Doris Freiin von Spättgen
Irrlicht
Doris Freiin von Spättgen

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Etwas, was Graf Ignaz seit Jahren kaum mehr getan hatte – er klopfte eine Viertelstunde später bei der Tochter an. »Raineria, bist du drin?«

Seine Stimme klang heiser, fast tonlos, aber die holzharten Knöchel seiner Rechten verursachten ein klapperndes Geräusch.

»Raineria, bist du drin?« wiederholte er die Frage noch einmal.

Erst nach einer Weile öffnete die Gerufene schweigend und ohne die mindeste Überraschung zu zeigen – sogar mit spöttisch überlegenem Lächeln sah sie dem Eintretenden ins Gesicht.

»Nun?« Das Wort klang gereizt, und die dunklen Augen blitzten unheimlich unter den buschigen Brauen hervor.

»Ich konnte es mir ja denken, daß du kommen würdest, Papa! Hier bei mir bist du völlig ungestört; da magst du nach Herzenslust fluchen und schimpfen, ohne daß Himek, der stets an den Türen lungert, und das Küchenpersonal es hören,« sagte das Mädchen gelassen und ließ den Vater an sich vorbei ins Zimmer treten.

»Du hast wohl ein sehr schlechtes Gewissen, Ary? Wie?«

»Ich? Wieso? Was ich tat, geschah um Stephans willen. Der arme Junge durfte unter keinen Umständen unsere schlimme Lage und deine grundfalschen Auffassungen betreffs des Stammbaumes erfahren oder gar darunter leiden. Die Urkunde ist eben nicht auffindbar gewesen, Punktum!«

»Und ich? Du erteilst ja nette Ratschläge!«

»Nicht im mindesten, da es jetzt deine Sache ist, dich mit der sogenannten Verwandtschaft abzufinden. Soviel ich weiß, hatte man dir schon vor Monaten einen Vergleich angeboten: 80 000 Mark Abstandsgeld wären wohl noch zu beschaffen – pah – und damit wäre die eklige Geschichte tot. Mir hängt sie schon zum Halse heraus!«

Das Mädchen hatte sich in einen Schaukelstuhl geworfen und wiegte ihn anscheinend gemütsruhig hin und her. Allein die Flügel der feinen Nase zitterten sichtlich, und ein nervöses Zucken glitt über das auffallend blasse Gesicht. Dabei verfolgten die nun wie heller Topas schimmernden Augen jede Miene des Mannes, in dessen Zügen eine seltsame Mischung von Trotz, Spott und höhnischer Überlegenheit zu spielen begannen.

Graf Ignaz war stets ein Mensch gewesen, der sich meisterhaft zu beherrschen verstand, der seine Gedanken und Gefühle der Umwelt niemals preisgab; jetzt hatte es indes einen Augenblick den Anschein, als wäre fein innerstes Gleichgewicht plötzlich ins Schwanken geraten. Ganz offen gegen die Tochter zu sein, war unmöglich, denn er hatte ihr nie einen Einblick in sein Seelenleben erschlossen, andererseits kannte sie den Vater aber wieder viel zu gut, um ihr gegenüber irgendeine Komödie zu ersinnen, und drittens hatte er ja allerdings – wie meist bei heiklen Sachen – noch einen letzten Trumpf in der Hand, der sicher auch hier den Ausschlag geben mußte.

»So – die eklige Geschichte totmachen, aus der Welt schaffen! Desto mehr scheint dein Interesse sich jedoch dem Doktor selbst, dem Waschlappen, zugewandt zu haben, der nicht mal soviel Energie besessen hat, seine saubere Arbeit vor Weiberhänden zu schützen,« platzte der Schloßherr schroff heraus.

»Bitte, Papa, mäßige dich in deinen Ausdrücken, denn sie verletzen auch mich. Du hast Herrn von der Thann herberufen, er hat sich für dich geplagt – daß das Ergebnis nicht nach Wunsch ausfiel, berechtigt dich keineswegs, deinen Groll über den Wortlaut des Stammbaumes an einem Manne auszulassen, der uns gesellschaftlich ebenbürtig ist. In seinen Jahren hat er bereits mehr geleistet als hundert andere. Er steht mir – freundschaftlich nahe.«

»Das überrascht mich durchaus nicht! Du hast ja während der letzten Zeit kein Hehl daraus gemacht, daß der Bücherwurm mit seinen verführerischen Augen dir gefiel. Ein neuer, reizvoller Sport, in der Tat. Es gibt so ein treffendes Sprichwort: »In der Not frißt der ...« – er stockte.

Raineria war aufgesprungen und stand, flammende Röte über der Stirn, vor dem frivolen Spötter.

»Du irrst vollständig, Papa! Job Christoph steht mir viel näher, als du meinst. Er ist der einzige Mensch, dem ich mich bisher geistig verwandt fühlte, der mir imponiert. Unsere Beziehungen, unsere Freundschaft werden mein einsames Dasein in Zukunft erhellen; auch wenn er fortgeht, bleiben wir im Verkehr.«

»Wirklich? Und wie denkt sich meine stolze Tochter das – das Finale?«

Graf Ignaz fragte das scheinbar harmlos, wobei indes ein hämischer Zug über die braunen Züge glitt.

Raineria warf den Kopf hoch.

»Das wird von Verhältnissen, von seiner künftigen Lebensstellung, von meinen eigenen Entschließungen abhängen,« erwiderte sie voll Trotz.

»Bravo! Es geht doch nichts über Romantik! Liebe und ein Butterbrot genügen ja meist solch sentimentalen verdrehten Leuten!«

»Besser als ein Leben ohne inneren Halt, wo Unsummen vergeudet, wo Schulden gemacht werden, um sich über Wasser zu halten. Allerdings besteht eine Kluft zwischen hier und ihm! Ich bin gottlob sehr hellsehend geworden, seit ich Job Christoph kenne.«

»Hahaha! Verliebt bist du!« rief lachend der Graf. Sein Zynismus war viel verletzender als der plötzlich herauspolternde Zorn.

Kerzengerade mit zuckenden Lippen stand sie noch immer vor ihm.

»Und was würdest du sagen, wenn ich trotz alledem – seine Frau werden will!?«

Vielleicht entsprang dieser Ausspruch nur ihrer fiebernden Erregung, ihrem durch des Vaters Roheit geweckten Widerspruchsgeist. Klargemacht hatte Raineria sich jenen Gedanken bisher noch nie. Jetzt mit einernmal erschrak sie selbst darüber, und etwas ihren Willen und ihre Überlegung Lähmendes legte sich plötzlich um Geist und Hirn.

Seine Frau! Nein, daran dachte wohl auch Job Christoph nicht, wagte nicht daran zu denken. Nur liebhaben wollte sie ihn und ihm treu bleiben. Das Leben schien ia sonst so schal und leer, und blitzschnell flogen auch schon Gedanken und Pläne durch den erregten Sinn: nicht mehr beim Vater bleiben, nicht mehr dieses Geist und Verstand erdrückende Einerlei weiterertragen müssen! Wenn er ging, dann dünkte ihr Strelnow wie eine todestraurige Wüstenei. Aber wohin? Nach Österreich, zur Verwandtschaft? Nein! Sie fühlte sich zu alt und müde, um neu anzufangen mit jenem Flattern von Vergnügen zu Vergnügen. Denn gleich einer Erleuchtung trat ihr jetzt Stephan vor die Seele. War es denn nicht möglich, sich mit dem Bruder, dem einzigen Menschen, der ihr auf Erden teuer war, ein Heim zu gründen? Wo immer er seine Studien betrieb, konnte sie ihm dann nahe sein, für ihn sorgen, aufopfernd und schwesterlich. Der arme Junge kannte ja solch zarte Rücksichten nicht.

Ob' wohl die Mittel, die Einkünfte aus ihrem beiderseitigen mütterlichen Vermögen dazu reichen würden? Der Vater mußte das Geld herauszahlen, man war ja längst mündig! Und mit Job Christoph konnte sie weiter im Verkehr bleiben, was hier in Strelnow unmöglich war.

Graf Ignaz' stechende Blicke weideten sich schadenfroh an dem merkbar nachdenklich gewordenen Mädchengesicht.

»Ich weiß, daß du viel zu weltklug bist, um eine Dummheit zu begehen, Ary,« gab er unbeirrt zurück.

Sie atmete hastig und schwer.

»Wir wollen jetzt über die Zukunft nicht streiten, Papa. Nur darfst du nicht verlangen, daß es so weiter geht wie bisher. Das gegenwärtige Leben ertrage ich nicht mehr. Ich muß fort!«

Des Grafen Lippen entfuhr ein pfeifender Laut.

»Wir wollen auch in vollster Übereinstimmung scheiden, Papa, ohne Bitterkeit. Daher möchte ich dich bitten, mir mein eigenes Vermögen auszuzahlen, damit ich ungehindert darüber verfügen kann. Ein Mädchen von bald vierundzwanzig Jahren will doch auch einmal selbständig sein. So viel ich weiß, beträgt Stephans und mein Kapital zusammen 300 000 Gulden.«

Mehrere Sekunden stierte der große, bisher zynisch lächelnde Mann wie betäubt nach der gegenüberliegenden Wand, die wulstige Unterlippe zuckte, und krampfartig ballten sich die Finger der Rechten Zusammen.

Es erfolgte aber keine Antwort.

»Stephan und ich hatten dir seinerzeit ganz freie Verwaltung darüber gegeben, und du sagtest öfter, das Geld läge auf der Posener Bank,« wiederholte Raineria noch einmal in ruhigerem Ton.

Dieser Einwurf machte den Grafen jäh emporfahren.

»Auf der Posener Bank? Natürlich!« In seinen Zügen spiegelte sich nun wieder ein wilder Trotz, und jede Rücksicht beiseite lassend, zischte er giftig:

»Hat's mal gelegen, mein Töchterchen – damals, als noch gute Zeiten waren! Aber wovon hätten wir denn Jahre und Jahre alle Ausgaben hier bestreiten sollen? Glaubst du wirklich, daß die paar lumpigen Zinsen zu deinem Wiener Aufenthalte, deinen hohen Ansprüchen genügt hätten? Und schließlich, was kosteten Stephans Studien, seine Reisen und zu guter Letzt, als die Erträge von Strelnow immer knapper wurden – wer hätte mir armen Narren denn geholfen? Nee, Kind, da mußten die Papierchens aus dem Kasten raus – sie waren meine einzige Rettung. Das Gut wäre sonst längst zum Teufel gegangen, wenn...«

Graf Ignaz war in einen weinerlichen Ton verfallen und schnappte nach Luft.

Immer größer waren Rainerias goldbraune Augen, immer unbeweglicher und bleicher ihr Gesicht geworden. Während die Hände nach einer Stuhllehne griffen, bemühte sie sich, sich gewaltsam zu fassen.

Alles fort! – Verbraucht – verspielt! Das Geld der Kinder, ihr Mutterteil – das Letzte! Bettler!

So sauste und brauste es durch ihr Hirn. Und jetzt kam die Verzweiflung, die Wut. Am liebsten wäre sie dem gewissenlosen, rohen Manne, dem eigenen Vater mit erhobenen Fäusten dicht vor die funkelnden Augen gesprungen und hätte gerufen: »Du Elender, ich verachte dich!«

Aber was nützten alle Vorwürfe, aller Grimm! Diesem Manne gegenüber war der Geschädigte immer machtlos. Allmächtiger Gott – Bettler!

Wie mit tausend Messern bohrte sich der Gedanke an Stephan, den Vertrauenden, Edlen in ihre Brust, und vielleicht zum erstenmal in Rainerias Leben kamen beschämende Empfindungen zum Durchbruch. Hatte sie, ungeachtet aller Zärtlichkeit für den Bruder, in grenzenloser Ichsucht nicht dennoch immer zuerst an sich selbst gedacht? Nun trat plötzlich die jäh aufgeflammte Leidenschaft für Job Christoph, ihre Absicht, Strelnow und den Vater zu verlassen, in den Hintergrund, bei der niederschmetternden Entdeckung, daß Stephan und sie selbst ferner völlig abhängig seien. Und einzig nur um des Bruders willen hatte sie den Frevel, die wichtige Urkunde zu verbrennen, begangen, allen Folgen trotzend, die sich vielleicht aus dieser Tat entwickeln konnten. Nun war alles einerlei. Strelnow würde Stephan ja doch nie erhalten bleiben! Wenn der Vater – als Ehrenmann (Raineria biß bei diesem Gedanken fast schmerzhaft die Zähne zusammen) sich dem amerikanischen Vetter offenbarte oder ihm einen Vergleich vorschlug – dann kostete es das Gut.

War es Würgen, war es verhaltenes Schluchzen, oder waren es Tränen, die bei trockenem Auge dennoch innerlich fließen!

Mit Raubtierblicken beobachtete sie der Graf. Endlich sagte er unter kurzem Lachen, beinahe harmlos freundlich: »Na, na, rege dich nur nicht unnütz auf, Ary. Hin ist hin. Kummer macht alt und häßlich, und du brauchst deine Schönheit noch zu nötig – sie ist deine Mitgift. Den Kopf verlieren brauchen wir beide noch lange nicht. Wenn du seit einer Woche nicht so völlig blind und benommen herumliefest, dann hättest du längst bemerken müssen, daß mir wieder mal der Himmel voller Geigen hängt. Dusel muß halt der Mensch haben! Wer kommt denn morgen nach Strelnow? Hahaha!«

Starren Gesichtsausdruckes, als ob des Vaters Rede sie gar nichts anginge, war Raineria langsam durch das Gemach geschritten. Jetzt hob sie den Kopf.

In des Grafen harten Zügen begann sich ein Ausdruck von hämischer Genugtuung und triumphierender Schadenfreude zu malen. Er hatte nun seinen letzten, besten Trumpf ausgespielt.

»Wenn der Vinzenz Herlingen, dieser durch seine Verhältnisse und sein Leben reichlich verwöhnte Mensch, mich in meiner verwitterten alten Raubfeste aufsucht und bemüht scheint, wieder verwandtschaftliche Beziehungen anzuknüpfen, dann – zum Teufel! – dann darf man wohl mit Recht seine Hintergedanken hegen.«

Der Graf kicherte vergnüglich. War ihm doch wieder einmal ein sogenannter Generalstreich geglückt.

Graf Herlingen, der württembergische Großgrundbesitzer, wollte, wie ihm zu Ohren gekommen war, in der Provinz Posen eine Hochwildjagd pachten (der Strelnower Schloßherr hatte überall seine Fühlfäden); nebenbei habe er sich besonders entzückt über eine in Wien ausgestellte große Photographie von Raineria geäußert. Kurz – richtig kombinieren ist im Leben die Hauptsache. Auf eine freundliche Aufforderung kam alsbald eine ebenso freundliche, zusagende Depesche.

Das alles behielt Graf Ignaz natürlich für sich. Er lächelte auch weiter, als seine Tochter ihm verächtlichen Tones über die Schulter zurief: »Bitte, laß aber mich dabei völlig aus dem Spiel!«

»Närrchen! Ich sage ja fürs erste auch gar nichts. Die Sache ist für uns viel zu wichtig, um uns auf törichte Streitereien darüber einzulassen, zumal mit jemand, der vorläufig mit Blindheit geschlagen ist und kaum logisch zu denken vermag. Überlege dir jedoch mal den Fall recht reiflich, Ary. Der Vinzenz ist ein Mann, nach dem schon hundert Mädels alle zehn Finger vergeblich ausgestreckt haben; ein guter, famoser, hübscher Kerl, trotz seiner zweiundvierzig Jahre forsch und stramm, und das Geld! Wie konntest du nur einen Augenblick zögern? Er braucht 'ne Frau, einen Erben, ist der Letzte seines Namens, keine Verwandtschaft da. Die Güter gehen sonst womöglich später mal an den Fiskus. Ausgetobt hat er auch. Also!«

Dem Vater den Rücken kehrend, stand Raineria am Fenster. Heller Sonnenschein und knospender Frühling lachten ihr entgegen. Sie sah nichts davon. Finsterer Groll und ohnmächtige Bitterkeit preßten ihr die Brust zusammen.

Als einzige Antwort stampfte sie nur mit dem Fuße und sagte hart: »Ich kenne ihn kaum! Ich liebe einen anderen! Ich mag ihn nicht!«

»Vom Lieben spricht ja auch kein Mensch! Heiraten sollst du ihn – hahaha! Und wenn du es nicht meinetwegen tun willst – was ich durchaus nicht verlange –, so tu' es um Stephans willen – für den armen Kerl!«

Danach griff er nach den Zigaretten, die auf dem Tisch in offener Schale lagen, und ging hinaus.

* * *


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