Doris Freiin von Spättgen
Irrlicht
Doris Freiin von Spättgen

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Wieder wie einst, an jenem sonnigen Frühlingstage, da er mit seinem kleinen Schützlinge die bedeutsame Unterredung gehabt hatte, schritt Kanonikus Thorwald durch die geradlinigen, buchsbaumumsäumten Wege seines Gartens.

Es war September geworden; aber noch blühten ein paar Karl-Druschki-Rosen, seine besonderen Lieblinge, und niedliche Monatsröschen auf niedrigem Gesträuch, und am Südgiebel des schlichten Hauses schimmerten goldige und blaue Trauben durchs üppige Laub. Freche Spatzen, von sorgender Hand verwöhnte, kleine, dreiste Kerle, hüpften über den Kies, und zwei gelbschnäbelige Amseln ließen sich durch die Nähe des großen Mannes keineswegs stören, sie flöteten auf dem Wipfel einer Tanne abwechselnd ihr Abendlied.

Heute jedoch hatte der alte Herr kein Auge und keinen Sinn für das traute Fleckchen Heimatboden.

Sein kluges, runzeliges Gesicht zeigte tiefe Sorgenfalten, und unter dem kleinen Samtkäppchen schillerte das immer noch volle Haar jetzt silberweiß.

Obwohl seit den in München verlebten Tagen kaum fünf Wochen vergangen waren, so sollte doch gerade die jüngst verflossene Zeit erhebliche Ansprüche an seine Kräfte und Nerven stellen, so daß die an ihm bekannte Rüstigkeit sichtbare Einbuße erlitten hatte.

Fräulein Gismondes Zustand, welcher anfangs eine ziemlich ernste Wendung zu nehmen den Anschein gehabt, besserte sich indes so weit, daß die Fünfundsiebzigjährige, obwohl rechtsseitig gelähmt und zuzeiten nicht mehr bei vollster Geistesklarheit, doch wenigstens im Rollstuhle gefahren werden konnte.

Der bis heute ausgedehnte Besuch von Irene bereitete ihr sogar lebhafte Freude.

Allerdings versah eine geschulte Pflegerin den keineswegs leichten Dienst bei der alten Dame, doch das jetzt welke und abgemagerte Gesicht bekam stets einen milderen Ausdruck, wenn die junge Frau sich freiwillig und liebreich um sie bemühte. Alles, was die Tante früher an der Nichte zu mäkeln gehabt, schien vergessen.

»Wann kommt dein Mann?« forschte sie täglich.

Doch Irene wußte darauf selbst keine Antwort zu geben, da gerade dieses Kommen sich ins Ungewisse hinausschob.

Kanonikus Thorwald fragte längst nicht mehr danach, und er vermied es auch sichtlich, seelische Angelegenheiten des jungen Paares zu berühren; aber die Sorgenfalte auf seiner Stirn wurde tiefer und tiefer.

Da mußte doch wohl ein dunkler Punkt in Jobs Vorleben gewesen sein, hatte der geistliche Herr in peinlicher Erkenntnis gefolgert.

Hing es wohl mit jenen vornehmen, eleganten Leuten in München zusammen?

Der Mann, ein schwatzhafter Ignorant, ohne irgendwelche wissenschaftliche Grundlage, nur oberflächlich geistig poliert. Die Frau schön, voller Geist, mit Augen, wie sie etwa die Schlange im Paradiese gehabt haben mochte.

Und diese Menschen streuten dem Jungen in einer Weise Weihrauch, die gefährlich werden konnte.

Am Vortragabend im Odeon hatte er ja genügend Gelegenheit gehabt, Beobachtungen anzustellen.

Sollte er Job, dem er das Liebste auf dem Erdenrunde anvertraut hatte – sollte er ihn dennoch überschätzt und dieser sich des Kleinods wirklich nicht würdig gezeigt haben?

Gewiß, es war auch wieder sehr beglückend, daß Irene, an der Tante Stelle, nun als Hausfrau in der Kurie waltete und sie ihn, als vortreffliche Fußgängerin, oft bei seinen Besuchen der Jahrhundert-Ausstellung begleitete – aber viel lieber hätte er sie doch in Berlin bei dem Gatten gewußt, wohin sie gehörte.

Durfte man Irenes Opferwilligkeit, die Kranke zu betreuen, noch länger in Anspruch nehmen und dem jungen Ehemann seine Frau entziehen?

Das alles waren peinliche Dinge, die der alte Herr innerlich allein mit sich verarbeitete und dabei immer qualvolle Erinnerungen von sich abzuwälzen bemüht war:

Dieses Sündenbabel Berlin! Wie war doch sein eigener Bruder damals in den Strudel der Lust, in den Taumel des Genusses hineingezogen worden, wie hatte auch er den Augen und Lockungen einer Frau erliegen müssen! – –

In inbrünstigem Gebet faltete der alte Priester oft die Hände:

»O Herr, lasse dem Kinde nicht das gleiche Schicksal beschieden sein wie der Mutter!«

Doch nein, keine unnötigen Sorgen.

Noch nie hatte er Irene traurig oder verstimmt gesehen.

»Job Christoph läßt grüßen, Onkel Gotthard! Er hat schrecklich viel zu tun, weil er doch in allen Sachen den noch immer kranken Professor Ramberg vertreten muß. Doch denke dir, nächstens will er bestimmt kommen, und er freut sich darauf, auch die Ausstellung endlich besichtigen zu können.«

Das hatte sie erst am Morgen in heiterem Tone zu ihm gesagt.

Aber der junge Mund bebte dabei leise und seltsam schmerzhaft, und die lieben blauen Augen senkten sich scheu zu Boden.

Ob des Onkels scharfe Blicke es wohl wahrgenommen? – –

Zur nämlichen Stunde saß Irene oben in ihrem kleinen, bereits als Mädchen von ihr bewohnten Mansardenstübchen und beendete einen Brief.

Der Schluß lautete:

»Wenn Du kommst, Job Christoph, dann weiß ich genau, daß jene unbedeutende Spannung zwischen uns, wie diese wohl in jeder Ehe einmal eintritt, überwunden sein wird. Daß Du aber kommen willst, ohne von mir gerufen und gebeten zu sein, macht mich sehr ruhig und glücklich.

Deine Ire.«

Als Kanonikus Thorwald am Nachmittag zur gewohnten Stunde von einem Krankenbesuch bei seiner Schwester, deren schönes, luftiges Zimmer im oberen Stockwerk, jedem Geräusch entrückt, nach der Gartenseite lag, zurückkam, trat ihm im Flur das Stubenmädchen mit einer Visitenkarte entgegen.

»Der Herr wartet unten.«

Er betrachtete das Blättchen in seiner gemessen ruhigen Art und las halblaut:

»Stephan Graf Sumiersky, Regierungsreferendar, Potsdam.«

Hm! – Das war doch jener sympathische, höfliche, junge Mann, den er damals in München kennengelernt und anläßlich Jobs Vorträge mehrere Male gesprochen hatte.

»Führen Sie den Herrn Grafen in mein Arbeitszimmer, Ida. Ich komme gleich,« erwiderte er kurz, und die Dienerin eilte treppab.

Hm – sonderbar!

Der Kanonikus schüttelte wiederholt den Kopf und überlegte eine Weile; dann begab er sich ebenfalls ins untere Stockwerk.

»Ich weiß wirklich nicht, wie ich diesen Besuch bei Ihnen motivieren soll, Herr Kanonikus. Allein ich rechne bestimmt auf Ihre Nachsicht, Güte und das wohltuende Verständnis Menschen gegenüber, die etwas Dringliches auf dem Herzen haben – was so deutlich in Ihren Gesichtszügen zu lesen steht –, und – und, da bin ich eben gekommen!« sagte Stephan beim Eintritt des Hausherrn, zwar befangen, doch offen und treuherzig, wie er immer sprach, und verneigte sich tief.

Über die ernste, gefurchte Mannesstirn flog nun ein milder Schein.

»Nun, ich freue mich, mein lieber Herr Graf, wenn ich Ihnen irgendeinen Rat geben oder nützen kann. Es ist ja stets beglückend, wenn das Alter der Jugend Vertrauen einzuflößen vermag. Also reden Sie getrost. Ich bitte.«

Freundlich geleitete er den Gast nach zwei bequemen, altväterischen Sesseln, und beide nahmen Platz.

Stephans frisches Gesicht war abgemagert, fast eckig geworden, und ein harter, müder Zug prägte sich um den von einem kleinen Bärtchen beschatteten Mund.

Trotzdem aber nahm die gefestigte Männlichkeit seines Wesens und Auftretens für ihn ein.

»Es ist durchaus nicht meine Absicht, weitschweifig zu werden, und Sie sollen bald den wahren Grund meines Kommens erfahren, Hochwürden, obwohl es mir sehr schwer fällt, Dinge zu berichten, die meine Familie direkt, jedoch auch – die Ihre indirekt angehen.«

Jetzt schoß es wie eine blitzartige Erleuchtung durch des alten Mannes Hirn; allein er entgegnete nichts, und der Jüngere fuhr fort:

»Ob ich ein Recht habe, mich hier einzumischen, das wollen wir vorläufig unerörtert lassen. Ich sehe nur die Notwendigkeit vor Augen, Sie zu ersuchen, mit allen Ihnen zu Gebote stehenden Mitten ein langsam, Schritt für Schritt nahendes Unglück zu verhüten.«

Stephans Lippen bebten, als er das beinahe heftig hervorstieß, und voll Schmerz und Trauer sah er in das ernste Greisenantlitz.

»Und ich – der Priester, ein alter Mann, der so weit ab steht vom eitlen Weltgetriebe, soll eingreifen in des Geschickes Räderwerk, soll einen Unbesonnenen, der Gefahr läuft, zermalmt zu werden, fest am Schopfe fassen und mit den Füßen wieder auf die Erde stellen? Nein, Herr Graf, dazu eigne ich mich nicht. Das scheint wohl ein Danaidenwerk!«

»O, Sie verstehen mich auch, wissen, worauf ich ziele. Ihr Blick ist scharf, Hochwürden, und das erleichtert mir erheblich die peinliche Sache.«

»Ich ahne, vermute nur. In solch tief schmerzlichen Sachen kann jeder unberufene Eingriff mehr schaden als nützen, mein lieber Graf.«

»Gewiß nicht, Herr Kanonikus – noch ist es Zeit. Allerdings scheint Gefahr im Verzuge, allein, ganz so schlimm, wie Sie vielleicht annehmen, ist es, gottlob, wohl noch nicht.«

Prüfend und mit stiller Verwunderung sah der Priester in das erregte, junge Gesicht.

Darauf entgegnete er freundlich:

»Gut, also – so reden Sie. Ich muß vor allem klar sehen, um objektiv urteilen zu können.«

Und Stephans bedrücktes, volles Herz quoll endlich über:

Von seiner Schwester leichtfertiger Sinnesart, ihrem Temperament und Charakter sprach er zuerst; wie sie anfangs aus purer Spielerei und müßigem Zeitvertreib in Strelnow mit Herrn von der Thann kokettiert und ihn in sich verliebt gemacht, allein bald darauf den Vetter Graf Herlingen geheiratet habe. Seines Wissens hätte jedoch während der verflossenen zwei Jahre nicht die geringste Verbindung zwischen ihr und von der Thann bestanden, bis der kritische und verhängnisvolle Wendepunkt in München gekommen sei. Gerade während jener Tage habe er selbst erst die drohende Gefahr, welche sich für beide daraus entwickeln mußte, erkannt und er wäre seitdem von steter Unruhe gefoltert gewesen.

»Sie lieben natürlich Ihre Frau Schwester sehr?« forschte teilnehmend der alte Herr.

»Ich habe sie geliebt und hochgestellt – bis es – um jener Angelegenheit willen zwischen uns zum Bruch kam.«

»Hm –! Traurig! Und nun wollen Sie die Verirrte wieder auf den rechten Weg zurückführen – da ich nicht annehmen kann, daß Ihre Sorge – oder Fürsorge Professor von der Thann allein gilt?«

Eine flammende Röte huschte über Stephans Stirn, und er bemühte sich, den fragenden Blicken des Geistlichen auszuweichen.

»Herr von der Thann ist doch – verheiratet, und die Ehe – das Glück ...« Er stockte.

»Selbstverständlich! Sie kennen ja übrigens auch meine Nichte, Herr Graf. Ire ist unser Sonnenschein, und ich ahne wohl – daß sie leidet. Etwas Fremdes ist plötzlich eingedrungen in ihre stille, heilige Welt,« fügte der Kanonikus mit schwankender Stimme hinzu.

Darauf richtete er sich wieder straffer empor und fragte gefestigt:

»Nun? Sie sind wohl aber noch nicht zu Ende? Was kam später?«

»Herr von der Thann reiste nach Berlin zurück, die Herlingens ebenfalls. Ich selbst hielt mich, soviel ich vermochte, unauffällig in deren Nähe auf und versäumte keinen von des Professors Vorträgen. Diese Art Spionage hatte etwas Verächtliches – doch um der guten Sache willen gab ich mich dazu her. Zu meiner Beruhigung mußte ich aber wahrnehmen, daß jener, ungeachtet meine Schwester fortgesetzt bemüht war, ihn zu sehen und zu sprechen, ihr tunlichst auswich. Ich muß auch offen eingestehen, daß ich allem Vorangegangenen zum Trotz viel Sympathien für den Professor hege. Ein Mann von solch hoher Begabung ist eben ein Ausnahmemensch und darf nicht kleinlich beurteilt werden. Ist er doch viel größeren Gefahren und Versuchungen ausgesetzt als unsereiner, der in der breiten Masse mit fortläuft. Raineria ist ja so schön und kann hinreißend sein, wenn es gilt, Herzen zu erobern. Gerade darum fürchte ich, daß vielleicht bald ein Etwas, was – wie Sie eben sagten: heilig ist – klirrend zerfallen könnte.«

Kanonikus Thorwald strich sinnend über die hohe Stirn. Tiefes Weh lag jetzt um den eingefallenen Mund.

Mehrere Minuten blieb es still im Zimmer. Das kleine Wörtlein heilig hatte ihm wie ein wunderbares Lied geklungen, das schmerzende Saiten in der alten Brust erweckte. Häßliche Schatten aus vergangenen Tagen tauchten wieder auf.

Und gerade jetzt, wo sein Lebensabend so still und voll Frieden sein konnte – jetzt – – –?

Die sonst so kräftige Stimme hatte einen matten Klang bekommen, als er leise fragte:

»Was soll ich also tun? Wie soll ich hier helfen?«

Stephan zögerte, doch es lag ein zielbewußter Ausdruck in seinem Blick.

»Sie wissen natürlich, Hochwürden, daß Professor von der Thann demnächst nach Breslau kommen will?«

»Ja, ich erfuhr es.«

»Nun –- die Herlingens haben, wie ich beiläufig hörte, auch den Plan, die hiesige Ausstellung zu besuchen. Um Ihnen das mitzuteilen, deshalb kam ich heute hierher. Der Zufall kann uns oft einen bösen Streich spielen, allein auch ebenso oft mitleidiger sein als die Menschen.« Befangen zögerte Stephan.

»Der Zufall? Hoch über allem Wissen, Wünschen und unserem dürren Verstände steht diejenige Macht, auf die wir unerschüttert bauen müssen, mein junger Freund!«

Der alte Herr reichte dem Gaste die welke Hand, welche dieser voll Wärme drückte.

»Ich danke Ihnen, Kerr Kanonikus!« Es lag viel in diesen kurzen Worten.

»Darf ich Ire, meiner Nichte, von Ihrem Besuche sprechen, Herr Graf?«

»Das überlasse ich Ihrem Ermessen, Hochwürden.«

Abermals flog eine heiße Röte über des jungen Mannes Stirn, so daß jener stutzte und die alten Augen feucht zu schimmern begannen.

Ablenkend sagte er: »Bleiben Sie länger hier, Herr Graf?«

»Nein, Hochwürden. Ich reise noch heute nacht zurück.«

»Aber ich hoffe, daß Sie vielleicht später einmal wieder den Weg nach meiner stillen Klause finden werden. Wir sind ja nun treue Verbündete. Die innige Zusammenarbeit muß Früchte tragen.«

Stephan schien unsicher. Die Antwort klang zögernd und gepreßt: »Auch das wollen wir der höheren Leitung anheimstellen, Hochwürden.«

»Sie haben recht, Herr Graf.«

Mit festem Händedruck nahmen die Männer voneinander Abschied.

Kanonikus Thorwald geleitete den Gast bis an die Tür. Dann stand Stephan wieder draußen in dem totenstillen Flur.

Einige Male atmete er tief und schwer und trat an das dort befindliche, nach dem Garten mündende Fenster.

»Die stille Klause!« hatte der alte Mann gesagt.

Ja, es wehte ein wohliger Friede hier ringsum, und ein wunderbarer Zauber lag über diesem Erdenfleckchen ausgebreitet.

Dort draußen ergoß soeben die untergehende Sonne ihr feuriges Licht in leuchtenden Farben, jeder Baum, jeder Strauch, jede Blume erschien in goldigen Tinten getränkt, und dort, dort war sie ja selbst, um deretwillen – ihres Glückes, ihres Friedens willen er die Reise hierher unternommen hatte.

Das lichte Kleid goldig überflutet, das durchgeistigte, schmale Gesicht mit den tiefen Schmerzenslinien aufwärts gerichtet, hinauf zur schlanken Tanne, in deren Gipfel die Amsel wieder ihr verlockendes Abendlied zu flöten begann.

Da durchrieselte Stephan ein unnennbares Glücksempfinden.

Wozu lebt man? Das Bewußtsein, für andere zu wirken, birgt wohl Ewigkeitswerte.

Irene –! Friede!

Möchte er über dich kommen, Ire! – –

* * *


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