Doris Freiin von Spättgen
Irrlicht
Doris Freiin von Spättgen

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München, 28. September 1912.

Lieber Vater!

Gestern hatte mich Ary für eine Stunde besucht. Ihr Mann steckt noch in Baden-Baden, wo Pferde von ihm laufen.

Ary sieht glänzend aus, nur etwas müde. Herlingens führen aber auch ein gar zu hetziges Leben. Auf allen eleganten Plätzen der Erde schleppt Vinzenz die Frau herum. Wenn man so klotzig viel Geld hat und mit dem Komfort reisen kann wie er, da erscheint einem solch ein Luxus vielleicht verständlicher.

Ob aber Ary glücklich ist? Ich meine, von Herzen glücklich?

»Sentimentaler Kerl!« höre ich Dich rufen, Vater. Du hast am Ende recht. Ich nehme das Dasein zu ernst, bekümmere mich zu sehr um die Kontraste, die Ungerechtigkeit im menschlichen Sein.

Wenn ich über Vinzenz' Mittel verfügte, würde ich vor allen Dingen versuchen, mich auf etwas karitativere Weise zu betätigen. Großer Gott, was gibt es doch für Elend! Und gerade über eine Sache, die mich seit zwei Wochen fortgesetzt beschäftigt und in Anspruch nimmt, will ich Dir heute schreiben. Von meinem Gesanglehrer, Herrn Ohnesorge – weißt Du, Vater, ich nehme wieder Unterricht – also: Herrn Ohnesorge, der auch in Malerkreisen verkehrt, wurde ich gefragt, ob mir bekannt sei, daß ein junger Sumiersky sich seit längerer Zeit in München aufhielte. Keine Spur. Ich wußte ja überhaupt nur von jenen Namensvettern in Amerika, deren Du, betreffs der Stammbaumsache, einmal gegen mich erwähntest. Nun machte mir mein Gesanglehrer eine so traurige Beschreibung von der jämmerlichen Lage des jungen Mannes, daß ich bat, ihn mir doch einmal zu schicken. Ein Sumiersky, denke doch, wie peinlich. Und er kam. Ich habe noch nie einen Menschen aus unseren Kreisen dermaßen heruntergekommen und unterernährt gesehen.

Eine langaufgeschossene, dürre Gestalt, an der das abgeschabte, braune Samtröckel und die geflickten Beinkleider förmlich schlotterten. Das Gesicht abgezehrt, mit Zeichen von hungriger Gier, und in den Augen ein Ausdruck: »Ich kann nicht mehr!«

Ich war entsetzt, Vater! Und das ist der Sohn jenes Mannes, mit dem Du wohl noch immer keinen Vergleich abgeschlossen hast, der einzige Sohn jenes amerikanischen Sumiersky, der seit vielen Monaten darauf wartet, endlich zu seinem vermeintlichen Rechte zu gelangen. Wie der junge Mensch hier behauptet, ist sein Vater der rechtmäßige Erbe des litauischen Onkels, dessen Hinterlassenschaft Du angetreten hast. Ja, wo sind die Beweise?

Ary weist mich stets an Dich, aber sie schenkte mir 500 Mark für den armen Kerl, damit er sich mal anständig kleiden und sattessen könne.

Erst hielt ich den etwa Dreißigjährigen für einen Schwindler; es laufen ja so viele dergleichen Subjekte herum. Doch seine Papiere sind völlig in Ordnung, vom deutschen Konsulat in Neuyork beglaubigt.

Ich ließ ihn erzählen. Sein Großvater, welcher vor Olims Zeiten schuldenhalber nach Amerika ausgewandert ist, war schließlich ein Trinker geworden und in Armut gestorben. Nur habe er täglich von einer großen Erbschaft in Litauen gefaselt. »Ich bin der einzige, rechtmäßige Anwärter, nicht der Strelnower!« seien fast seine letzten Worte gewesen. Ein paar schmutzige Briefe jenes Onkels, der ihm einmal Geld geschickt habe, wiesen auch als schwacher Fingerzeig darauf hin.

Von seinem eigenen Vater spricht mein Schützling eigentlich wenig, er meinte nur, daß er sich durch Bureaudienst bei einem Notar ernähre und auf Anraten desselben Dir bereits mehrfach geschrieben und sogar mit einer Klage gedroht habe. Durch eine Summe von 80 000 Mark wolle er sich indes gütlich abfinden lassen. Du habest bis jetzt jedoch noch nicht darauf geantwortet.

Mein Pflegling, Robert heißt er – denn ich nehme mich wirklich nach schwachen Kräften seiner an – ist Maler, d. h. er pinselt vorläufig etwas zusammen, was er natürlich noch nicht an den Mann gebracht hat. Die Frage, ob er denn einzig wegen dieser Erbschaftsangelegenheit nach Deutschland gekommen wäre, bejahte er rückhaltlos. Sein Vater, die Mutter ist tot, habe ihm den letzten Rest seiner kleinen Ersparnisse zur Überfahrt im Zwischendeck gegeben.

Sobald der arme Junge in München etwas Geld verdienen könne, wolle er hier einen Anwalt annehmen und mit diesem zu Dir nach Strelnow reisen.

Ich weiß genau, lieber Vater, daß auch wir über keine bedeutenden Mittel verfügen, habe mich deshalb stets bemüht, Deine Kasse so wenig wie möglich in Anspruch zu nehmen. Hier jedoch muß etwas geschehen – das ist klar! Nimm also, bitte, soviel es tunlich, von meinem mütterlichen Vermögen und einige Dich schleunigst mit dem alten Mann in Neuyork. Vom gesetzlichen Standpunkt aus bist Du wohl allerdings nicht verpflichtet dazu, allein der sogenannte Erbstreit ist doch völlig unentschieden. Du vermagst Deine Rechte auch nicht klar, nur vom Hörensagen, aus mündlicher Überlieferung zu beweisen!

Also: um unser Gewissen zu beruhigen, als Männer von Ehre und Pflicht!

Sonst geht es mir gut. Ich hoffe zuversichtlich, demnächst meinen Referendar zu machen.

Ary sprach übrigens davon, Dich bald zu besuchen.

Wie immer, Dein dankbarer Sohn

Stephan

* * *


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