolfgang von einem zerlumpten schwarzäugigen Buben als die Wohnung des Schulmeisters bezeichnet.

Er trat, nicht ohne sich bücken zu müssen, in den Hausflur und sah durch eine offene Thür rechter Hand in die geräumige Schulstube. Hier fand er Herrn Schmalhans. Der gute Mann hatte den langschößigen Frack ausgezogen, und wischte mit einem nassen Lappen so eifrig die Tische und Bänke ab, daß er den Eingetretenen nicht eher bemerkte, als bis dieser dicht vor ihm stand.

»Ah, sieh da, der liebe junge Herr!« rief Balthasar, überrascht die milden blauen Augen aufschlagend.

»Ich störe doch nicht, Herr Schmalhans?« fragte Wolfgang.

»O, nicht im mindesten, nicht im mindesten!« erwiderte der Schulmeister, »ich bin eben fertig, eben fertig!« und bei diesen Worten warf er einen prüfenden Blick in der Stube umher, wie um sich zu überzeugen, daß er wirklich fertig sei.

»Sie scheinen es mit der Reinlichkeit ernst zu nehmen, Herr Schmalhans?«

»Sollte ich es nicht?« antwortete Balthasar; »ist es nicht schlimm genug, daß die armen Würmer hier zwischen den engen Wänden hocken müssen, während es ihnen in allen Gliedern zappelt nach der lieben schönen Frühlingswelt draußen? Da sorge ich denn, so gut ich kann, daß sie wenigstens nicht von Staub und Schmutz zu leiden haben.«

Balthasar nahm seinen Besen und die übrigen Werkzeuge und lud Wolfgang mit einer Handbewegung ein, ihm aus dem Schulraum über den Flur in die Stube auf der gegenüberliegenden Seite zu folgen.

Es war ein kleines, zweifenstriges, mit einem plumpen Tisch, ein paar wackligen Schemeln, einem niedrigen, schmalen Bett, das ein dürftiger Vorhang von buntem Kattun kaum verdeckte, und einem wurmstichigen Repositorium, in welchem Schulhefte, eine Violine und einige wenige zerlesene Bücher lagen, möblirtes Gemach. An den weißgetünchten Wänden hingen ein paar schlechte Holzschnitte und ein von einem Immortellenkranz umgebenes, aus dunklem Holz geschnitztes Crucifix, dessen schöne alterthümliche Arbeit Wolfgangs Aufmerksamkeit erregte.

»Nicht wahr?« sagte Balthasar, der unterdessen den langschößigen Frack angezogen hatte, »das ist ein Kunstwerk? Ich habe es einmal von dem Herrn General an den Kopf geworfen bekommen.«

»Wie?« rief Wolfgang erstaunt.

»Sie müssen nicht bös sein, lieber junger Herr,« erwiderte Balthasar mit einem verlegenen Lächeln, »ich habe erfahren, daß Sie der Großneffe von der Excellenz im Schlosse sind, und da hätte ich allerdings so etwas von dem Herrn Großonkel nicht erzählen sollen, aber da es mir nun einmal so herausgefahren ist, so werden Sie's ja auch nicht für ungut nehmen.«

»O, nicht doch, nicht doch!« betheuerte Wolfgang, »ich weiß, daß der General ein sehr jähzorniger alter Herr ist; aber wie kam er dazu, Sie so unwürdig zu behandeln?«

»Ach, es ist schon lange her,« sagte Balthasar; »ich kam damals noch öfter auf's Schloß, um mit Excellenz, die am Podagra litten, Schach zu spielen, und um sie –«

Hier wurde Balthasar roth und hustete verlegen.

»Will sagen, meine Frau zu sehen, die den gnädigen Herrn in seiner Krankheit pflegte. Sie müssen nämlich wissen, daß sie schon vor unserer Heirath Haushälterin bei Excellenz gewesen war und da konnte es am Ende Niemand Excellenz verargen, wenn sie am liebsten von ihr, die es so gut verstand, bedient sein wollten.«

»Natürlich, natürlich!« sagte Wolfgang, der dem guten Balthasar über ein Thema, welches ihm peinlich zu sein schien, weghelfen wollte.

»Nicht wahr?« sagte dieser aufathmend. »Also ich kam öfter auf das Schloß und hatte rechtes Mitleid mit dem armen Herrn, der von Schmerzen fürchterlich geplagt wurde. Nun hatte ich in der Rüstkammer, die ich von Zeit zu Zeit reinigen mußte, unter vielem Gerümpel dies schöne Bild des Heilands gefunden und da fiel mir ein: ich sollt's dem gnädigen Herrn in seine Stube hängen, damit er sich in seinen Leiden an dem Beispiel dessen aufrichten könne, der mehr als er gelitten hatte. Aber davon wollten Excellenz nichts wissen; im Gegentheil, sie wurden sehr zornig, als sie das Bild in ihrer Stube fanden, ließen mich rufen, warfen es mir gnädigst an den Kopf und riefen: schert euch Beide zum Teufel! Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, raffte mich auf – denn zusammengestürzt war ich doch, trotzdem mich Gott sei Dank der Wurf nur gestreift hatte – nahm das arme geschändete Bild und bracht's hierher in meine Wohnung, da es mir Excellenz doch gewissermaßen geschenkt hatten.«

»Das Bild ist sehr schön,« sagte Wolfgang; »äußerst charakteristisch, ohne dabei zur Carricatur zu werden. Ich muß es bewundern, obgleich ich sonst eben kein Freund dieser Darstellungen bin.«

»Warum nicht, lieber junger Herr?« fragte der Schulmeister.

»Weil ich immer an die Gräuel denken muß, die unter diesem Zeichen vollführt sind, an die Abgötterei denken muß, die mit diesem Zeichen getrieben wird, weil – doch wir werden uns schwerlich über diesen Punkt verständigen, Sie müssen wissen, Herr Schmalhans, daß ich kein Katholik bin.«

»O,« sagte Balthasar eifrig, »das thut in meinen Augen nichts, ganz und gar nichts. Mir sind alle Menschen, was die Religion anbetrifft, vollkommen gleich. Aber ich meine, daß man das Bild des Gekreuzigten doch lieb haben muß, wenn es auch schlechte Menschen gegeben hat und noch giebt, welche es mißbrauchen und durch Mißbrauch schänden. Freilich, besser wär's ja, wenn« –

Balthasar hielt inne, und blickte seinen Gast voll in's Gesicht.

»Was wäre besser, Herr Schmalhans?«

»Ich sollt' es eigentlich nicht sagen, denn es ist eine arge Ketzerei und ich kenne Leute, die mich steinigen würden, wenn sie's hörten. Aber Sie haben so liebe, gute, kluge Augen, daß ich Ihnen gewiß vertrauen darf.«

»Das dürfen Sie! gewiß, das dürfen Sie!« sagte Wolfgang, indem er dem Schulmeister die Hand bot, welche dieser mit großer Herzlichkeit drückte. »Was wollten Sie sagen?«

Balthasar ließ Wolfgang's Hand los, ging hin, schloß die Stubenfenster, die Hausthür und die Fenster der Schulstube, kam zurück und sagte mit einer gewissen Feierlichkeit: »Ich will Ihnen etwas sagen, lieber junger Herr, was ich noch keinem Menschen gesagt habe, und um Ihnen zu zeigen, wie groß mein Vertrauen zu Ihnen ist, will ich Sie dazu an einen Ort führen, den außer mir Niemand kennt. Ist es Ihnen recht?«

»Gewiß,« erwiderte Wolfgang, über des Schulmeisters seltsames Gebahren nicht wenig verwundert.

Der öffnete eine kleine Stubenthür und lud durch eine Handbewegung Wolfgang ein, ihm zu folgen.

Sie traten in einen spärlich erhellten, mit Backsteinen gepflasterten Raum, den ein Heerd, auf welchem seit langer Zeit kein Feuer gebrannt zu haben schien, als die Küche bezeichnete. Eine Hobelbank, ein paar Tischlerwerkzeuge, Bretter und Haufen von Spähnen bildeten jetzt seine Ausstattung. Aus diesem Raume führte eine morsche Stiege durch eine Oeffnung in der Decke, die mit einer Klappe verschlossen war, auf den Boden, dessen einzige Beleuchtung von dem spärlichen Lichte kam, das durch die Spalten zwischen den Dachziegeln hereinfiel.

»Geben Sie mir Ihre Hand,« sagte Balthasar; »es liegt hier allerlei Gerümpel umher, das meine Vorgänger im Amt hier zusammengehäuft und ich noch geflissentlich vermehrt habe. So! nun stehen Sie einen Augenblick still! ich muß erst Licht machen.«

Balthasar zündete eine Laterne an, die er aus irgend einer Ecke hervorgelangt hatte und leuchtete gegen die Bretterwand, vor der sie standen.

»Können Sie hier eine Thür entdecken?« fragte er, mit der Laterne an der Wand hinauf- und hinunterleuchtend.

»Nein,« erwiderte Wolfgang.

»Und doch ist eine da,« sagte Balthasar, das Licht in der Laterne wieder auslöschend, mit einem gutmüthigen Lachen; »ich habe lange daran gearbeitet, bis mir der Mechanismus endlich gelang. Sehen Sie!«

Er drückte gegen die Wand, eine niedrige Thür schob sich geräuschlos seitwärts; ein dunkler, enger Gang zeigte sich, durch den man in einen helleren Raum blickte.

»Gehen Sie nur unbesorgt voran,« sagte Balthasar, »und bücken Sie sich nur ein wenig, damit Sie sich nicht an den Kopf stoßen. Ich muß hinter Ihnen die Thür wieder schließen.«

Wolfgang tastete sich in dem ungefähr zehn Fuß langen Gang, der so schmal war, daß er fast auf beiden Seiten mit den Schulten die rauhen steinernen Wände berührte, vorwärts, und trat in ein rundes, ziemlich hohes Gemach, das durch schmale Oeffnungen in den ungeheuren Mauern mäßig erhellt war. Unter einer dieser Oeffnungen stand ein sehr großer Tisch, vor dem Tisch ein alter, hölzerner Lehnstuhl. Der Tisch war mit Büchern, Mineralien, getrockneten Pflanzen, Fläschchen und Gläsern bedeckt, an den Wänden standen Repositorien, in denen allerhand wunderlicher Kram aufgehäuft war, von dem auch noch vieles auf dem Fußboden verstreut lag.

Wolfgang sah sich voller Verwunderung in diesem Raum um. Die alte Sage von Schwarzkünstlern und Zauberern kam ihm in Erinnerung; so mußte es in dem dumpfen Mauerloch ausgesehen haben, aus dem sich Doctor Faustus hinauswünschte auf mondbeschienene Bergeshöhen.

»Hier sind wir ungestört,« sagte Balthasar, indem er seinen Gast in den Armstuhl nöthigte und sich selbst auf ein paar übereinandergelegte Folianten setzte; »die Leute glauben, daß der Thurm ganz unzugänglich ist und er hat auch wirklich keinen Eingang, als den von dem Boden meiner Wohnung aus, welchen ich mit nicht geringer Mühe durch die dicke Mauer gebrochen und wie Sie gesehen, so sorgsam versteckt habe.«

»Aber was brachte Sie auf den Gedanken?«

»Einmal die müßige Neugier zu wissen, wie es in dem verfallenen Thurm, der von den Dorfbewohnern der Hexenthurm genannt und mit einer abergläubischen Scheu betrachtet wird, denn eigentlich aussähe, und hernach, als ich darin war, der Wunsch, mir eine Zufluchtsstätte zu schaffen, wo ich sicher sein konnte, nicht gestört zu werden, wenn ich einmal allein sein wollte, und wohin ich meine geliebten Bücher, die ich für schweres Geld auf Auctionen und bei den Trödlern in der Stadt gekauft, nebst meinen Pflanzen und Steinen bringen konnte, ohne fürchten zu müssen, von dem Herrn Pfarrer verketzert, vielleicht wohl gar von den abergläubischen Bauern gelegentlich todtgeschlagen zu werden. Denn sehen Sie, lieber junger Herr, in den Pflanzen und Steinen ist Manches zu lesen, was ich armer Schulmeister eigentlich nicht wissen sollte.«

»Und da flüchten Sie sich denn vor Tölpeln und Pfaffen hierher! Ja, ja ich kann mir denken, daß es Sie, wie den Klosterbruder im Nathan, nach einem Plätzchen verlangen muß, allwo Sie Ihrem Gott in Einsamkeit bis an ihr selig Ende dienen können.«

Balthasar blickte zu Wolfgang empor, als dieser die letzten Worte sprach, schaute ihn einige Momente schweigend mit einem eigenthümlich milden, freundlichen Ausdrucke an. Dann sagte er – und seine sanfte Stimme klang noch weicher und kindlicher wie sonst: –

»Sehen Sie, lieber junger Herr, das bringt mich gerade auf das, worüber ich schon so lange einmal mit Jemand, dem ich ganz vertrauen dürfte, gern gesprochen hätte: – ich glaube an keinen Gott und an ein selig Ende in dem Sinne, wie die andern Leute, glaube ich auch nicht.«

»Das ist freilich in Ihrer Stellung ziemlich arg,« erwiderte Wolfgang; »im übrigen aber, meine ich, stehen Sie in unserer Zeit mit diesem Ihrem Glauben oder vielmehr Unglauben keineswegs allein da; ich selbst zum Beispiel neige mich stark zu Ihrer Ansicht und mein bester Freund, ein hochbegabter und hochgebildeter Mann, ist der entschiedenste Feind jedes Dogmas, es sei, welches es sei.«

»Also wirklich?« sagte Balthasar, »ich habe immer gemeint, daß auch andere Menschen so denken müßten, wie ich; aber weil ich noch mit Niemandem darüber habe sprechen können, und ich es auch in keinem Buche ganz klar und unumwunden ausgedrückt fand, wurde ich doch immer wieder zweifelhaft. Also wirklich, wirklich« –

Der Schulmeister war von seinen Folianten aufgesprungen und ein paar Mal mit hastigen Schritten in dem Raume auf- und abgegangen. Plötzlich blieb er vor Wolfgang wieder stehen und fragte mit einer bei ihm ganz ungewöhnlichen Erregtheit:

»Wenn dem aber so ist, wenn es wirklich viele gelehrte und begabte Menschen giebt, die sich von dem Glauben innerlich losgesagt haben, warum sprechen sie's nicht frank und frei aus? warum machen sie sich zu Heuchlern, und zwingen Andere, die, wie ich, nicht gelehrt und nicht begabt sind, und deren Stimme also für nichts gerechnet wird, mit ihnen zu heucheln?«

Wolfgang zuckte die Achseln.

»Die Frage habe ich mir selbst schon manchmal gestellt,« sagte er, »und mir sie so beantwortet: Die Einen schweigen aus Indifferentismus, die Andern aus Feigheit, wieder Andere, weil sie die Zeit für die Lehre der reinen Vernunft noch nicht reif erachten; noch Andere, weil sie der Ansicht sind, daß diese Zeit niemals kommen wird, daß die kleinen und großen Kinder des Gängelbandes nicht entbehren können und daß es deßhalb am gerathensten ist, sie in dem Glauben, der sie nun einmal glücklich macht, nicht zu stören.«

Der Schulmeister hatte wieder auf den Folianten Platz genommen und rieb sich nachdenklich die Stirn.

»Das läßt sich hören,« sagte er, »dennoch ist es immer schmerzlich, nicht aussprechen zu dürfen, wies einem um's Herz ist. Mir hat das schon viele schwere trübe Stunden bereitet; ja ich bin manchmal beinahe wahnsinnig darüber geworden. Und dann würde es nicht für Alle, auch für die Kinder besser sein, wenn man sie nichts lehrte, als die einfache Wahrheit: daß wir armen, schwachen Menschen Einer auf den Andern angewiesen sind, daß kein Heil zu finden ist, als in der Liebe? würden die Armen und Unglücklichen sich nicht besser stehen; ja würde es überhaupt nur Arme und Unglückliche geben, wenn es laut und offen, auf allen Gassen, auf allen Märkten gepredigt würde: was hier auf Erden nicht geschieht, das geschieht nimmermehr! es giebt kein ewiges Leben, darum müßt ihr in diesem Leben mit dem, was ihr zu thun habt, fertig werden; es giebt keine ewige Seligkeit, in welcher dem unschuldig Leidenden vergolten würde; es giebt keinen Gott, den ihr beleidigen könntet, aber eine Menschheit giebt es, die ihr beleidigt, die ihr schändet, gegen die ihr frevelt in jedem Hungrigen, den ihr nicht speist, in jedem Durstigen, den ihr nicht tränkt, in jedem Nackten, den ihr nicht kleidet. Und saget nicht, daß solches Alles über euer Vermögen sei! saget nicht: solcher Entsagung, solcher Liebe ist ein Mensch nicht fähig! wißt ihr nicht, daß eines Menschen Sohn seine Brüder so geliebt hat, daß er für sie am Kreuz gestorben ist? Haltet es fest, daß es ein Mensch war, der also that und also litt und daß ihr Menschen seid, wie er, und handeln und leiden und lieben könnt, wie er, wenn ihr den Gott im Himmel und die ewige Seligkeit aufgebt, um auf den Gott in eurer Brust zu hören und die Seligkeit schon hier auf Erden zu finden.«

Balthasar war in dem Feuer seiner Rede wieder aufgesprungen. Ein rother Streifen der Abendsonne fiel in dem dämmrigen Gemach auf ihn und verklärte sein blasses Gesicht. Wolfgang betrachtete ihn mit Verwunderung und Ehrfurcht. Dieser Mann, dessen Augen in heiliger Gluth leuchteten, dessen Stimme klangvoll wie Glockenton von dem Gewölbe wiederhallte, – das war nicht mehr das armselige, gehänselte, demüthige, verlegene Schulmeisterlein – das war ein Heiliger, ein Priester der Religion, die keine Priester kennt, als die, welche voll sind des heiligen Geistes thätiger Menschenliebe …

Aber Wolfgang hatte trotz seiner Jugend schon zu tief in's Leben geblickt, um in dieses Mannes heiliger Unschuld und Opferfreudigkeit etwas Anderes zu sehen, als eine schöne Ausnahme von der häßlichen Regel, und in der Welt, die er erträumte, ein Utopien, das vor der Hand nirgends lag, als in dem weltumfassenden Herzen einiger edlen Schwärmer. Aber er wollte den guten Menschen durch seine Zweifel nicht betrüben und er sagte daher:

»Das gelobte Land wird erreicht werden; nicht von diesem Geschlecht, auch von dem nächsten nicht und wer weiß, von wie vielen nicht, die alle erst in der Wüste umkommen, müssen; aber es wird erreicht werden. Halten wir daran fest und trösten wir uns mit dieser Hoffnung über den Staub und die Hitze des Weges, – das ist Alles, was wir thun können.«

Balthasar hatte wieder Platz genommen und den Kopf in die Hand gestützt. Der momentanen Erregung schien eine Erschlaffung gefolgt zu sein. Er sprach nichts weiter, auch Wolfgang nicht.

So saßen sie stumm einander gegenüber, jeder in seine Gedanken versunken, während der rothe Strahl, der durch die Mauerspalte fiel, immer höher rückte, zuletzt verschwand, und tiefe Dämmerung den ganzen Raum erfüllte.

»Das ist Alles, was wir thun können,« sagte Balthasar endlich. Er seufzte tief, strich sich mit der Hand über Stirn und Augen, wie Jemand, der aus einem tiefen Schlaf erwacht, und blickte zu Wolfgang hinüber.

»Es ist dunkel geworden,« sagte er mit seiner gewöhnlichen sanften Stimme; »die Sonne ist schon hinter das Schloß gesunken; man dürfte Sie vermissen, wenn Sie länger blieben.«

Sie gingen den Weg, den sie gekommen waren, zurück. In der Hausthür sagte Balthasar: »Ich will Sie, wenn es Ihnen recht ist, einen anderen viel kürzeren Weg nach dem Park führen bis zu der Pforte, durch die ich immer hinein- und hinausgehe.«

Sie stiegen gleich hinter des Schulmeisters Wohnung durch eine Bresche der alten Umfassungsmauer des Dorfes und kamen auf einen schmalen Fußsteig, der am Rande eines mit Kastanienbäumen besetzten Grabens entlang bis unmittelbar in die Nähe der von Balthasar bezeichneten Parkpforte führte. Hier wollte dieser umkehren. Wolfgang fragte ihn, ob er ihn nicht vielleicht morgen im Park wieder treffen werde, aber Balthasar verneinte es. Er müsse morgen zu einer Lehrerconferenz, ein paar Stunden weit. Dort sollten die Lehrer die Parole für die Wahlen zur Versammlung in der Residenz und in Frankfurt erhalten.

»Nun denn übermorgen vielleicht,« sagte Wolfgang; »ich weiß nicht, wie lange ich noch hier bleiben werde, jedenfalls möchte ich nicht abreisen, ohne Sie vorher noch gesprochen zu haben. Und noch Eines! sollte ich doch verhindert sein, Sie zu sehen, so vergessen Sie nicht, daß Sie in mir einen Freund gefunden haben, der Ihnen in Allem, was er vermag, zu jeder Zeit gern zu Diensten ist. Vergessen Sie das nicht.«

Er reichte Balthasar die Hand, die dieser ergriff und festhielt.

»Ich werde Sie nicht vergessen,« sagte er, »was dem Menschen nur einmal im Leben begegnet ist, vergißt er nicht so leicht, und Sie sind der einzige Mensch, mit dem ich je in meinem Leben über das, was mir zumeist am Herzen liegt, offen und ohne Rückhalt gesprochen habe. Vergessen aber auch Sie mich nicht! Es klingt thöricht und anmaßend, wenn ich Ihnen sage, daß, wie wir eben den Rain dahin schritten, mir der Gedanke kam, Sie würden einst denselben Weg zurücklegen, um bei mir eine Zuflucht zu suchen; aber ich habe öfters so wunderliche Einfälle, die scheinbar mit der Wirklichkeit gar nichts zu thun haben, so daß ich selbst manchmal beinahe glaube, was die Leute sagen: es sei nicht so ganz richtig hier!«

Er deutete auf seine Stirn und schaute Wolfgang mit einem traurigen Lächeln an.

»Sie sind zu viel allein, Herr Schmalhans,« sagte Wolfgang, »die Einsamkeit ist ein begeisternder, aber auch berauschender Trank. Warum hat Sie das Schicksal keine Lebensgefährtin finden lassen, sanft und gut, wie Sie sie brauchten!«

»Lieber junger Herr,« sagte Balthasar; »ich habe immer gefunden: das Schicksal, das sind wir selbst mit unsern Schwächen und Tugenden. Ich habe eine kurze Thorheit lange büßen müssen und büße sie noch. Ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Sie die Klugheit vor einem ähnlichen Schicksale bewahren möge. Aber damit hat es bei Ihnen keine Noth. Sie sind klug und brav, und ich bin ein halber Thor und ein ganzer Feigling; ein Vogel, dem der eine Flügel verstümmelt ist und der den andern nur dazu hat, um sich im Kreise herumzudrehen. Leben Sie wohl! recht, recht wohl!«

Die sanften großen Augen des armen Mannes füllten sich mit Thränen; er drückte Wolfgang's Hand an seine Brust, wandte sich dann ab, zog die Mütze mit dem geborstenen Schirm tief in sein Gesicht und eilte, ohne sich umzublicken unter den Kastanien an dem Graben entlang nach dem Dorfe zurück.



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