Doris Freiin von Spättgen
Irrlicht
Doris Freiin von Spättgen

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Vom Turme einer Kirche schlug die Uhr die Mitternachtsstunde, als Job Christoph durch die fast menschenleeren Straßen Münchens seinem Gasthofe zustrebte.

Mehrere Schritte machte er vorwärts, dann blieb er wieder stehen, um blöde, fast sinnesverstört, ähnlich einem Menschen, der aus einer Narkose erwacht, emporzuschauen.

Erst nach einer Weile glitt schmerzliches Zucken über das starre Gesicht, und die Augen bekamen wieder Glanz und Leben.

War das eben Erlebte nur ein wüster Traum gewesen? War die Gegenwart mit ihren arbeitsreichen und doch friedlichen Jahren, mit einem Dasein, wo törichte, brennende Wünsche niedergekämpft waren und ein stilles Glück leise aufzudämmern begann, plötzlich verwischt und verschwunden, daß nur das Einst, das beseligende, von Leidenschaft und nie zu stillender Sehnsucht durchsetzte Einst noch lebte? –

Aber nun, in einsamer Nachtstunde kam die Ernüchterung, die Erschöpfung, die Pein!

Wild, die Rechte zur Faust geballt, griff Job Christoph an die hämmernde Brust.

Du bist ein Wortbrüchiger, ein Lump, ein Schwächling! Nichts wäscht den Fleck deines Gewissens ab! Du hast Irene betrogen! Du hast eine andere in den Armen gehalten – geküßt!

Ein Kuß! Ja, was bedeutete denn schließlich ein Kuß! –

Lächerlich, sich darüber zu erregen!

Hundert – tausend Ehemänner haben sicher schon einen hübschen, frischen Mund geküßt, ohne sich darüber Gewissensskrupel zu machen wie er!

Waren das nicht menschliche Schwächen, die eine kluge Frau vergeben muß? –

Und wieder stand Irenes Bild vor seinem Geiste.

Nein – diese Frau durfte er nicht täuschen, das war roh – gemein – denn alles, was er gedacht, von Arys Arm umschlungen, gedacht und gefühlt, das war eben Schuld – untilgbare Schuld, die wie Feuer in der Seele brannte!

Was nun tun?

Sollte er fort? Sollte ein klaffender Riß gehen durch Irenes und sein künftiges Leben? Sollte er schreiben: Ich bin deiner nicht mehr wert – gib mich frei? –

Und Raineria?

O, hatten diese Augen ihn nicht schon einmal betört, bezwungen – um ihn dann alle Qualen eines Verschmähten durchkosten zu lassen?

Aber damals hatte Raineria vielleicht richtig gehandelt. Das vornehme Mädchen, mit seinen hohen Lebensansprüchen, hätte er sich kaum als seine Gattin zu denken vermocht. Ein Jammer, ein Unglück wäre es wohl geworden.

Doch was war es denn heute? Zu welchen entsetzlichen Irrungen, Folgerungen führte sein verzweifelter Schritt?

Hatte Raineria ihn denn nicht zum zweiten Male in eine peinvolle Lage gebracht?

Damals, als sie die wichtige Familienurkunde verbrannte und er dem Vater Mitteilung davon zu machen genötigt war! Und jetzt, wo er den in seiner originellen Borniertheit und beinahe knabenhaften Vertrauensseligkeit kaum ernst zu nehmenden Gatten hinterging? Armer, reicher Herlingen! –

Immer heftiger, wie von bösen Geistern verfolgt, war Job Christoph nun vorwärts gestürmt. Seine ehrliche Natur bäumte sich dagegen auf, Irene mit heuchlerischer Miene und glatten Worten gegenüberzutreten, ihrem alten Onkel, seinem väterlichen Freunde, frei ins Auge zu sehen. –

Vielleicht blieb die Wahrheit, die volle Wahrheit doch der einzig richtige Weg! –

Der schläfrige Pförtner empfing ihn.

»Meine Frau ist doch oben?« fragte Job Christoph, nur um etwas zu sagen, halb zerstreut.

»Oben?«

Der Mann machte ein verdutztes Gesicht.

»Herr Professor wissen wohl noch nicht?« Ein lähmender Schrecken kroch langsam über sein wildhämmerndes Herz.

»Was – denn?«

»Nun, die gnädige Frau ist doch schon mit dem 10-Uhr-Zuge abgereist, und ...«

Er stockte verlegen.

»Abgereist?«

Totenblaß stierte Job Christoph dem Bediensteten in die schlaftrunkenen Augen.

»Ja, Herr Professor. Der Herr Kanonikus sagte: ein Telegramm riefe ihn nach Breslau zurück. Und da reisten die Herrschaften zusammen fort. Oben im Zimmer liegt auch ein Brief für den Herrn Professor, welcher ...«

Der Angeredete wartete weitere Mitteilungen nicht ab. Mit trockener Kehle, die Stirn von kaltem Schweiß beheckt, stürmte er treppan und riß die Tür des kleinen Salons auf.

Überall tadellose Ordnung. Keine Anzeichen von eiligem Packen; nirgends ein Fetzchen Papier, kein verschobener Stuhl. Ganz Irene ähnlich! Auf dem Schreibtisch noch der süßduftende Gardenienstrauß, den er vor einigen Tagen, bald nach seiner Heimkehr, gebracht. Aber ringsum peinigende Grabesstille.

Dort lag der Brief auf der Platte. Job Christophs Finger zitterten, als der Umschlag auseinanderflog.

Warum? Das böse Gewissen? Die Furcht, daß Irenes kluge Augen den Zustand seines Innern erforscht hatten, daß sie gegangen war? –

Anfangs tanzten die Buchstaben vor seinen flimmernden Blicken. Endlich las er:

»Lieber Job Christoph!

Da Du nicht kamst und ich wirklich nicht wußte, wo mein Anläuten Dich erreichen würde, so mußte ich ohne Abschied fort.

Sei nicht böse, lieber Job Christoph – aber es ging nicht anders!

Tante Gismonde ist schwer erkrankt. Der Breslauer Arzt schrieb an Onkel von einem Schlaganfalle. Vielleicht sind der Ärmsten Stunden gezählt, und ich konnte Onkel Gotthard doch nicht allein reisen lassen. Da sie stets Mutterstelle an mir vertreten hat, so sind es doch heilige Pflichten, die ich zu erfüllen habe.

Ach, so gern hätte ich Dich gerade heute nach Deinem wundervollen Vortrage noch gesprochen, lieber Job Christoph; allein ich sah ja, daß Du sehr in Anspruch genommen warst – Verpflichtungen hattest.

Du erhältst bald Nachricht von mir nach München, wo Du ja noch ein paar Tage zu bleiben gedachtest.

Sollte Tante G. noch einmal besser werden, was der Himmel gebe, so sehen wir uns wohl bald in unserem lieben Heim in Berlin!

Gott segne Dich bis dahin!

Deine Ire!«

Brennende Schamröte war Job Christoph über die Stirn gezogen, und wie jemand, der unter einer Wucht von Selbstvorwürfen zusammenbricht, sank er stöhnend auf den nächsten Stuhl.

* * *


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