Doris Freiin von Spättgen
Irrlicht
Doris Freiin von Spättgen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Graf Herlingen streckte seine langen Beine aus und rekelte sich mißmutig und gelangweilt auf dem harten, unbequemen Gartenstuhle.

»Nee, Kinder! Das lohnt sich wahrhaftig nicht, die Reise nach Breslau. Also deswegen habt ihr mich hierhergeschleppt? Man hat, weiß Gott, schon Besseres gesehen! Lappalien!«

Durch die noch recht erhebliche Wärme des prachtvollen Septembernachmittags und wohl auch veranlaßt vom raschen Gange durch das weitläufige Gelände der Breslauer Jahrhundertausstellung zeigte sein Gesicht und der unbedeckte Kopf eine beinahe rosenrote Farbe. Die spärlichen lichtblonden Haare klebten ihm an der Stirn.

»Na, höre mal, Vinzenz, so redet nur ein Stockblasierter oder ein Mensch, der sich langsam zum Idioten ausbildet!« brauste ein junger Mann entrüstet auf. »Du verdirbst einem ja die Stimmung, dummer Kerl! Diese Ausstellung ist einfach grandios, sowohl die ganze Anlage wie auch alle Sehenswürdigkeiten der sogenannten ›Historischen‹. Wie kommt man je wieder dazu, solch auserlesene Sammlungen von Kunstschätzen aller Herren Länder zu bewundern? Du bist ja heut ganz verrückt, Vinzenz!«

»Ach, laß ihn nur in Ruhe, Heinz! Er ist heute wirklich unausstehlich – schimpft und grunzt wie ein altes Marktweib. Mir selbst fällt es aber gar nicht im Traum ein, mich dadurch ärgern zu lassen!« rief Gräfin Raineria übermütig lachend und klappte den weißen Spitzenschirm, so daß ihr schönes Gesicht jetzt nicht mehr beschattet wurde, energisch zu. Dabei streifte ein fast verächtlicher Blick den leise brummenden Gatten, und bestimmt fügte sie hinzu: »Ich finde es reizend hier und unterhalte mich köstlich.«

Eine Gesellschaft von zehn Personen, elegant, selbstbewußt im Auftreten, reichlich ungeniert und laut, hatte auf der untersten Terrasse des Restaurants »Rheingold« einen Kreis gebildet und soeben eine Mahlzeit eingenommen.

Man plante noch weitere Gänge nach den »Dahlien«, dem »Lunapark« mit seinen harmlosen Vergnügungen und der Kolonialausstellung.

Bisher hatte sich die Unterhaltung nur um alles Sehenswerte gedreht.

Jeder schien voll Übermut und guter Laune; nur Graf Herlingen blieb unbefriedigt.

Wieder knurrte er: »Erst schleppt mich meine Frau bei der Hitze – anstatt aufs Land zu fahren – nach Berlin, und nun noch diese Extratour. Man gibt ja ein Heidengeld aus.«

»Sprich nicht solchen Unsinn, Vinzenz! Du wolltest doch selbst gern den Vortrag von Professor von der Thann hier hören,« warf die Gräfin wieder spöttisch ein und fügte, zu ihrem Nachbar gewandt, leiser hinzu: »Mein Mann wird neuerdings nämlich geizig. Er beguckt sich jedes Goldstück zehnmal, ehe es aus den Fingern rollt.«

»So –! Und gibt Hunderttausende, ja halbe Millionen für Spekulationen hin? Na, Vinzenz ist ein kluger Mann und wird sich hoffentlich nicht reinlegen lassen,« versetzte der mit Heinz Angeredete, wobei es um seine Mundwinkel zuckte.

»Ich bekümmere mich nie um seine Geldgeschäfte.«

Raineria warf bei diesem Ausspruch den Kopf zurück.

»Was – Vorträge von Professor von der Thann?« mischte sich nun eine andere Dame ein, und eine dritte lächelte überlegen: »Ja, demnächst im Konzerthaus, und der gefeierte Mann soll bereits in Breslau sein.«

»Wirklich? Seit wann?« Raineria, die das fragte, beugte sich über eine Krachmandel herab, welche sie mit ihren schlanken, beringten Fingern knackte.

»Seit gestern. Mein Bruder erzählte es, und der ist mit den Thorwalds bekannt. Er verehrt den alten Kanonikus und schwärmt für Professor von der Thanns reizende kleine Frau.«

»Ich kenne sie. Ziemlich unbedeutend – das Äußere wenigstens,« erwiderte Raineria, wobei ein seltsames Flimmern in ihren Augen aufzublitzen begann.

O, wenn sie alle wüßten, diese Menschen um sie herum, Verwandte, Bekannte, welche sich, meist im Auto von ihren Schlössern kommend, hier in der Ausstellung zusammengefunden, um einen heiteren Abend zu verleben – wenn sie wüßten, daß sie selbst einzig nur einen Zweck verfolgte. Ihn, Job Christoph, der nichts war als ein schlichter Gelehrter, ein Mann der Arbeit, ihn wollte sie sehen und sprechen. Ihre stark ausgeprägte Energie hatte alle Bedenken, jeden Widerspruch des Gatten besiegt, und so baute sie eben auf ihr gutes Glück! Also Job Christoph war bereits eingetroffen, und hier draußen, an dem Sammelplatze aller Fremden, mußte man ihm sicherlich begegnen.

Darum sollte die Ausstellung fortan das Feld ihrer Nachforschungen und Beobachtungen sein.

Was war nur seit München geschehen? Hatte er wirklich Pater peccavi gemacht und war als reuiger Sünder zu seiner Frau zurückgekehrt? War seine ihr in Berlin gezeigte Zurückhaltung nur Komödie, Asche über sengender Glut? – – –

Raineria unterhielt sich scheinbar angelegentlich mit den Anwesenden, als ob sie versuchen wollte, des Gatten mürrisches Wesen durch Liebenswürdigkeit zu entschuldigen. Keiner gewahrte ihre unruhig suchenden Blicke, mit denen sie jeden einzelnen der vorübergehenden Herren fixierte.

Jetzt hatten sich am anderen Tischende eine ältere Dame und ein junges Mädchen erhoben.

»Du mußt uns entschuldigen, liebste Raineria, daß wir genötigt sind, dieses gemütliche Zusammensein durch unseren Aufbruch zu stören,« sagte jene, »doch ich möchte noch vor der Abreise meine Schwester in Kleinburg besuchen, und um halb acht Uhr geht unser Zug.«

»O, wie schade, Tante Therry!« Raineria hatte sich rasch erhoben. »Das war allerdings nur eine kurze Freude; aber ich danke dir für dein Kommen. Und das Cousinchen wird uns mal in Wolfsberg besuchen, ja?« –

»Mit tausend Freuden!« sagte die Jüngere, und das Gesichtchen strahlte.

Alle hatten die Sitze verlassen, und Gräfin Wülkenitz reichte jedem die Hand.

»Weißt du was, Tante Therry, ich begleite euch noch die Strecke bis zum Ausgang. Ein bißchen Luftveränderung tut bei der Wärme hier unten ganz gut,« rief Raineria heiter.

»Nein, nein, liebes Kind, dich aus dem netten Kreise zu entführen, das kann ich ja gar nicht annehmen,« wehrte die Dame ab.

Allein jene zog bereits die Handschuhe an und nickte den übrigen lachend zu.

»Wir wollten doch aber gleich nach dem Vergnügungspark, Gräfin Herlingen!«

»Bleiben Sie aber, bitte, nicht zu lange fort!« riefen ein paar Stimmen.

»Ich komme dann direkt dorthin!« gab diese, mit dem Schirm winkend, zur Erwiderung.

»Wo treffen wir uns?«

»Am Tanagratheater. Adios.«

Und die drei Damen schritten davon.

Kaum zehn Minuten später überquerte Raineria den nach der Jahrhunderthalle führenden weiten Platz. – – –

Am Eingang der historischen Ausstellung drängte ihr eine wahre Menschenflut entgegen, und suchend, immer wieder suchend, glitten ihre fiebernden Blicke über die Menge hinweg.

»Du wirst und du mußt kommen, Job Christoph!« flüsterten ihre trotzig gewölbten Lippen.

Und Rainerias Herzschlag stockte plötzlich. War es Suggestion? Hatten tausend und aber tausend Wünsche, Sehnsucht, Leidenschaft ihn wirklich hierhergezaubert?

Dort, jener schlanke Mann – o, wie sie jede seiner Bewegungen kannte, seine Haltung, seinen Schritt – im blauen Anzug, den Panama tief in die Stirn gedrückt, daß nur sein Profil erkenntlich blieb, – dort ging er soeben langsam die Stufen zum Portal der »Historischen« hinan.

Ein schwer zu unterdrückender Jubellaut wollte ihrer Brust entquellen.

»Du, du, warum bist du in meinen Lebensweg getreten? Warum hast du mich so selig, so todelend gemacht? – Mein Kismet!«

Immer heißer wallte es in Raineria auf, und zögernd schritt sie ihm nach.

O, dort drin mußte er ihr gegenübertreten! Dort drin konnte er ihr nicht entgehen! Viele bewundernde Blicke folgten der wunderschönen Frau im weißen Jackenkleide, mit dem großen, von flockigen, weißen Paradiesreihern überwogten Hute, die wie träumend, kaum einen Gegenstand betrachtend, durch die Säle irrte, die topasschillernden Augen immer nur auf einen Punkt in der Ferne gerichtet.

Würde er wirklich umkehren, oder die lange Zimmerflucht durchwandern?

Die weite Mittelrotunde mit dem künstlerisch nachgebildeten Scharnhorstdenkmal war erreicht, jetzt schritt Job Christoph durch die offene Glastür in den dicht daranstoßenden hübschen, kleinen Gartenhof. Das versteckte, stille Plätzchen war von erfrischender Luft und Blumendüften erfüllt und gerade menschenleer.

Ohne Besinnen trat Raineria ebenfalls hinaus und stieß einen gutgespielten Ruf der Überraschung aus.

Ungläubig und wie benommen sah sie, als er sich umwandte, in sein bleich gewordenes Gesicht.

»Sie – hier – Gräfin!« stammelte Job Christoph völlig verwirrt, und deutlich gewahrte sie, daß er mühsam nach Fassung rang, seine Blicke jedoch dabei wie gebannt an ihren Zügen hafteten.

Reizend und schüchtern, gleich einem schmollenden Kinde, senkte sich der schöne Frauenkopf, wobei es flüsternd zu ihm hinüberklang: »Ich ahnte, wußte ja, daß Sie kommen würden, hier sind!«

Den Hut noch immer in der Hand, einen todestraurigen Zug um den fest zusammengepreßten Mund, steif, ohne sich zu rühren, stand er vor ihr, und dennoch zuckten seine Arme, seine Finger diesem Dämon an verführerischer Schönheit entgegen.

Gibt es wirklich übermenschliche Kräfte, die das Herz, den Sinn und alles Wünschen und Begehren des Mannes mit Stahl umpanzern können?

Die alte Macht! Allgütiger Himmel, die alte Macht! War sie noch immer nicht gebrochen? –

Wilden Wolkenfetzen ähnlich jagten die Gedanken durch des schweigsamen Mannes Hirn.

»Ja, nun rede doch, Job Christoph, rede und sage alles, was eine klare Vernunft sich mühsam zurechtgelegt, alles, was du ihr schreiben wolltest. Warum tatest du es nur nicht? Jetzt stehst du vor einer Alternative, die entscheidend für dich wird!« – – –

»Bleibe – genieße! Das Leben ist so kurz!« schrien böse Gewalten in seiner gequälten Brust.

»Geh! Brich die Brücken hinter dir ab! Willst du ein Treubrüchiger, ein Ehrloser sein?« mahnte das Gewissen.

Immer noch still und anscheinend eingeschüchtert schritt Raineria nun nach einer hinter Koniferenbüschen und hohen Staudengewächsen halb verborgenen Bank. Zwar mündeten die breiten Fenster eines Ausstellungsraumes direkt auf den Gartenhof; allein warum sollten zwei harmlose Personen, die sich schließlich vielleicht auch gar nichts angingen, nicht ausruhend dort sitzen?

Wer kümmerte sich, angesichts so vieler Sehenswürdigkeiten, um gleichgültige Menschen?

Er folgte zögernd, blieb jedoch seitwärts stehen, während Gräfin Herlingen sich niederließ und scheu, mit merkwürdig schwimmenden Augen zu ihm emporsah.

Endlich fragte sie stockend:

»Wir sind jetzt allein – Job Christoph, weltenfern allein – und auf solch eine Viertelstunde – habe ich seit langen – langen Wochen – gewartet! Sie wollten mir aber keine mehr gönnen! Das ist bitter hart – und ich weiß wirklich nicht – wie ich es verstehen und mir auslegen soll!«

Die tiefe Blässe in des Angeredeten Zügen war nun einer brennenden Röte gewichen, und abgerissen, gepreßten Tones entgegnete er:

»Verstehen? Ja, Gräfin – es ist gut und richtig, daß Sie dieses Wort selbst anführen – da wir beide doch endlich verstehen müssen, in welch irriger Verblendung, welchem Wahne wir befangen gewesen sind!«

»Und das ist alles, was – Sie mir jetzt sagen wollen?«

Ihre Stimme steigerte sich bis zu einem unheimlich hohen Diskant, und unter dem weichen Wollstoff ihrer Jacke hob und senkte sich die mächtig arbeitende Brust.

»Gräfin – bitte, nur Ruhe – Fassung!«

Nun war er bis dicht an die Bank herangetreten und sah schmerzbewegt und voll banger Sorge zu ihr nieder.

»Nicht so – bitte, nicht so! Wir müssen ruhig, wie zwei Freunde, miteinander reden,« bat er sehr leise.

»Es gibt keine Freundschaft zwischen Mann und Weib! – Entweder – oder ...« Sie stockte jäh.

»Dieses Oder ist meine heilige Pflicht! Ich habe eine junge, vertrauende Frau – Gräfin!«

Da lachte sie auf, höhnisch, grell.

»Und das, was vorher war – Job Christoph? Das einzige, was mein armseliges Dasein wert machte – es ist vergessen?«

»Das Schicksal ist unerbittlich – es schlägt tiefe Wunden. Wir müssen gefestigt werden.«

Da ging ein krampfartiges Zittern durch den schlanken Frauenkörper, und in Tönen, die an eine geborstene Glocke gemahnten, murmelte sie ohne jede Fassung: »Die Sehnsucht nach dir ist mit mir gegangen in meinem Leben; vielleicht war sie schon da, ehe ich dich kannte – es war die Sehnsucht, welche die Heimat, den Frieden sucht. Wie ein abgerissenes Blatt wird der Sturm mich nun verwehen – bis ...«

»Raineria! Barmherzigkeit, still!«

In ungestümem Griff hatte er nach ihrer Hand gelangt und diese an sich gerissen. Suchte er selbst einen Halt? Eisenfest hielt er die zarten Finger umspannt.

»Wenn ich bleibe – dann verliere ich jede Achtung vor mir selbst!« stöhnte er auf.

Hilflos wandten sich seine irrenden Blicke von ihr ab und trafen das hohe Fenster hinter der Sitzenden.

Aber seine fliegenden Pulse schienen plötzlich auszusetzen.

Was war das?

Ire? – War das nicht Ire, die eben dort drin langsam vorüberging und voll Entsetzen, als ob sie etwas Furchtbares erblickt, zu ihm hinausgestiert hatte?

Täuschung? Nein! O, diese Augen, diese holden, lieben Augen kannte er ja nur zu wohl.

Ire, die alles Unedle, Unreine verabscheute, deren ganzes Wesen nur den Abglanz höchster Sittenstrenge widerspiegelte! Ist es sein Schutzgeist, der dieses hehre Bild plötzlich vor seine Seele gezaubert hat? War sie es wirklich selbst, die ihn hier in Gesellschaft jener Frau gesehen? Jener Frau! –

Wie sonderbar! Empfindungen von Scham und Ekel erfüllten in diesem Augenblick Job Christophs Busen, und er fühlte sich so klein und verächtlich, so sündig und gedemütigt, daß der Glaube an sich selbst erst wieder neu geboren werden mußte.

Allgütiger Gott! Welche Erkenntnis – jene Frau! –

Was fesselte ihn denn noch an sie? Mußte er denn nicht längst erkannt haben, daß es einzig nur ihre blendende Schönheit gewesen, die ihn stets von neuem in ihre Netze gezogen hatte?

Untreue gegen den eigenen Gatten, verführerisch, voll Leidenschaftlichkeit bis an die Grenze des Schicklichen, ohne inneren Halt! –

Ire mit dieser zu vergleichen dünkte ihn heute Entweihung.

Job Christoph war in stolzer Abwehr mehrere Schritte zurückgetreten, dabei das Auge noch immer dem Fenster zugewandt.

Hatte Raineria den jähen Wechsel im Ausdruck seines Gesichts, den Zug von herbem Trotz, ja Widerwillen, wahrgenommen?

Sie machte eine ungestüme Handbewegung, und zugleich lag der feine Schildpattgriff ihres Sonnenschirmes plötzlich zerbrochen am Boden. Verächtlich schleuderte sie die Stücke mit dem Fuße fort und sprang empor:

»Unsere Unterhaltung fängt an, mich zu langweilen, Herr – Professor! Wenn Männer Pantoffelhelden und sentimental werden, so hat das stets einen Stich ins Komische. Auch ist mir meine Zeit heute recht knapp zugemessen. Freunde und liebe Verwandte erwarten mich draußen. Adieu!«

Lachend, doch mit einem häßlichen, schmerzverzerrten Grinsen, neigte Raineria den Kopf, und ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, eilte sie durch die Pforte ins Ausstellungsgebäude zurück.

* * *


 << zurück weiter >>