Doris Freiin von Spättgen
Irrlicht
Doris Freiin von Spättgen

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»Gestatten Sie, gnädiges Fräulein, daß ich Ihnen helfe? Die Fenster sind schwer und meist etwas verquollen. So! Ich darf es wohl völlig herablassen? Die Hitze ist wirklich arg.«

»O, danke vielmals. Sie sind sehr freundlich,« lautete der höfliche, doch zurückhaltend gegebene Bescheid.

In dem um die Mittagszeit leeren Gange des D-Zuges Berlin–München, die meisten Reisenden nahmen ihre Mahlzeiten im Speisewagen ein, standen eine Dame und ein junger Herr am Fenster. Sie benutzten nicht das gleiche Abteil, aber die erste Klasse, worin jener seinen Platz belegt hatte, stieß unmittelbar ans Damenabteil.

Ein paarmal waren seine Blicke der schlanken Gestalt im grauen Reisekleide, wenn sie während der schon mehrstündigen Fahrt gelegentlich aus der Tür ihres Abteils trat, forschend, fast bewundernd gefolgt.

Es lag etwas mädchenhaft Herbes, ein eigentümlicher Zauber echter Weiblichkeit über dieser Erscheinung. Der Ausdruck der zwar nicht regelmäßigen, doch sehr anmutigen Züge, halb sinnend verloren, halb verträumt, die großen, in intensiver Bläue leuchtenden, merkwürdig weit geschlitzten Augen, wie nach ungelösten Rätseln forschend oder fragend, suchend, über das Alltägliche hinwegsehend.

Sie hatte sich mehrere Minuten vergeblich bemüht, das Fenster im Gang herabzulassen, und war, darüber verstimmt, im Begriff, wieder auf ihren Platz zurückzukehren, als jene höfliche Anrede sie stutzen ließ.

Erstaunt begegneten ihre Blicke denen des Reisegefährten.

In seinen Augen lag freundliche Wärme und keine Spur von Zudringlichkeit; daher entgegnete sie, die nun durch das offene Fenster frei eindringende Luft wohlgefällig einatmend, mit halbem Lächeln:

»Weshalb die Wagen immer so schlecht gelüftet sind? Da drin jene beiden Damen sträuben sich mit aufreizender Rücksichtslosigkeit gegen jede noch so geringe Ventilation.«

»Im Speisewagen ist es besser – Gnädige.«

»So? Dann kann man sich ja während des Essens dort ein wenig erholen. Danke vielmals.«

Sie grüßte leicht und schritt ins Abteil zurück.

Der junge Mann hatte höflich den Hut gelüftet, und als er aufsah, begegneten seine Augen am Eingange des Nebenabteils einem lachenden Frauengesicht.

Die Dame schien offenbar Zeuge seines Gesprächs mit der Fremden gewesen zu sein.

Ein leichtes Zucken des Unwillens um den Mund, trat er näher.

»Netter kleiner Käfer das – nicht, Stephan? Habe das schicke Persönchen schon in Berlin auf dem Bahnhof beobachtet. Adrett und ziemlich sicher. Vinzenz würde sagen: ›Kommt aus einem guten Stall!‹ Findest du es nicht auch?«

»Ich habe das bei den zehn Worten unserer Unterhaltung wirklich nicht beurteilen können. Aber die junge Dame ist allerdings hübsch.«

»Hübsch? Keine Spur! Vielleicht Männergeschmack. Dieses Fragende, Unergründliche im Blick und ein Märtyrerzug um den Mund richten oft mehr Unheil an als das schönste Gesicht. Bitte, gib mir eine Zigarette, Stephan, dann wollen wir essen gehen. Ja?«

»Gewiß, Ary. Ich habe tollen Hunger. Es ist bereits zwei Uhr.«

Ob die Fremde wohl ebenfalls ihre Mahlzeit im Speisewagen einnehmen würde? dachte Stephan Sumiersky mit einem Gefühl leichter Erregung. –

Angenehmer Mokkaduft durchzog den Speiseraum, wo eine große Anzahl Reisender sich niedergelassen hatte.

In der rechten Fensterecke, an einem winzigen Tischchen, saß jetzt auch Irene von der Thann. Ohne im mindesten darauf zu achten, daß der höfliche junge Mensch ebenfalls anwesend und in Gesellschaft einer Dame, nur wenige Schritt entfernt, bereits Platz genommen, hatte sie sich dorthin gesetzt.

Erst nach einer Weile, nachdem dieser sich artig grüßend erhob, wurde sie auf ihn aufmerksam. Da er seitwärts saß, war nur das Profil erkennbar; gutgeschnittene, vielleicht etwas zu weiche Züge, die indes keineswegs charaktervoller Männlichkeit entbehrten.

Ires Blicke ruhten jetzt auch kurz auf der neben ihm sitzenden jungen Frau.

Sollte das ein Ehepaar sein? Nein, dazu war der Mann wohl doch noch zu jung. Vornehme Leute vielleicht, – aber der goldblonde Kopf dort, mit den seltsam flimmernden Augen und den pechschwarzen Brauen darüber, die ganze, halb nachlässige, halb kokett selbstbewußte Haltung, der gar zu sichtlich getragene Schmuck an Ohren und Fingern, das alles konnte entweder auf etwas Distinguiertes oder vielleicht auch auf eine jener zweifelhaften Erscheinungen deuten, denen man zuweilen in Begleitung eleganter Männer begegnet.

Es war Ire sogar peinlich, ab und zu von dieser Frau gemustert zu werden. Sie bemühte sich daher, fortan von jenen Fremden weiter keine Notiz zu nehmen, und aß schweigend ihre Mahlzeit.

Um so mehr schien der Nebentisch, insbesondere die Dame, ein reges Interesse an der Einsamen zu haben.

»Sie ist verheiratet. Siehst du den Trauring an ihrer Hand, Stephan?«

»So? – Allerdings.«

Der Angeredete strich die Asche seiner Zigarette ab.

»Nun, besonders glücklich scheint das Wesen nicht zu sein. Der Gesichtsausdruck ist herb traurig. Gedrückte Seelenstimmung. So eine Art Nora!«

»Du machst dir gleich einen Roman daraus, Ary.«

»Vielleicht Witwe, oder – doch – pst! Sie hat soeben ihre Rechnung beglichen und redet mit dem Zahlkellner. Horch!« ...

Jedes Wort klang vom Nebentisch zu dem Paar hinüber.

»Wo halten wir das nächste Mal für länger?«

»In Hof, gnädige Frau, – sechs Minuten.«

»Gut, dann wollen Sie mir wohl durch irgendeinen Boten dieses Telegramm befördern lassen.«

»Gewiß, ich tue es selbst – zu dienen.« Der Kellner buchstabierte stockend: »Professor – von der Tha–a...«

»Bitte, warten Sie, ich werde Ihnen diese Zeilen vorlesen.«

Ire nahm das Blättchen wieder zur Hand. »Also: Professor Job Christoph von der Thann, Pegli, Hotel Méditerrané. Bin heute abend München. Erwarte Dich dort. Ire.«

In den schönen Zügen der blonden Frau am Nebentische war eine jähe Veränderung vorgegangen. Der spöttisch lächelnde Ausdruck schien plötzlich dem eines Erschreckens gewichen, während die vollen, roten Lippen ganz eigentümlich zu zittern begannen.

Job Christoph von der Thann! Das war ja sein Name, dieser Name, nach dem sie zwei lange Jahre gefahndet, alle in- und ausländischen Zeitungen durchforscht, und wenn sie ihn einmal schwarz auf weiß gedruckt zu Gesicht bekommen, dann war der Mann, der diesen schlichten Namen trug, in irgendeinem anderen Weltteile, und man sprach von ihm mit Achtung und Bewunderung als von einem berühmten Forscher und mehr!

Aber nie, nie mehr auf ihren eigenen vielen Reisen, war sie ihm selbst begegnet. Wie sollte er, der Vielgefeierte, auch ahnen, daß eine Gräfin Herlingen, nein, daß Ary Sumierska mit fiebernder Ungeduld den Augenblick – ach, nur einen kurzen Augenblick – herbeisehnte, ihm wieder gegenüber zu stehen.

Und dort, ein paar Schritte nur von ihr entfernt, saß sein Weib – anmutig, jung, gewiß der Liebe eines klugen, bedeutenden Mannes wert. In diesen langbewimperten blauen Augen, am Herzen dieser fast madonnenähnlichen Frau hatte Job Christoph also das in Strelnow genossene Glück vergessen?

Ja, was bedeutete Männerliebe, was Treue, was Erinnerung! Welch leerer Wahn! Wie töricht, dumm, daran zu glauben!

Warum aber zehrte sie selbst noch immer an dem Einst? Gefühlsduselei, nichts weiter! Nur der Gedanke, das Prickelnde des ehemals genossenen Triumphes, läßt sich nicht so leicht verschmerzen.

Doch schien es damals, während jener Strelnower Tage, wirklich nur geschmeichelte Eitelkeit gewesen zu sein? Waren darauf nicht zwei Jahre voll anderer Triumphe gefolgt? Sprachen nicht die Zeitungen auch von ihr, ihrer Schönheit, ihrer hohen Stellung, ihren Kleidern? Könige und Fürsten hatten ihr gehuldigt, genau so, wie sie es sich tausendmal als Mädchen erträumt.

Doch der Nachgeschmack von all den Genüssen war bitter, und bitterer noch das stete Zusammenleben mit einem Manne, der ihr innerlich weltenfremd geblieben, dessen geistige Interessen auf einem so niedrigen Niveau standen und sich meist nur um Sport, Rennställe und Spekulationen im großen Stil, wozu andere, gewinnsüchtige Leute ihn verleiteten, drehten, einem Manne, der unter dünkelhafter Selbstüberhebung ein Verstandesdefizit zu verbergen sich bemühte.

Nach allen eleganten Sammelplätzen der großen Welt schleppte er sie – überall sollte seine Frau gefeiert werden und glänzen. Ach, und sie war so müde – müde! Hatte dieses Dasein überhaupt noch einen Wert?

O doch – Stephan! Hier neben ihr saß der liebe, prächtige Junge, genau so fest und lauter von Charakter, brav, solide wie vor zwei Jahren, ein Mensch, der in unermüdlicher Arbeitslust, dabei mit bescheidenen Mitteln das sich schon damals gesteckte erste Ziel bereits spielend erreicht hatte. Nun arbeitete er als Referendar an der Regierung zu Potsdam und wünschte zuversichtlich, festen Fuß im Staatsdienste zu fassen.

Ja, Stephan blieb der Lichtblick und Sonnenschein ihres Lebens, und für die Schwester galten es die glücklichsten Stunden, wenn sie den Bruder wieder einmal allein genießen und ihn so recht mütterlich betreuen konnte. Stephans Urlaub hatten jetzt beide dazu benutzt, mehrere anregende Tage in Berlin zu verbringen, woran sich dann eine längst geplante Reise nach München schloß, woselbst Vinzenz später mit ihnen zusammentreffen wollte.

Auffallend erschien es Raineria, daß es Stephan, wie durch eine geheime Macht veranlaßt, immer wieder nach dem Isar-Athen zog.

»Ich muß doch den armen Kerl, unseren Namensvetter, wieder mal aufsuchen und nach seinem Befinden sehen, sonst verkümmert er mir gänzlich,« sagte Stephan dann meist als Entschuldigung.

Im vergangenen Jahr hatte Gräfin Ary dem jungen Maler die Mittel zu einem mehrmonatigen Aufenthalt in Davos gestiftet, was Stephan noch jetzt mit Dank erfüllte. Allein eine fortschreitende Besserung war auch jetzt nicht an dem Brustleidenden wahrzunehmen.

War Stephan in München, so verging fast kein Tag, an welchem er Robert Sumiersky nicht Wein, Obst oder Blumen gebracht hätte.

Guter Bruder! dachte Raineria oftmals gerührt. Ja, wessen Seele von so rein menschenfreundlichen Gefühlen bewegt wurde, wer innerlich so makellos, sittenstreng und unberührt über irdischen Schmutz hinwegschreitet, der ist wirklich beneidenswert.

Und ihr eigenes Gewissen? War das vielleicht nicht doch eine Beruhigung, ein Trost, daß sie um des Bruders willen gesündigt und jenen fremden Menschen, die allerdings ein größeres Anrecht an das ererbte Geld besaßen, freventlich dieses Recht verkürzt hatte? Immer und immer, im Trubel des ewigen Genusses, der Vergnügungen, in einsamen Stunden und schlaflosen Nächten, mußte Raineria über jene quälende Frage grübeln. Keiner löste sie! – –

Und dort drüben saß Job Christophs junges Weib! – – –

»Was ist dir, Ary? Du siehst plötzlich so blaß aus!« fragte der Bruder und sah ihr besorgt und teilnehmend ins Gesicht.

»Mir ist ein wenig übel. Ich glaube, der Fisch war nicht frisch. Komm, gehen wir in den Gang hinaus. Dieser entsetzliche Speisegeruch und das Stimmengewirr macht mich schwindelig.«

Und ohne noch einmal nach Irene von der Thann hinüberzusehen, hoch und stolz aufgerichtet, verließ die junge Frau, von Stephan gefolgt, den Speisewagen.

* * *


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