Doris Freiin von Spättgen
Irrlicht
Doris Freiin von Spättgen

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Wie es von jeher ihre Gewohnheit war, spät aufzustehen und zu frühstücken, so ruhte Raineria auch jetzt in der elften Morgenstunde im eleganten weißen Spitzenschlafrock, dessen weite Ärmel die schöngeformten Arme sehen ließen, auf dem Liegesofa und rührte gedankenvoll in einer Tasse Tee.

Die Platte mit allerhand einladend servierten Sachen stand neben ihr auf einem Tischchen; doch sie schien kein Verlangen danach zu haben.

Unruhe, Mißmut und Enttäuschung prägten sich deutlich um den zuweilen bebenden Mund.

In ihrem Schoß lag ein prachtvoller Rosenstrauß, dem täuschend ähnlich, welchen sie auf ihrem Porträt dem Beschauer entgegenhält.

Vor einer Viertelstunde hatte die Kammerzofe ihr die Blumen mit einem Briefchen überbracht, doch wurde letzteres nach dem Lesen mit einer Geste des Zornes beiseitegeschleudert.

Mehreremal waren darauf leise Töne, wie von unterdrücktem Weinen, über ihre Lippen geschlüpft, dann langte sie ungeduldig nach dem Tee.

»Den ganzen gestrigen Tag umsonst gewartet! Auf jedes Klopfen an der Tür, jeden Laut umsonst gehorcht! Der süße Trank hat einen bitteren Nachgeschmack!« flüsterte sie, wobei der silberne Löffel in ihrer Hand leise zitterte.

Nach einigen Minuten griff Raineria abermals nach dem Brief.

Keine Überschrift! Gut! Vorsicht – hm! Doch im Ton und Stil lag etwas Aufreizendes, etwas, was wehe tut und Gift für die Nerven ist.

Die großen, jetzt halbverschleierten Augen flogen wieder über die mit eigentümlich kleiner, runder Schrift verfaßten Zeilen hinweg.

Wie war doch jedes Wort reiflich überlegt. Lächerlich!

»Diese Rosen sollen mein gestriges Nichtkommen entschuldigen. Wir hatten eine Konferenz von Fachleuten mit darauffolgendem Essen.

Heute gemeinsamer Ausflug nach Tegernsee. Muß voraussichtlich Ende des Monats Professor Ramberg, der noch immer leidend ist, in Breslau vertreten.

Werde mir aber erlauben, noch vorher meinen Abschiedsbesuch zu machen.

Mit verehrungsvollem Handkuß

J. Ch. v. d. Th.« ...

Plötzlich ging ein Aufblitzen über Rainerias Gesicht.

Also in Breslau vertreten! Ist dort nicht gerade jetzt jene viel besprochene Jahrhundert-Ausstellung? Könnte ich ihm nicht zufällig dort begegnen?

O du seltsamer, aus zwei Naturen bestehender Mensch! In meiner Nähe von Hingebung und Leidenschaft durchglüht! Meinen Augen entrückt – alsbald ein Zagender – ein Schwächling. Doch Geduld – Job Christoph, es gibt noch Gewalten – Fesseln, die – – –

Starkes Klopfen an der Tür ließ die Träumende zusammenschrecken, und rasch versteckte sie den Brief.

Ihr Ruf klang gereizt:

»Bitte!«

Stephan trat ins Zimmer, und während er langsam näher kam, fragte er gepreßt:

»Störe ich etwa? Du frühstückst noch?«

»Keine Spur!«

Allein befremdet schaute sie zu ihm empor, weil eine krankhafte Blässe über seinen Zügen lagerte. Die sonst so fröhlichen, klaren Augen lagen tief in ihren Höhlen.

»Herrgott! Wie siehst du aus, Junge? Bringst du etwa irgendeine Hiobspost? Das fehlte gerade noch! Oder ein kleiner Kater? Wie?«

Sie reichte ihm die Rechte hin, die er lässig ergriff, doch nicht küßte wie sonst. Seine Blicke ruhten unverwandt auf den Rosen in ihrem Schoß.

»Willst du essen, Stephan? Da – bediene dich nur; aber reiche mir mal diese Pfirsiche herüber. Ich nehme stets Obst in der Frühe.«

Er schüttelte den Kopf, tat jedoch wie die Schwester ihm geheißen.

Mit ihren schmal geformten Zähnen biß sie herzhaft hinein.

Etwas Gezwungenes, Unstetes lag in ihrem Wesen, und sie vermied noch immer, den Bruder anzusehen.

»Wo ist dein Mann?« fragte er eigentümlich schleppend.

»Ahne ich nicht. In der Stadt vielleicht. Geschäfte natürlich! Er steckt ja bis über die Ohren in jenen neuen Unternehmungen. Wolltest du ihn sehen?«

»O nein – im Gegenteil. Es ist mir lieb, dich allein zu finden, Raineria. Ich möchte einmal über eine mir sehr am Herzen liegende Sache mit dir reden.«

»Komisch! Wie du das sagst, Stephan! Du hast ja förmlich einen bösen Blick.«

Sie setzte sich nun halb auf und schob die Rosen bis zum Fußende des Liegesofas.

Nun begegneten auch ihre Augen prüfend, fast durchbohrend den seinen.

»Ach natürlich, die alte, langweilige Geschichte mit deinem Schützlinge, der wohl mal wieder Geld braucht. Na, sag's nur bald, um welchen Betrag es sich handelt. Ich glaube, man mißbraucht dich, Stephan!«

»Wie kannst du so etwas nur äußern? Das kränkt mich! Robert Sumiersky hat mich noch nie um etwas gebeten, und ich muß ihm jede Erleichterung förmlich aufdrängen. Nebenbei scheint in seinem Zustande plötzlich eine ziemlich ernste Wendung eingetreten zu sein. Ich besuchte ihn noch gestern abend und fand ihn auffallend matt. Sein Vater in Neuyork ist gestorben, und diese Nachricht hat den Leidenden ganz besonders aufgeregt.«

»So – der Alte ist tot?«

Raineria wiegte sinnend den Kopf.

»Ja – und ich will nun alles, alles aufbieten, daß Robert am Leben bleibt. Er ist mir wirklich ein Freund geworden,« gab er tiefernst zurück.

»Was bist du doch für ein seelenguter, lieber Mensch, Stephan! In dir gipfelt mein ganzer Stolz – mein Lebenszweck!« sagte sie in einem Gemisch von Weichheit und Sentimentalität.

Der Angeredete warf den Kopf trotzig in den Nacken, und indem er nun dicht an das Ruhelager trat, rief er mit einer an ihm völlig fremden Härte: »Ich wünsche aus deinem Munde durchaus keine Lobsprüche über meine Eigenschaften und Handlungen, Raineria, denn, so tief schmerzlich es immerhin auch ist, ich muß es aussprechen: meine Liebe, Dankbarkeit und brüderliche Verehrung für Dich sind seit einer für uns beide unseligen, verhängnisvoll gewordenen Stunde in Gefühle der Empörung – um nicht schroff zu behaupten – Verachtung umgewandelt worden!«

»Stephan! Was fällt dir ein, mich in solcher Weise zu beleidigen! Das ist roh! Du hast kein Recht dazu!«

Wie mit Purpur übergossen, in den Augen eine unheimliche Glut, war sie vollends aufgestanden und maß den Bruder herausfordernden Blickes.

»Das Recht jedes anständig und sittenstreng denkenden Mannes,« versetzte er schroff.

»Wieso?«

»O, du verstehst mich schon! Ich habe zufällig etwas sehen müssen, was mich in deinem Namen erröten läßt!«

Seine Hand wies nach der Tür des anstoßenden Salons.

»Du bist ein Narr, ein Tugendpinsel immer gewesen, der mit seiner asketischen Anschauung die Welt verbessern will. Hahaha! Besinne dich nur, wie du mir damals, in Strelnow, schon Moralpredigten gehalten hast!«

»So –. Also damals hat die Sache bereits begonnen?«

Er fragte barsch.

»Blödsinn! Fällt mir gar nicht ein, mich von dir ausfragen zu lassen. Was man seinem eigenen Gewissen schuldig ist, geht niemand an, hörst du?«

»Allerdings. Ich spreche ja nicht bloß von dir, Raineria. Du stehst aber im Begriff, mit roher Hand ein Glück zu zerstören.«

Seine Stimme klang plötzlich weicher.

»Bist du so genau unterrichtet?«

»Ich kenne Frau von der Thann bereits genügend, um zu vermuten, daß sie jeden Eingriff in ihre ehelichen Rechte ganz anders beurteilen würde als viele Frauen, gleich dir, die sich kein Gewissen daraus machen, mit verheirateten Männern zu liebäugeln und sich von ihnen umarmen zu lassen.«

»Schweig! Ich brauche keinen Sittenrichter!«

Die aufgeregte Frau fuhr mit den Armen durch die Luft und rief in entfesselter Leidenschaftlichkeit: »Oh! Das ist nun der Dank, den man von einem geliebten Bruder, einem Menschen, für welchen ich mein Glück, meine Seelenruhe geopfert habe, erntet! Nur deinetwegen, Stephan, um dir den Besitz von Strelnow, das andernfalls hätte verkauft werden müssen, zu sichern, bin ich Vinzenz' Frau geworden! Deinetwegen – habe ich ...« – sie zögerte – »nein, das brauchst du nicht zu erfahren, er und ich wissen es allein und ...«

Rainerias Stimme versagte, und höhnisch sah sie ihn an.

»Wer? Was weiß er?«

Stephan maß die Aufgeregte mit erschrecktem, ahnungsvollem Blick.

»Ja, gewiß – mein Herr Genosse! Derjenige, welcher mich nicht hindern konnte, eine nichtswürdige Handlung zu begehen, den die Liebe zu mir blind und energielos gemacht, der in seiner ritterlichen Ehrlichkeit aber dem Vater dennoch meinen bösen Bubenstreich bekannt hat,« zischte sie, wobei ihre schönen Züge einen häßlichen, tückischen Ausdruck annahmen und der Mund sich verzerrte.

Ohne Verständnis sah der Bruder auf die Fassungslose.

Sprach Raineria irre?

In kaum mehr zu bändigender Heftigkeit sprudelte sie weiter:

»Doch schließlich – wozu Rücksichten nehmen? Wozu mich besser hinstellen, da ich in deinen brüderlichen Augen ja ohnedies tief genug gesunken bin! Magst du daher die Schmach, welche ich nun schon zwei Jahre mit mir herumschleppe, mit mir teilen. Ändern kannst du es ja auch nicht mehr. Futsch – ist futsch! Und ein kleiner Dämpfer für dein abscheuliches Benehmen heute dürfte dir ganz dienlich sein, Brüderlein!«

Von düsteren, peinigenden Vorahnungen erfüllt, hatte Stephan ihr Handgelenk mit festem Drucke umspannt und stieß einen Weheruf aus:

»Die Urkunde –! Der Stammbaum – er ist – ist ...?«

»Allerdings – darum handelt es sich!« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Er hatte ihn gefunden, endlich, und tadellos zusammengestellt! Aber ich – in meiner Enttäuschung, meiner sinnlosen Wut darüber, daß jener Amerikaner doch des alten Onkels rechtmäßiger Erbe war – habe das Schriftstück – verbrannt, hörst du, verbrannt!«

»Allmächtiger Gott! Und warum?«

»Tor! Um dir das Geld zu sichern, welches nach Fug und Gesetz den – anderen gehörte!«

Als ob ein Faustschlag ihn niedergeschmettert, sank Stephan auf einen Sessel und bedeckte das Gesicht.

Kein Laut drang über seine krampfhaft geschlossenen Lippen. In seinem Innern tobte ein Sturm.

Das hatte die eigene Schwester getan? Ihre Gefallsucht, ihre Leichtfertigkeit, ihre gewissenlosen Verführungskünste, das alles schien in Stephans Augen tausendmal entschuldbarer als jenes entsetzliche, nie zu sühnende Vergehen Menschen gegenüber, die sich in steter Sorge und Plage ums tägliche Brot an den einzigen Rettungsanker, die Familienurkunde, angeklammert hatten. Der alte Mann drüben in Amerika war tot. Das Sündengeld aus Rainerias Hand mußte ihm wohl zum Fluch geworden sein. Der Sohn, krank, aller Unbill des kärglichen Daseins ausgesetzt, aber immer demütig, dankbar, nur Milde und Güte und mit einer Seele voller Menschlichkeit. Und diesem Unglücklichen hatte ein schmählicher Betrug jedwede Selbständigkeit, jeden sorgenfreien Lebensgenuß versagt! Gab es denn etwas Mitleidloseres, Grausameres auf dem Erdenrund? »Um des Bruders willen«, so hatte die kaltherzige Frau dort drüben gesagt. Entsetzlich! Er selbst sollte genießen, am unrechten Gut sich erfreuen, er sollte – –!

Stephan vermochte nicht weiter zu denken. Unsicher, einem Trunkenen ähnlich, erhob er sich und machte ein paar Schritte nach der Schwester hin.

Zorn und Empörung glühten jetzt in seinen sonst so warm und freundlich blickenden Augen, und fast hatte es den Anschein, als wolle er den Arm erheben gegen jene, die er bisher in brüderlicher Liebe und Dankbarkeit verehrt. Doch nur unartikulierte Laute, ein Gurgeln entrang sich seinem Munde.

Dann reckte er sich mühsam empor und sagte, ohne Raineria anzusehen, völlig tonlos:

»Diese Stunde trennt uns beide für immer. Ich habe nun deutlich erkannt, daß ich von heute ab, ohne mich je wieder von dir beeinflussen oder leiten zu lassen, meinen ferneren Lebensweg zurücklegen werde, erkannt, daß jede weitere Gemeinschaft zwischen uns unmöglich ist. Möge Gott dir verzeihen!«

Immer noch wankend, schritt Stephan an ihr vorüber aus der Tür. –

* * *


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