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Achtzehntes Kapitel.

Am Spätnachmittag des nächsten Tages, der ein Sonntag war, sprach Charlie Sutherland in Church Street, Kensington, vor und fragte Mrs. Simpson, die die Tür öffnete, ob Mr. Jack da sei.

»Nein, Herr,« sagte Mrs. Simpson streng. »Augenblicklich ist er nicht hier.«

Als sie dringend gefragt wurde, wann er denn zu Hause sein werde, antwortete Mrs. Simpson unbestimmt und ausweichend, obgleich sie ihre Teilnahme für die offenbare Enttäuschtheit des Besuchers ausdrückte. Zuletzt sagte er, er würde bestimmt noch einmal vorsprechen und wandte sich mißgestimmt davon. Er war aber noch nicht weit gegangen, als er einen lauten Ruf hörte. Er blickte zurück und sah Jack, ungekämmt, unrasiert, in zerfetzten Pantoffeln und einem beschmutzten und zerrissenen Rock barhäuptig hinter ihm her rennen.

»Kommen Sie herauf – kommen Sie zurück,« schrie Jack, die eherne Stimme etwas gezwungen, weil er außer Atem war. »Es ist nur ein Mißverständnis. Dieses Luder – kommen Sie mit.« Er faßte Charlie beim Arm und begann ihn zurück nach dem Hause zu schleppen, während er sprach. Die Knaben aus der Nachbarschaft versammelten sich bald, um mit Grauen die Gefangennahme Charlies zu sehen. Nur ein paar der älteren und weniger respektvollen, versuchten die Szene spaßig zu nehmen, indem sie ein Hoch ausbrachten.

Jack brachte seinen Besucher die Treppe hinauf in ein großes Zimmer, das fast die ganze erste Etage ausfüllte. Ein Flügel in der Mitte war bedeckt mit Schreibmaterial, mit gedruckten und geschriebenen Noten, mit alten Zeitungen und ungespülten Kaffeetassen. Der darunter liegende Teppich war in einem Zustand, der zeigte, daß der Unrat mitunter, wenn er zu schwer wurde, weggeschwemmt wurde und dann liegen bleiben durfte, wohin er gerade gefallen war. Die Sessel, deren Überzüge als Tintenwischer gedient zu haben schienen, waren teils mit Kleiderhaufen bedeckt, teils mit Büchern, deren Innenseite nach außen gedreht war, um die Stelle zu bezeichnen, bei der der Leser sie aus der Hand gelegt hatte. Auf einem lag ein Stiefel, dessen Gegenpart auf dem Feuergitter steckte, auf einem andern ein rußiger Kessel, der gerade aus dem Feuer genommen war, das trotz der Jahreszeit im Ofen brannte. Schwarze, braune und gelbe Flecken von Tinte, Kaffee und Eidotter befanden sich auf allen Dingen in diesem Zimmer.

»Setzen Sie sich,« sagte Jack und drängte seinen früheren Schüler mit Gewalt auf einen der bequemen Armlehnensessel, der von der ewigen Benutzung glänzend war. Dann suchte er einen Sitz für sich selbst und entdeckte dabei die Anwesenheit von Mrs. Simpson, die während seiner Abwesenheit hereingekommen war mit dem hoffnungslosen Plan, das Zimmer für den Besucher in Ordnung zu bringen.

»Hier,« sagte er. »Holen Sie noch etwas Kaffee und ein paar geschmierte Brötchen. Wozu haben Sie alle Stühle genommen? Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten nichts berühren in diesem – wie, was zum Teufel denken Sie sich dabei, wenn Sie den Kessel auf einen Sessel setzen?«

»Schwerlich, Mr. Jack,« sagte die Wirtin, »würde ich so etwas tun. Oh Gott! Und noch dazu einer von meinen gelben Sesseln. Es ist zu schlimm.«

»Sie müssen es getan haben, es ist sonst niemand im Zimmer gewesen. Gehen Sie und holen Sie den Kaffee.«

»Ich tat es nicht,« sagte Mrs. Simpson und erhob ihre Stimme, »und Sie wissen es auch ganz gut. Und dann würde ich Ihnen dankbar sein, wenn Sie angeben, ob Sie hier sind oder nicht, im Falle eines Besuches, damit ich nicht als Lügnerin dastehe, wie jetzt vor diesem Herrn.«

»Sie sind eine stets fertige Lügnerin und eine Schlumpe obendrein,« entgegnete Jack. »Sehen Sie sich den Zustand in dieser Wohnung an.«

»Ach,« sagte Mrs. Simpson mit einem Naserümpfen. »Sehen Sie es sich wirklich einmal an. Ich bitte Sie um Verzeihung, Herr,« fügte sie hinzu, indem sie sich an Charlie wandte, »aber was würde jemand von mir denken, wenn man ihm erzählte, daß das mein bestes Zimmer sei?«

Jack, dessen Aufmerksamkeit hierdurch wieder seinem Gast zugewandt wurde, hielt plötzlich mit dem Beginn eines neuen Wutausbruchs zurück und zeigte nach der Tür. Mrs. Simpson schaute ihn verächtlich an, ging aber ohne weitere Umstände hinaus. Jack nahm darauf einen Sessel bei der Rücklehne, schüttelte die Gegenstände, die darauf lagen, auf die Erde und setzte sich neben Charlie.

»Ich hätte nicht so sprechen sollen, wie ich es eben tat,« sagte er voll Reue. »Darf ich Ihnen einen Rat geben, Charlie, so wohnen Sie niemals in einem Hause mit einem schmutzigen Frauenzimmer.«

»Es muß schrecklich unangenehm sein, Mr. Jack.«

»Es ist sicher, daß man dabei selbst schlechte Gewohnheiten annimmt. Wie geht es Ihrer Schwester und Ihrem Vater?«

»Mary geht es wie immer, und ebenso dem Alten. Ich war mit ihm letzten Herbst in Birmingham. Wir hörten den ›Prometheus‹. Wahrhaftig, Mr. Jack, das ist etwas, das man hören muß. Die ›Matthäus-Passion‹, die ›Neunte Symphonie‹ und der ›Nibelungenring‹ sind die einzigen Werke, die wert sind, dahinter gesetzt zu werden. Nur die Ouvertüre ist etwas schreiend.«

»Es gefällt Ihnen? Das ist recht, ganz recht. Und was machen Sie jetzt? Hart arbeiten, was?«

»Die alte Geschichte, Mr. Jack. Mir ist alles mißglückt, gerade wie es bei der Musik der Fall war, obgleich ich hierbei besser war als irgendwo anders, weil ich Sie als Hilfe hatte.«

»Sie haben alles zu jung begonnen. Doch das macht nichts. Sie haben noch überflüssige Zeit. Ja, ja. Was gibt's neues?«

»Ich gehe zu einem Empfangstag bei Madge Lanchester, der Schauspielerin, wissen Sie. Sie nahm mir das Versprechen ab, unterwegs bei Ihnen vorzusprechen und gelegentlich zu erwähnen, wohin ich ginge. Sie dachte, Sie würden vielleicht mitkommen – schließlich glaube ich, daß das ihre ganze Absicht war.«

»Sie sagte mir, ich möchte einen Sonntag kommen, und ich versprach es. Haben wir heute Sonntag?«

»Ja, Mr. Jack. Ich hoffe, Sie werden es nicht anmaßend von mir finden, wenn ich ihr helfe, Sie auf diese Weise beim Kragen zu fassen.«

Jack gab eine unverständliche Antwort, zog seinen Rock aus und begann die Kleider umherzuwerfen, die auf den Sesseln aufgehäuft waren. Darauf klingelte er wütend, ging dann, nachdem er vielleicht zwanzig Sekunden auf Antwort gewartet hatte, zur Tür und schrie mit gewaltiger Stimme nach Mrs. Simpson. Das hatte nicht mehr Erfolg als das Klingeln; er kehrte zurück und nahm sein Suchen unter Fluchen wieder auf. Als er die Unordnung im Zimmer beträchtlich vergrößert hatte, trat Mrs. Simpson mit zur Schau getragener Gleichgültigkeit herein und brachte ein Tablett mit Kaffee und Brötchen.

»Wo wünschen Sie, daß ich diese Sachen hinsetze, mein Herr?« sagte sie mit geduldiger Miene, nachdem sie vergebens auf dem Flügel nach einem leeren Platz geschaut hatte.

»Welche Sachen? Was fällt Ihnen ein, die zu bringen? Wer hat Sie darum gebeten?«

»Sie, Mr. Jack. Vielleicht beliebt es Ihnen, das in Gegenwart dieses Herrn abzuleugnen, der gehört hat, wie Sie mir den Auftrag gaben.«

»Oh,« sagte Jack verwirrt. »Charlie, wollen Sie etwas Kaffee trinken, während ich mich ankleide. Setzen Sie das Tablett auf den Boden, wenn Sie sonst keinen Platz dafür finden.«

Mrs. Simpson setzte es sofort Charlie vor die Füße.

»Nun,« sagte Jack und sah sie boshaft an, »sind Sie so gut und finden mir meinen Rock. Und in Zukunft, wenn ich ihn an einem bestimmten Platz lasse, nehmen Sie ihn von da nicht fort.«

»Ja, Herr. Und wo haben Sie ihn zuletzt gelassen, wenn ich mir den Mut nehmen darf, Sie danach zu fragen?«

»Ich ließ ihn auf diesem Sessel liegen,« sagte Jack heftig. »Sehen Sie? Auf diesem Sessel!«

»Wirklich,« sagte Mrs. Simpson mit offenem Spott. »Sie haben ihn mir gestern herausgegeben zum Ausbürsten; und ich hatte eine schöne Arbeit damit, eine ganze Flasche Benzin habe ich verbraucht, um die Flecken herauszubringen. Er liegt oben in Ihrem Zimmer. Und, bitte, gehen Sie in Zukunft sorgfältiger mit ihm um, oder lassen Sie ihn in der chemischen Anstalt reinigen, und nicht durch mich. Soll ich ihn Ihnen bringen?«

»Nein. Gehen Sie zum – gehen Sie zur Küche und halten Sie Ihren Mund. Charlie, ich werde gleich zurück sein, mein Junge, wenn Sie warten wollen. Nehmen Sie etwas Kaffee. Setzen Sie das Brett irgendwohin. Der Teufel hol dies – dies – dies Frauenzimmer.« Dann verließ er das Zimmer und erschien nach einiger Zeit in einem sauberen Hemd und verhältnismäßig anständigem schwarzen Gehrock.

»Wo wohnt sie?« fragte er.

»In dem Marylebone Road. Ihre Empfangstage sind sehr ulkig. Ihre Schwestern halten es nicht für schicklich, wenn eine junge, unverheiratete Frau auf eigene Faust Gesellschaft empfängt. Und so gehen sie nie hin. Ich glaube, sie würden sie ganz und gar schneiden, aber das bringen sie doch nicht fertig, denn sie gibt ihnen gelegentlich ein neues Kleid. Ich werde außerordentlich stolz sein, wenn ich mit Ihnen dorthin gehe. Das beste Ding, wenn man selbst keine Berühmtheit ist, ist eine Berühmtheit zu kennen.«

Jack grunzte nur und überließ Charlie das Reden, bis sie an dem Hause in dem Marylebone Road ankamen. Die Tür wurde von einem Mädchen in sauberem, dunkelgrünem Kleid geöffnet, das eine kleine Haube auf dem Kopf trug.

»Ich fühle mich halbwegs geneigt, sie nach einem Programm zu fragen und ihr ein Trinkgeld von Sixpence zu geben,« flüsterte Charlie, als sie ihr die Treppe hinauffolgten. »Wir können uns vorstellen, sie führt uns auf unsere Plätze. Mr. Jack und Mr. Charles Sutherland,« sagte er laut zu dem Mädchen, als sie den Treppenabsatz erreicht hatten.

»Mr. Sutherland und Mr. Charles Sutherland,« antwortete sie, indem sie ihn kühl korrigierte.

Jack war unterdessen bis dorthin vorgetreten, wo Madge stand. Sie trug ein Kleid von blaßblauem Sammet, angefertigt in venetianischem Stil, der von einem alten Paul Veronese herübergenommen war. Rund um ihren Hals saß eine dreifache Kette von Bernsteinperlen, und an den Füßen trug sie Pantoffel von derselben Farbe und demselben Stoff wie ihr Kleid. Ihr Teint, sorgfältig aufgelegt, mißfiel Charlie nicht, sondern er bedauerte nur, daß er zu schön war, um echt zu sein. Die Einrichtung des Zimmers war ebenso bemerkenswert wie das Kostüm der Wirtin. Die Flügeltüren waren entfernt worden, und an der Stelle stand ein Bogen mit einem weißen Pfeiler an jeder Seite. Ein Vorhang von silbrigem Plüsch hing in Falten an einer Seite dieses Vorhangs. Die Wände waren in einem zarten, glänzenden Grün bemalt; und der Teppich glich einem Stück dicken, weißlichbraunen Papiers. Die Stühle von ungefirnißtem Holz hatten Rohrsitze und andere Polster in stumpfer Stroh- oder Kamelfarbe. Gemäß einer Modelaune, die damals gerade herrschte, fanden sich nicht weniger als acht Lampen, die auf die einzelnen Räume verteilt waren. Diese Lampen hatten ungeheure Stiele aus Steingut, knorrig und ungeschlacht, im Muster. Die meisten von ihnen stellten Felsmassen mit Ketten von Efeublättern, die sich daran anklammerten, dar. Die Decke zeigte eine leichte Maisfarbe.

Magdalen, erstaunt durch die Ankündigung von Mr. Sutherland, schaute zur Tür hin nach ihm aus, über den Kopf von Jack hinweg, den sie fast um Haupteslänge überragte.

»Wie geht es?« sagte er, indem er sie mit seiner ehernen Stimme überraschte.

»Mein teurer Meister,« rief sie, in dem reinen, deutlichen Ton, dem sie soviel von ihrem Erfolg auf der Bühne verdankte. »So sind Sie also doch endlich zu mir gekommen?«

»Ja, ich bin endlich gekommen,« sagte er mit einem mißtrauischen Blick. »Ich vergaß Sie ganz; aber Charles hat mich wieder an Ihre Einladung erinnert – wo ist Charles?«

Charles stand hinter ihm und wartete, bis er begrüßt wurde.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar,« sagte Magdalen, indem sie ihm die Hand drückte. Charles, mehr verwirrt als erfreut, erwiderte etwas mit undeutlicher Stimme. Er erzählte von der Gesundheit seiner Familie und verschwand unter der Menge.

»Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, daß wir uns jemals wieder treffen würden,« sagte sie, und wandte sich wieder zu Jack. »Ich habe Ihnen Billett auf Billett geschickt, damit Sie Ihre alte Schülerin in ihren besten Rollen sehen möchten. Aber wenn es Abend wurde, waren die Logen immer leer.«

»Ich wollte hingehen – ich hätte es tun sollen. Aber irgendwie vergaß ich die Zeit, oder verlor die Billetts oder sonst was. Meine Wirtin verlegt solche Dinge immer. Oder sie verbrennt sie auch gern.«

»Arme Mrs. Simpson! Wie geht es ihr?«

»Lebendig und boshaft und geschwätzig wie immer. Ich muß dort wegziehen. Ich kann sie nicht länger ertragen. Ihre Unordentlichkeit, ihre Dummheit und ihre Verlogenheit sind unglaublich.«

»Oh, mein Lieber! Es tut mir leid, das zu hören, Mr. Jack.« Magdalen wandte ihm ihre Augen zu mit dem Ausdruck der ernsthaftesten Teilnahme, den sie durch anhaltendes Studium erlangt hatte. Jack, der sich selten erinnerte, daß der Gegenstand der Verfehlungen der Mrs. Simpson die übrige Welt nicht so interessierte wie ihn selbst, hielt keinenfalls Magdalens Teilnahme für übertrieben, und war dabei, sich über seine häuslichen Unannehmlichkeiten zu verbreiten, als das Mädchen ›Mr. Brailsford‹ ankündigte.

Jack schlich sich weg, und sein alter Feind näherte sich, so zierlich gekleidet wie immer, aber etwas unbestimmter in seinen Bewegungen. Magdalen küßte ihn mit anmutigem Respekt, gerade so wie sie einen Schauspieler geküßt hätte, der für soundsoviel Pfund die Woche engagiert gewesen, ihren Vater darzustellen. Als er weiter ging und sich unter die Menge mischte wie irgendein anderer Besucher, vergaß sie ihn und sah sich nach Jack um. Aber dieser war trotz seines Versuchs, Mr. Brailsford auszuweichen, gerade mit ihm in einer entfernten Ecke zusammengetroffen, in die der Zufall sie beide geführt hatte. Jack fragte ihn auf einmal, wie es ihm gehe.

»Wie es mir geht,« sagte der alte Herr mit nervösem Eifer. »Zu gut – sicherlich.« Jetzt fand er seinen Kneifer und war imstande, Jacks Gesicht zu erkennen.

»Mein Herr,« sagte Jack, »ich bin manchmal ein ungeschliffener Mensch, aber vielleicht werden Sie das übersehen und mir erlauben, Sie um Ihre Bekanntschaft zu bitten.«

»Mein Herr,« erwiderte Brailsford, indem er zitternd die angebotene Hand ergriff. »Ich habe stets Menschen von Genie geehrt und bewundert und gegen die schmachvolle Bedrückung protestiert, der die Welt sie aussetzt. Sie können stets auf mich zählen.«

»Es war einmal eine Zeit,« sagte Jack mit einem Blick auf die maisfarbene Decke, »in der keiner von uns es geglaubt hätte, daß wir noch einmal nebeneinander in einer Menge vornehmer Berühmtheiten, zu ihren Füßen sitzen würden.«

»Sie hat sich gewiß eine stolze Position geschaffen, und sie dankt das, wie sie stets anerkennt, vor allem Ihrer Führung.«

»Hm, ja,« sagte Jack zweifelnd. »Ich lehrte sie, den besten Gebrauch von den wenigen Vokalen zu machen, die noch in unserer gesprochenen Sprache geblieben sind; aber ihre Einrichtung und ihre Empfangstage sind ihre eigene Idee.«

»Sie sind die lächerlichsten Narrheiten in London,« flüsterte Brailsford mit plötzlicher Wärme. »Ihnen, mein Herr, teile ich meine Meinung ohne Rückhalt mit. Ich komme hierher, weil meine Anwesenheit eine gewisse Art von Sanktion gibt – wissen Sie.« Jack nickte. »Aber ich billige solche Unterhaltungen nicht. Ich kann es nicht begreifen, wie die Künstlerin so weit die Dame vergessen kann. Dieser Saal ist nicht schicklich, Mr. Jack, er ist eine Beschimpfung von Geschmack und Gefühl. Immerhin, er ist nicht meine Wahl, sondern die ihrige; und de gustibus non est disputandum. Entschuldigen Sie, wenn ich aus alten Schulbüchern zitiere. Ich habe es nie in meiner Jugend getan, mein Herr, als jeder Narr den Mund voll von lateinischen Brocken hatte.«

»Das ist die schlimme Seite an diesen Dingen,« sagte Jack. »Diese Burschen verlieren ihre Zeit mit ihrem Hierherkommen, und sie verschwendet ihr Geld an Überspanntheiten, damit man darüber redet. Aber schließlich haben alle Dinge ihre schlimme Seite, sie könnte sich noch schlimmeren Tollheiten ergeben. Jetzt, da sie ihre eigene Herrin ist, müssen wir alle weiter abstehen. Ihre Angelegenheiten sind nicht unser Geschäft.«

Der alte Herr nickte mehrmals in trauriger Weise. »Da haben Sie das Richtige getroffen, Herr,« sagte er mit leiser Stimme. »Wir müssen alle weiter abstehen – ich sowohl wie die andern. Eine sehr richtige Beobachtung.«

Diese Unterhaltung, die außerordentlich lang war für einen überfüllten Nachmittagsempfang in London, wurde durch Magdalen unterbrochen, die kam, um Jack zum Spielen einzuladen. Aber er weigerte sich hartnäckig es zu tun und bemerkte, wenn die Gesellschaft in Laune sei, der Musik zu lauschen, dann wäre sie besser in die Kirche gegangen. Die Ablehnung schuf eine große Enttäuschung, denn Jacks Erscheinen in der Gesellschaft, das in der Saison nach der ersten Aufführung des ›Prometheus‹ häufig gewesen, war seitdem sehr selten geworden. Erzählungen von seiner Überspanntheit und unnahbaren Einsamkeit waren von Mund zu Mund gegangen, bis sie zu schal geworden, um zu unterhalten, oder zu übertrieben, um geglaubt zu werden. Seine Weigerung zu spielen, betrachtete man als so charakteristisch, daß einige von den Gästen sofort wegeilten, um die ersten zu sein, die sie in Künstlerkreisen erzählten, in denen man Sonntag mehr zu Hause ist als in den mehr rein vornehmen Klassen, die an den Wochentagen nichts besonderes zu tun haben. Jack war selbst dabei, wegzugehen, als ein blauer Sammetärmel seinen Arm berührte und Magdalen flüsterte:

»Sie werden jetzt alle in wenigen Minuten aufbrechen. Wollen Sie hierbleiben und mit mir einen Augenblick allein sein? Es ist lange her, seit ich kein Wort des Rates mehr von Ihnen bekommen.«

Jack blickte sie wieder mißtrauisch an, aber da sie sehr artig aussah, gab er nach und sagte gut gelaunt: »Dann machen Sie, daß Sie sie schnell los werden. Ich habe keine Zeit, ihretwegen zu warten.«

Sie ging daran, sie abzuschieben, so gut sie es konnte, indem sie tat, als mißverstände sie die Absicht von Herren, die kamen, um mit ihr zu plaudern, und sie mit überschwenglichen Abschiedsgrüßen überraschte. Einigen Gästen, mit denen sie nicht auf zeremoniellem Fuße stand, vertraute sie ihren Wunsch an, den Saal leer zu sehen; und sie übermittelten ihre Wünsche sofort ihren intimen Freunden, gaben auch den andern ein Beispiel, indem sie auffällig herausgingen oder mit lautem Flüstern erzählten, daß es schändlich spät sei. Die teure Madge müßte todmüde sein und sie wären voller Gewissensbisse, daß sie sich durch ihre entzückende Gastfreundlichkeit verleiten ließen, so lange zu bleiben. In fünfzehn Minuten hatte sich die Gesellschaft auf fünf oder sechs Personen vermindert, die der Ansicht zu sein schienen, jetzt, wo die Menge fort war, sei die Zeit gekommen, sich zu amüsieren. Einige von ihnen, die sich gegenseitig kannten, ließen ihre zeremoniöse Haltung fallen. Sie wurden lauter und begannen eine Diskussion über Theaterangelegenheiten, an der, wie sie offenbar annahmen, Magdalen sich beteiligen würde. Der Rest wanderte in den Zimmern umher und benutzten, so gut sie konnten, die Gelegenheit, die große Künstlerin und den großen Komponisten zu betrachten, der, die Hände hinter sich gefaltet, an einem Fenster stand und unnahbar die Stirn runzelte. Mr. Brailsford blieb ebenfalls, und er war der erste, der die erschöpfte Miene sah, mit der seine Tochter sich stumm an ihre überflüssigen Gäste wandte.

»Mein Kind,« sagte er, »bist du ermüdet?«

»Ich bin ganz erschöpft,« antwortete sie in einem Flüstern, das bis in die fernste Ecke des Zimmers reichte. »Wie sehr verlange ich, allein zu sein!«

»Warum hast du mir das nicht früher erzählt?« sagte Brailsford beleidigt. »Ich werde dich nicht länger quälen, Magdalen. Guten Abend.«

»Still,« sagte sie und legte ihren Arm liebkosend um seinen, indem sie diesmal wirklich flüsternd sprach. »Ich sagte das für die andern. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Mr. Jack wartet, um mit dir fortzugehen, und ich möchte ihn gern alleine sprechen – wegen einer Schülerin. Kannst du dich fortschleichen, ohne daß er es sieht? Tu es, liebes altes Papachen; denn ich werde wohl nie wieder die Gelegenheit haben, ihn bei guter Laune zu treffen.« Magdalen wußte, daß ihr Vater eifersüchtig sein würde, wenn er vor Jack gehen mußte, außer wenn sie es ermöglichte, daß er es aus eigenem Antriebe tat. Der Plan glückte. Mr. Brailsford verließ vorsichtig das Zimmer, indem er aufmerksam nach dem Musiker blickte, der der Gesellschaft noch immer eine dumme Rückenansicht zeigte. Die Gruppe von Erzählern, gewarnt durch Madges eindrückliches Flüstern, folgte ihm gehorsam. Nur ein junger Mann blieb noch zurück, der gerne gehen wollte, aber nicht wußte, wie er es anstellen sollte. Sie entließ ihn, indem sie ihm ihre Hand gab und die Hoffnung ausdrückte, ihn am nächsten Sonntag zu sehen. Er versprach es ernsthaft und ging.

»Nun,« sagte Jack, indem er sich herumdrehte im Augenblick, da die Tür geschlossen wurde. »Was steht Ihnen zu Diensten? Ihre wenigen Minuten haben sich zu zwanzig ausgesponnen.«

»Sind sie Ihnen so lang vorgekommen?« fragte sie, indem sie sich auf eine Ottomane setzte und ihr Kleid in graziöse Falten legte.

»Ja,« sagte Jack ungeschliffen.

»Mir ebenfalls. Wollen Sie sich nicht setzen?«

Jack rückte einen eichenen Stuhl mit seinem Fuß vor sie hin und setzte sich darauf, gerade so, wie in einem nordischen Märchen sich ein Zwerg zu den Füßen einer Prinzessin hingesetzt haben würde. »Nun, Gnädigste,« sagte er. »Die Lage hat sich verändert, seit ich Ihr Lehrer war. Nicht?«

»Einiges ja.«

»Sie sind groß geworden und ebenso in geringerem Maße ich auch.«

»Ich bin, was Sie so nennen, groß geworden,« sagte sie. »Aber Sie haben sich nicht verändert. Die Menschen haben nur Ihre Größe entdeckt, das ist alles.«

»Gut gesagt,« entgegnete Jack zustimmend. »Sie ließen mich auch zuerst lange genug hungern, verdammt! Pflegte ich damals schon zu fluchen, als ich Ihr Lehrer war?«

»Ich glaube wohl. Gerade dann, wenn ich sehr unbeholfen war.«

»Es ist eine schlechte Angewohnheit, eine törichte – wie alle niedrigen Gewohnheiten. Ich verfalle nur selten darauf. Und so haben Sie an Ihrer Arbeit festgehalten und Ihren Weg erkämpft. Das war recht. Lieben Sie die Bühne noch immer so wie früher?«

»Es ist mein Beruf,« sagte Madge mit geringschätzigem Achselzucken. »Aber unser Beruf ist nur halb unser Leben. In London spielen, wenn dasselbe Stück durch die ganze Saison aufgeführt wird, das gibt einem Zeit, an andere Dinge zu denken.«

»Sonntagsempfänge und elegante Wohnung zum Beispiel.«

»Dinge, die man fälschlich als Ersatz angreift. Ich habe Ihnen gesagt, mein Beruf ist nur mein halbes Leben, die öffentliche Hälfte. Jetzt, wo ich das sicher begründet habe, beginne ich einzusehen, daß die private und persönliche Hälfte, die sich mit dem Heim und – und den häuslichen Verpflichtungen befaßt, ebenso sicher begründet sein muß, oder das Leben bleibt unvollständig und das Herz unbefriedigt.«

»In gutem Englisch: Sie haben zu viel Muße, die Sie nicht besser ausfüllen können, als mit Brummen.«

»Vielleicht, aber ist das ein so großer Fehler? Als ich in meinen Beruf eintrat, erfüllten seine Schwierigkeiten meine Seele so sehr mit Hoffnungen und Befürchtungen, und die tägliche Beschäftigung nahm so sehr meine Zeit in Anspruch, daß ich alle andern Betrachtungen vergaß und mich von meiner Familie und von meinen Freunden mit so wenig Bedenken trennte, wie sie ein Kind fühlen würde, wenn es den Spielplatz wechselte. Jetzt, da die Schwierigkeiten überwunden, die Hoffnungen erfüllt (oder verlassen) und die Befürchtungen zerstreut sind – jetzt, da ich finde, daß mein Beruf nicht genügt, um mein Leben auszufüllen, und daß ich nicht nur Zeit, sondern auch Verlangen nach anderen Interessen habe, glaube ich, daß ich gedankenlos war, als ich all die Zuneigung, die ich mir unbewußt als Kind erworben hatte, in Stich ließ.«

»Wieso? Was haben Sie verloren? Sie haben doch Ihre Familie noch?«

»Ich bin ihnen durch meinen Beruf so entfremdet worden, als ob ich mich in eine andre Welt begeben hätte.«

»Ich zweifle, ob Sie da viel verloren haben. Das Publikum schwärmt doch für Sie?«

»Sie bezahlen mich für das Vergnügen, was ich ihnen bereite. Wenn ich verschwinden würde, sie hätten mich in einer Woche vergessen.«

»Warum sollten sie nicht? Wie lange glauben Sie, daß sie um Sie trauern würden? Haben Sie sich denn keine Freunde auf ihrem Lebenswege erworben?«

»Freunde? Ja, ich denke wohl.«

»Sie glauben es! Was ist denn noch los? Was wollen Sie denn noch mehr?«

Magdalen erhob ihre Augenlider einen Augenblick und schaute ihn an. Dann sagte sie: »Nichts,« und ließ die Lider wieder fallen zugleich mit dem Tonfall ihrer Stimme.

»Hören Sie mich an,« sagte Jack nach einer Pause, indem er seinen Sitz näher an sie heranzog und sie scharf ansah. »Sie wollen romantisch sein. Es wird Ihnen nicht gelingen. Sehen Sie auf den Weg, auf dem wir uns im Theater, Musik, Poesie und so weiter anklammern. Warum, glauben Sie, tun wir das? Eben, weil wir gerne romantisch sein möchten, aber wenn wir es im wirklichen Leben versuchen, hindern uns die Tatsachen und Pflichten in jedem Augenblick. Die Menschen, die die Stücke schreiben, die Sie spielen, wärmen diese Tatsachen und Pflichten auf, um die Romantik zu erheben. Und dann sagen wir alle ›Wie wundervoll naturgetreu!‹ und fühlen, daß das Theater der glücklichste Aufenthalt für uns alle ist. Helden und Heldinnen sind davon abhängig: wenn sie prosaisch spielten, sie würden nicht mehr Erfolg haben, als ein Bild in der Königlichen Akademie mit Löchern in der Leinwand oder Flecken auf seinem Himmel. Aber im wirklichen Leben ist es gerade umgekehrt. Diese Unvereinbarkeit liegt nicht an der Welt, sondern an uns. Ihr Vater ist ein romantischer Mensch, und ich auch. Aber wieviel von unserer Romantik haben wir jemals in die Praxis umsetzen können?«

»Mehr als Sie sich vielleicht erinnern,« sagte Madge unbewegt (denn eine fortwährende Beschäftigung mit ihrer eigenen Person hatte sie zu einer schlechten Zuhörerin gemacht), »aber auch mehr, als ich je vergessen werde. Es hat ein Stück Romantik in meinem Leben gegeben – eine wirklich reale. Ein vollkommen Fremder gab mir einmal auf meine einfache Bitte all sein Geld, das er auf der Welt hatte.«

»Vielleicht hat er sich beim ersten Anblick in Sie verliebt. Oder vielleicht – was ja ganz dasselbe ist – war er ein Narr.«

»Vielleicht. Es ereignete sich in der Paddington-Station vor einigen Jahren.«

»Oh, denken Sie daran? Nun, das ist ein gutes Beispiel zu dem, was ich sagte. Hatte das irgendwelche romantische Folgen? Drei Wochen später quälten Sie sich mit mir über Aussprache für so manche Stunde.«

»Ich weiß, das hatte keine romantischen Folgen für Sie.«

»Sie denken so,« sagte Jack behaglich, »aber Romantik kommt mir aus allen Dingen. Woher glauben Sie, habe ich die Anregungen für meine Musik? Und welche Leidenschaft steckt darin! – welches Feuer – welche Nichtachtung jeder Alltäglichkeit! Natürlich in der Musik, nicht in meinem täglichen Leben.«

»Dann ist Ihnen also Ihre Kunst genug,« sagte Madge in einem rührenden Ton.

»Ich höre Sie gerne sprechen,« bemerkte Jack. »Sie sprechen sehr gut. Ja, meine Kunst ist mir genug, sie ist mir mehr, als ich gewöhnlich Zeit und Energie für sie übrig habe. Aber ich will Ihnen etwas Romantisches aus meinem Leben erzählen, das Sie vielleicht interessieren wird. Haben Sie Geduld, mich anzuhören?«

»Geduld!« wiederholte Madge mit leiser, aber fester Stimme. »Versuchen Sie, mich zu ermüden.«

»Nun schön. Sie sollen es hören. Sie müssen wissen, als ich nach vielen Jahren der Armut und Geringschätzung über Nacht ein bekannter Mann geworden, der über hundert Pfund im Jahr verdiente, da war es mir eine Weile, als ob ich nun mein Haus fest gebaut hätte und nur von Zeit zu Zeit etwas daran ausbessern müßte – gerade so wie Sie denken, Sie hätten die Schauspielerkunst bemeistert und brauchten nur noch gelegentlich ein neues Stück zu lernen, um Ihren Platz auf der Bühne zu behaupten. Und so kam es, daß ich – Owen Jack – in meiner Einsamkeit zu schmachten begann, daß ich mich nach einer Gefährtin sehnte. Und in kurzer Zeit litt ich an allen diesen Symptomen, die Sie gerade vorhin so großartig beschrieben haben.« Er gab diese Erzählung mit einem so rohen Spott, daß Madge für einen Augenblick ihre erkünstelte Ruhe verlor und etwas zurückfuhr. »Ich war ganz stolz bei dem Gedanken, daß ich die Leidenschaften des Mannes ebenso gut hatte wie die Begeisterungen des Musikers. Ich suchte mir meine Dame, verliebte mich so stark, wie ich konnte, und machte meinen Antrag in hergebrachter Art. Ich war glücklicher, als ich zu sein verdiente. Ihre Bewunderung für mich war streng unpersönlich, und sie bekam fast eine Ohnmacht bei der Idee, mich zu heiraten. Sie ist jetzt die Frau eines Cityspekulanten, und ich bin zu meinem alten Metier zurückgekehrt. Ich studiere Musik und habe ganz auf meine Würde des ehemaligen Meisters der Kunst verzichtet. Oft schaudere ich, wenn ich daran denke, daß ich einst um ein Haar zu Frau und Familie gekommen wäre.«

»Dann ist also Ihr Herz tot?«

»Nein, nur die Ehe tötet das Herz und hält es tot. Besser, das Herz hungern lassen, als es überfüttern. Besser noch, es nur mit feiner Nahrung, wie Musik, zu füttern. Übrigens denke ich oft daran, ich will Mrs. Simpson heiraten, wenn ich etwas älter geworden.«

»Sie spaßen, Sie haben die ganze Zeit gespaßt. Es ist unmöglich, daß eine Frau Ihre Liebe zurückgewiesen habe.«

»Es ist sehr möglich, und es ist auch geschehen. Und,« hier erhob er sich und machte sich zum Gehen fertig, »ich müßte jeder Frau denselben Dienst erweisen, wenn eine so töricht wäre, sich aus denselben Gründen einzureden, sie liebte mich.«

»Sie glauben nicht, daß sie Sie aus tieferen und besseren Gründen lieben könnte?« sagte Madge, indem sie sich langsam erhob, ohne ihren Blick von seinem Gesicht abzuwenden.

»Dummes Zeug! Wachen Sie doch auf, Miß Madge, und vergegenwärtigen Sie sich den Unsinn, den Sie reden. Reiben Sie Ihre Augen und sehen Sie mich an, einen Kobold – einen Zyklop, wie eine feine Dame, Mrs. Herbert, mich einmal bezeichnet hat. Welche vernünftige Person unter Vierzig würde bereit sein, sich in mich zu verlieben? Und was mach ich mir aus Frauen über Vierzig, mit Ausnahme vielleicht von Mrs. Herbert – oder Mrs. Simpson? Ich liebe sie jung und schön, wie Sie sind.« Madge erhob wie in Gedanken ihre Hand und bot sie ihm auf halbem Wege an. Er ergriff sie sofort und fuhr voll Humor fort: »Und ich liebe Sie und habe Sie immer geliebt. Wer könnte eine so liebliche Frau und eine so elegante Künstlerin kennen, ohne sie zu lieben? Aber,« fügte er hinzu, indem er ihre Finger ermahnend schüttelte, »Sie müssen mich nicht lieben. Meine Zeit, den Romeo zu spielen, war vorbei, ehe Sie mich jemals sahen, und die junge Julia darf sich nicht in den Bruder Lorenzo verlieben, selbst wenn er ein großer Komponist ist.«

»Nicht, wenn er sie daran hindert – und sie gibt nach,« sagte Madge mit feierlichem Kummer, indem sie ihre Hand fallen ließ, sobald er sie losließ.

»Überhaupt nicht,« sagte Jack. »Kommen Sie zu sich,« fügte er in gebietendem Tone hinzu, »wir sind kein Paar, Sie und ich. Ich habe Selbstachtung, lernen Sie auch sich selber kennen. Wir zwei sind Künstler, wie Sie wissen. Nun, hier ist eine Kunst, die durch nichts angefacht wird, wie durch eine Leidenschaft zu Heucheln, und das ist Ihre. Dann ist da eine Kunst, die angefacht wird durch eine Leidenschaft für Schönheit, aber nur bei Menschen, die niemals Schönheit mit Lüge verbinden. Das ist meine Kunst. Bemeistern Sie diese, und Sie werden zu wahrer Liebe fähig werden. Gegenwärtig verstehen Sie es nur, Theater zu spielen, was eine zu allgemeine Fähigkeit ist, um mich zu interessieren. Sie sehen, Sie haben Ihre Studien noch nicht ganz beendet. Adieu.«

»Adieu,« sagte Madge regungslos.

Er schritt hinaus in der nüchternsten Weise, die möglich war. Sie sank auf die Ottomane mit einer Miene der Verzweiflung – und da ihr diese bequem war, und sie ihn nicht im mindesten verstand – hielt sie sie noch lange bei, nachdem er durch das Schließen der Tür den Vorhang zu dem Stück hatte fallen lassen. Denn es war ihre Gewohnheit, eine theatralische Stellung ebenso oft, wenn sie allein war, anzunehmen, wie vor den Leuten, in deren Vorstellung das Vergnügen des Theaterspielens niemals mit der Mühe des Brotverdienens verbunden sein darf.

Jack hatte unterdessen das Haus verlassen. Es war schon dunkel geworden, und er ging weiter in düsterem Brüten, aus dem er plötzlich emporfuhr, um vor dem Hause, das er gerade verlassen hatte, seinen Kopf zu schütteln und laut zu sagen: »Sie sind ein freches Frauenzimmer!« Diese Bemerkung, der noch abgebrochene Flüche folgten, wurde von einer vorübergehenden Frau übel aufgenommen. Sie bezog das auf sich selbst und wartete nur, bis er in sicherer Entfernung war, um ihn mit ebensolchen und schrillen Beschimpfungen zu überschütten, was bald viele Leute veranlaßte, stehen zu bleiben und hinter ihm her zu blicken. Aber er bemerkte kaum etwas von dem Tumult, und da er nicht vermutete, daß das etwas mit ihm zu tun hatte, ging er weiter, ohne seinen Kopf zu erheben, und war bald in der zunehmenden Dunkelheit verschwunden.

Während dieser ganzen Zeit wanderte Charlie, der mit den ersten Madges Räume verlassen hatte, bei Kensington in der Nähe von Herberts Wohnung umher. Er war ruhelos und unzufrieden und wich der Beobachtung Vorbeigehender aus, in der Furcht, daß sie die Gründe seines Umherlungerns vermuten und belächeln könnten. Schließlich wandte er sich nach Campden Hill und ging zu seiner Schwester. Mary hatte gewöhnlich Sonntags abends Besucher, und einige von diesen würden ihm wohl helfen, den Abend angenehm zu verbringen, trotz Hoskyns prosaischem Wesen. Vielleicht auch – aber hier schüttelte er weitere Vermutungen ab und klopfte an die Tür.

»Ist jemand oben?« fragte er gleichmütig das Mädchen, als er seinen Hut aufhing.

»Nur eine Dame, Herr Sutherland, Mrs. Herbert.«

Irgend etwas schien in ihm emporzuquellen bei diesem Namen. Er besah sich im Spiegel, bevor er in den Salon ging, in dem er zu seinem äußersten Mißvergnügen Mary nicht in Unterhaltung mit Mr. Herberts Frau, sondern mit seiner Mutter fand. Sie war gerade angekommen und erzählte Mary, daß sie den Tag vorher von einer langen Abwesenheit in Schottland zurückgekehrt sei. Charlie freute sich niemals über ein Zusammentreffen mit Mrs. Herbert, denn sie hatte ihn als Knaben gekannt und hielt noch immer die Gewohnheit bei, ihn als solchen zu behandeln. Als er daher hörte, daß Hoskyn im andern Zimmer sei und rauche, schützte er ein Verlangen nach einer Zigarre vor und ging zu ihm, indem er die beiden Damen allein ließ.

»Sie sagten –?« begann Mary, indem sie die Unterhaltung, die sein Erscheinen unterbrochen, wieder aufnahm.

»Ich sagte,« antwortete Mrs. Herbert, »daß ich niemals imstande war, das Interesse zu begreifen, das Sie an Adrians Leben und Ansichten nehmen. Geraldine erzählte mir, ich hätte keine mütterlichen Instinkte, aber Geraldine hat keine Söhne und weiß nicht, worüber sie spricht. Ich blickte auf Adrian wie auf etwas Mißlungenes, und ich kann wirklich kein Interesse hegen für einen Mann, der nichts ist. Daß er mein Sohn ist, macht mir die Sache nur persönlich unangenehm. Ich habe noch eine Art mütterlicher Zuneigung für meinen Jungen; aber was nützt ihm das, seitdem er die Gewohnheit aufgegeben hat, mir das Herz zu durchbohren. Ich würde zu ihm hingehen, wenn er krank wäre, und ich würde ihm helfen, wenn er in Sorge wäre; aber ich sehe wirklich nicht ein, warum ich mich fortwährend seinetwegen beunruhigen sollte. Sie mit Ihrem eigenen lieben Kind, das Sie gerade erst bekommen haben – das fast noch ein Teil von Ihnen selbst ist, halten mich zweifellos für sehr herzlos. Aber Sie werden einmal lernen, daß Kinder ihr eigenes Leben haben und Interessen, die von denen ihrer Eltern so vollständig unabhängig sind, als wären sie die entferntesten Fremden. Ich glaube, Adrian könnte mich nicht einmal leiden, wenn er es nicht aus Pflichtgefühl täte. Sie werden es einmal verstehen, daß die gewöhnlichen Ansichten über die Beziehungen von Eltern und Kindern noch verkehrter sind als die über Liebe und Ehe.«

Mary, die schon einiges über diesen Gegenstand erfahren hatte, protestierte nicht, wie sie es vielleicht in ihrer Mädchenzeit getan hätte. »Was mich am meisten erstaunt, ist, daß Mrs. Herbert unhöflich gegen Sie gewesen ist,« sagte sie. »Ich glaube nicht, daß sie mich besonders gut leiden kann, ich bin sogar vom Gegenteil überzeugt; aber nichts konnte in höherem Maße höflich und liebenswürdig sein, als ihr Benehmen mir gegenüber, besonders in ihrer eigenen Wohnung.«

»Ich gebe Ihnen die Vollkommenheit ihres Benehmens zu, meine Liebe. Sie war nicht unhöflich gegen mich. Nicht, daß es genau die Manieren der feinen Gesellschaft waren, aber sie war alles in allem in ihrer Art vollkommen. Horch! Ich denke – hörte ich da nicht Adrians Stimme?«

Adrian sprach tatsächlich im Flur mit Hoskyn, der dort gerade mit Charlie erschienen war, um zum Salon zurückzukehren. Aurélie befand sich in Begleitung ihres Mannes. Sie gingen alle für einen Augenblick in das Studierzimmer, das Sonntags abends als Ankleidezimmer diente.

»Ich versichere Ihnen, Mrs. Herbert,« sagte Hoskyn, indem er dienstfertig Aurélie half, ihren Mantel abzulegen, »ich bin außerordentlich glücklich, Sie zu sehen.«

»Ach ja,« sagte Aurélie, »aber das ist gar nicht richtig. Sie hätten mir jetzt einen Besuch machen sollen, denn ich bat Sie, bei mir zu speisen, aber Sie kamen nicht.«

»Sie sind gerade zu einer günstigen Zeit gekommen,« sagte Charlie schadenfroh. »Mrs. Herbert ist oben.«

»Meine Mutter!« sagte Adrian bestürzt.

»Wollen wir hinaufgehen?« fragte Hoskyn und zeigte mit entschlossener Freundlichkeit den Weg.

Adrian blickte nach Aurélie. Sie hatte die muntere Art, in der sie mit Hoskyn gesprochen, fallen gelassen und ging nun zur Türe mit drohender Vornehmheit und Ruhe.

»Aurélie,« sagte er, indem er sie einen Augenblick im Zimmer zurückhielt, »meine Mutter ist hier. Du wirst mit ihr sprechen – um meinetwillen – nicht wahr?«

Sie erhob nur ihre Hand, um anzudeuten, daß man sie in Ruhe lassen sollte, und ging dann, ohne seinen Blick voll Qual und Bestürzung zu beachten, hinaus, um Hoskyn in den Salon zu folgen, in dem Mary und Mrs. Herbert, die ihre ausländische Stimme erkannt hatten, sie erwarteten, kaum weniger verwirrt als Adrian in ihrer Besorgnis, was sie wohl tun werde.

»Mrs. Herbert junior war so gütig, dir einen Besuch zu machen, Mary,« sagte Hoskyn.

»Wie geht es Ihnen?« fragte Mary mit Besorgnis. »Ich bin sehr erfreut, Sie zu sehen.«

»Ich muß mir so oft Vorwürfe machen, meine Freunde noch nicht besucht zu haben,« sagte Aurélie in ihrer süßesten Stimme, »daß ich Adrian nachgab auf die Gefahr hin, Sie durch mein Kommen am Sonntagabend zu stören.« Eine Pause folgte, in der sie suchend umherblickte. »Ah!« rief sie aus mit einem Blick des Erstaunens und Vergnügens, als sie Mrs. Herbert erkannte, »ist es möglich? Sie sind wieder in London, Madame?« Sie trat vor und bot ihr die Hand. Mrs. Herbert, die sie ruhig ansehend dagesessen hatte, kürzte die Begrüßung so viel wie möglich ab und wandte ihre Aufmerksamkeit Adrian zu. Nichtsdestoweniger zog Aurélie einen Stuhl neben den ihrigen und setzte sich dort nieder.

»Du siehst gut aus, Mutter,« sagte Adrian. »Wann bist du zurückgekommen?«

»Erst gestern, Adrian.« Es folgte ein kurzes Schweigen. Adrian sah Aurélie an, und seine Mutter vermied es stumm, nach ihr hinzublicken.

»Aber wie komisch das doch ist!« sagte Aurélie. »Sie, Madame, die Sie encore so jung – so schön –« – hier konnte Mrs. Herbert, die sich mit geduldiger Aufmerksamkeit zu ihr hingewandt hatte, einen Ausdruck des Erstaunens nicht unterdrücken – »Sie sind schon Großmutter. Adrian hat, wie Sie das nennen, einen Sohn und Erben. Ganz im Ernst.«

»Ja, ich habe es erfahren,« sagte Mrs. Herbert kühl.

Eine leichte Veränderung erschien für einen Augenblick auf Auréliens Gesicht, und sie blickte ihren Mann einen Moment ernst an. Mit nur halb verhehlter Abneigung sagte er: »Du konntest keinen Gesprächsgegenstand anbrechen, der meiner Mutter weniger Interesse bietet,« und wandte sich ab, um mit Mary zu sprechen.

»Adrian,« begann Mrs. Herbert, die sich durch den darin enthaltenen Vorwurf der Gefühllosigkeit in unerwarteter Weise verwirrt fand, »ich denke nicht –« dann wandte sie sich, da er ihr kein Gehör gab, zu Aurélie und sagte, »Sie müssen nicht alles annehmen, was Adrian im Ernst spricht. Bitte erzählen Sie mir alles über Ihren Jungen – meinen Enkel, sollte ich sagen.«

»Er sieht Ihnen ähnlich,« sagte Aurélie, und versuchte die Kälte zu verbergen, die sie überfallen hatte. »Vielleicht wollen Sie ihn einmal sehen. In diesem Falle kann ich ihn Ihnen einmal bringen, wenn Sie es mir gestatten.«

»Ich werde wirklich erfreut sein,« sagte Mrs. Herbert, sehr überrascht. »Ich habe es schon längst erwartet, daß Sie mich einmal besuchen würden.«

»Sie sind sehr gütig,« sagte Aurélie. »Aber bedenken Sie, wie ich lebe. Ich bin stets auf Reisen, und Sie befinden sich auch selten in London. Übrigens, wenn man Künstlerin ist, vernachlässigt man das andere. Vergessen Sie, bitte, mein – mein – ach, ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Aber ich werde Sie besuchen kommen, mit Monsieur Jean Szczympliça Herbert. Dabei fällt mir ein, wie ist doch Ihre Adresse?«

Mrs. Herbert gab ihr die gewünschte Auskunft und die Konversation verlief jetzt in freundschaftlichem Ton, mit gelegentlichem Eingreifen Hoskyns und Charlies. Mary und Adrian hatten sich in einen andern Teil des Zimmers begeben und waren schon in eine Diskussion verwickelt. Schließlich bemerkte Mary, die Beziehungen zwischen den beiden Mrs. Herberts wären offenbar freundliche.

»Ich bin sehr erfreut darüber,« sagte Adrian, obgleich er nicht erfreut aussah. »Ich war geneigt, zu glauben, daß Aurélie in diesem Punkt unrecht hatte; aber ich sehe jetzt deutlich genug, woher die Kälte entstanden ist. Ich würde Aurélie durchaus nicht getadelt haben, wenn sie auf die Unverschämtheit meiner Mutter – ich glaube nicht, daß das ein zu hartes Wort ist – in gleicher Art geantwortet hätte. Arme Aurélie! Ich habe die ganze Zeit im stillen hart über sie geurteilt, weil sie, wie ich glaubte, die Zurückhaltende gespielt hatte. Wie ungerecht und töricht von mir, daß ich sie nicht beide besser gekannt habe, die eine durch die Erfahrungen meines ganzen Lebens, die andere durch tägliche Beobachtung. Aurélie ist ihr diesen Abend nur begegnet, weil sie darum bat, als wir die Treppe heraufstiegen. Du kannst nicht leugnen, daß meine Frau überaus gütig und selbstverleugnend sein kann, wenn sich eine Gelegenheit dafür ergibt.«

»Ich kann es nicht leugnen! Adrian, du sprichst, als ob ich die Gewohnheit hätte, sie herabzusetzen. Du irrst dich sehr. Niemand kann sie mehr bewundern, als ich es tue. Meine einzige Furcht ist, sie könnte zu freundlich sein und dich verderben. Wie könnte ich ihr widerstehen? Selbst deine Mutter, die offenbar gegen sie ein Vorurteil hatte, gibt jetzt nach. Du kannst es an ihrem Gesicht ansehen, daß sie den Kampf aufgegeben hat. Ich denke, es ist besser, wir gehen jetzt zu ihnen. Wir haben eine sehr unhöfliche Art, abseits in einem Winkel zu sitzen. Ich bin trotz allem, was du sagst, sicher, daß Mrs. Herbert zu viel von dir hält, um das zu lieben.«

»Mrs. Herbert ist ein seltsames Wesen,« sagte Adrian, indem er sich erhob. »Ich will nicht länger behaupten, daß ich weiß, was sie liebt und was sie nicht liebt.«

Mary machte in Gedanken die Bemerkung, daß Aurélie wohl sicher über das, was sie im Atelier gesehen, mehr zu sagen hatte, als Adrian glaubte. Die allgemeine Unterhaltung, die jetzt folgte, ging nicht auf persönliche Angelegenheiten über. Man gestattete Aurélie, das Gespräch zu leiten, wie man auch stillschweigend damit einverstanden war, daß das allgemeine Interesse sich gewissermaßen um sie drehte. Mrs. Herbert fragte sie lachend nach dem Geheimnis, Adrian zu leiten; aber sie ging gewandt zu einer andern Frage über, und wollte über ihn nicht mehr sprechen und ihn nicht familiärer behandeln als Hoskyn oder Charlie.

Später schlug Hoskyn vor, daß sie in ein Zimmer hinabgehen sollten, das durch ein großes Fenster und eine schmale, grasbewachsene Terrasse mit dem Garten verbunden war. Da die Nacht schwül war, stimmten sie gerne zu und saßen bald unten bei einem leichten Souper. Nach dem Essen schlenkerte Hoskyn mit Adrian durch den Garten, um noch eine Zigarre zu rauchen, und um ihm einen neu erworbenen Gartensprenger und eine Rasenwalze zu zeigen. Es war seine Gewohnheit, das Interesse seiner Besucher auf seine neuesten Erwerbungen zu lenken, ob es nun Kinder, Möbel oder Gartengeräte waren. Mrs. Herbert, die trotz des hellen Mondscheines nicht von ihrem Glauben losließ, daß man sich frischer Luft nur unter einem Dach aussetzen dürfte, wagte sich nicht über den Teppich hinaus, und Mary fühlte sich verpflichtet, bei ihr im Zimmer zu bleiben. Aurélie ging bis an den Rand der Terrasse, faltete die Hände hinter ihrem Rücken und wurde von der Betrachtung des wolkenlosen Himmels ergriffen, der einer weiten Mondlichtebene glich. Ihre Aufmerksamkeit wurde durch Charlies Stimme neben ihr zurückgerufen.

»Schrecklich hübsche Nacht, nicht wahr, Mrs. Herbert?«

»Ja, sie ist sehr schön.«

»Ich glaube, Sie finden eine unendliche Poesie in all diesen Sternen.«

»Poesie! Nein, ich bin ganz und gar nicht poetisch, Monsieur Charles.«

»Das glaube ich alles nicht, wissen Sie. Sie sehen poetisch aus.«

»Das ist ja, weswegen die Leute mich mißverstehen. Sie sind sehr unvernünftig. Sie sagen, Mademoiselle Szczympliça hat solch ein Gesicht und eine Figur. In unserm Kopf verbindet sich solch ein Gesicht und eine Figur mit Poesie. Darum muß sie poetisch sein. Wir wollen es so haben, und wenn sie uns enttäuscht, werden wir sehr böse über sie sein. Und ich enttäusche sie. Wenn Sie poetisch über Musik und dergleichen reden, werde ich ungeduldig, nach Hause zu maman zu kommen, die nie über so etwas redet, und zu dem Bambino, das überhaupt nicht redet. Was, glauben Sie, finde ich in diesen Sternen? Ich sehe nach Aurélie und Thekla in dem Großen Bären, den die Engländer Charles' Wagen nennen. Ach ja! Ich habe noch nie daran gedacht. Sie sind Monsieur Charles, wem gehört der Wagen?«

»Ja, ich habe mein Studium oft darauf gelenkt, und kam davon ab. Was mag Aurélie und Thekla sein?«

»Aurélie bin ich, und Thekla ist meine Puppe. In meiner Kinderzeit benannte ich einen Stern nach jedem, den ich liebte. Nur ganz wenige Personen bekamen einen Platz in Charles' Wagen. Es war das große Gefährt des Ruhmes; und schließlich fand ich keinen mehr seiner wert außer meiner Puppe und mir selbst. Sehen Sie, wie poetisch ich bin! Ich war ein törichtes Kind, denn ich vergaß, meiner Mutter einen Stern zu geben – ich vergaß meine ganze Familie. Als meine Mutter das eines Tages erfuhr, sagte sie, ich hätte kein Herz. Und wirklich, ich fürchte, ich hab' keins.«

»Gott behüte!«

»Sehen Sie, Monsieur Charles,« sagte sie mit einem plötzlichen Ausdruck von Verschmitztheit, indem sie ihre Hände auseinanderfaltete, um mit den Fingern nach ihm zu schnipsen: »Ich bin nicht das, für was Sie mich halten. Ich bin das Gegenteil davon. Ich habe eine Krämerseele in mir.«

»Das freut mich sehr,« sagte er eifrig, »denn ich möchte Ihnen einen geschäftlichen Vorschlag machen. Wollen Sie mir Stunden geben?«

»Ihnen Stunden! Was für Stunden?«

»Stunden im Klavierspielen. Ich möchte schrecklich gern ein guter Pianist werden; und ich habe niemals einen wirklich guten Unterricht gehabt, seit ich Knabe war.«

» Vraiment? Ach, Sie denken, da Sie in den verschiedensten Berufen so große Ausdauer bewiesen haben, Sie würden es leicht finden, ein guter Spieler zu werden. Nicht wahr?«

»Durchaus nicht. Ich weiß, daß Spielen Jahre der Ausdauer erfordert. Aber ich denke, ich kann ausharren, wenn Sie mich lehren.«

»Monsieur Charles, Sie sind, – wie soll ich Sie nennen? Sie sind ein geniales Kind, denke ich.«

»Machen Sie keinen Scherz mit mir, Mrs. Herbert. Mir ist es furchtbar ernst – –« Hier schlug zu seiner Verwirrung seine Stimme vor Aufregung über.

»Sie glauben, ich machte mich über Sie lustig?« fragte sie, indem sie tat, als ob sie nichts bemerkt hätte.

»Ich bin nicht töricht genug, anzunehmen, daß Sie sich etwas daraus machen, was ich denke,« sagte er bitter und verlor seine Selbstbeherrschung. »Ich weiß, Sie wollen mir keine Stunden geben. Ich wußte es vorher.«

»Und warum haben Sie mich dann gefragt?«

»Weil ich Sie liebe,« antwortete er, mit Anzeichen hysterischer Qual. »Ich liebe Sie.«

»Ah!« sagte Aurélie streng. »Sehen Sie meinen Mann dort, wie er nach Ihnen hinblickt? Und wissen Sie nicht, daß es sehr abscheulich ist, mir so etwas zu sagen? Bedenken Sie, Monsieur Charles, daß Sie jetzt ganz nüchtern sind. Ich werde Sie nicht entschuldigen, wie ich es einmal getan habe.«

»Ich konnte nichts dafür,« sagte Charlie halb mutlos, halb verzweifelt. »Ich weiß, es ist hoffnungslos, ich fühlte es in dem Augenblick, als ich es gesagt hatte. Aber ich kann nicht immer handeln wie ein Mann der Gesellschaft. Ich wünschte, ich hätte Sie niemals getroffen.«

»Und warum? Ich habe Sie ganz gern, wenn Sie gut sind. Aber das ist jetzt schon das zweite Mal, daß Sie vergaßen, ein anständiger Mensch zu sein. Ist es nicht unehrenhaft, so Ihren Freund zu betrügen? Wenn Monsieur Herbert eine kostbare Uhr hätte, würden Sie wünschen, sie zu besitzen? Nein, der Gedanke, daß es die seine sei, würde Ihnen entgegentreten – würde Sie hindern, solch einen Wunsch zu hegen. Nun wohl. Sie müssen auf mich wie auf seine Uhr sehen. Sie müssen nicht einmal solche Dinge, wie Sie sie soeben gesagt haben, denken. Ich will Ihnen nicht zürnen, Monsieur Sutherland, weil Sie noch sehr jung sind und bewundernswerte Fähigkeiten haben. Aber Sie haben unrecht gehandelt.«

Bevor er antworten konnte, ging sie fort und trat zu ihrem Mann am Ende des Gartens. Charlie starrte ihr mit offenem Mund einige Sekunden nach und ging in den Speiseraum, wo er Mary und Mrs. Herbert belästigte, indem er herumstrich, gelegentlich eine Traube vom Tisch nahm, oder ein Glas Wein einschenkte. Zuletzt schlenkerte er zum Salon, wo ihn die andern, als sie nach einer Weile heraufkamen, mit einem Buch in der Hand fanden, angeblich lesend. Er sprach nichts mehr, bis er der älteren Mrs. Herbert Adieu sagte, die unter Hoskyns Begleitung wegging. Aurélie ging, bevor sie ihrem Beispiel folgte, mit Mary in die Kinderstube, um einen Blick auf Master Richard Hoskyn zu werfen, wie er in seiner Wiege lag.

»Er lacht,« sagte Aurélie. »Welch ein reizendes Kind. Das Bambino lacht niemals. Es ist so triste, gerade wie Adrian!« Als sie sich umwandten, um das Zimmer zu verlassen, fügte sie hinzu: »Armer Adrian! Ich beabsichtige dieses Jahr nach Amerika zu gehen, aber er weiß es nicht. Sie müssen sich seiner annehmen, während ich weg bin, nicht wahr?«

Mary sah, daß sie im Ernste sprach, und wußte nicht, was sie antworten sollte. »Soweit ich es kann, will ich es gewiß tun,« sagte sie nach einigem Nachdenken. Dann fuhr sie lachend fort: »Es ist eigentlich ein merkwürdiger Auftrag.«

»Durchaus nicht, durchaus nicht,« sagte Aurélie, noch immer ernsthaft. »Er hat eine große Hochachtung vor Ihnen, Madame – eine größere, als vor irgend jemand anderm auf der Welt.«

Mary öffnete ihre Lippen, um zu sagen: »Mit Ausnahme von Ihnen,« aber irgend etwas hielt sie zurück. Statt dessen bemerkte sie, daß vielleicht Adrian selbst seine Frau nach Amerika begleiten würde. »Die Reise,« meinte sie, »würde ihm gut tun.«

»Nein, nein,« sagte Aurélie schnell. »Er fühlt sich hinter der Bühne bei einem Konzert nicht wohl. Er ist da nicht am richtigen Platz. Meine Mutter wird mich begleiten. Sprechen Sie aber mit ihm noch nicht darüber, ich weiß noch nicht, ob sie mir eine genügende Summe garantieren. Aber selbst, wenn ich nicht gehe, werde ich doch viel fort sein. Wie ich Ihnen schon erzählt habe, werde ich am Ersten nächsten Monats England auf sechs Wochen verlassen. Sie werden nicht dulden, daß Adrian schwermütig ist, und Sie werden mit ihm über seine Bilder sprechen, von denen ich so epouvantabel stumpfsinnig bleibe.«

»Ich werde mein Bestes tun,« sagte Mary und dachte bei sich, daß Aurélie doch wirklich eine unberechenbare Person sei.

Während sie das sagte, traten sie wieder in den Salon.

»Jetzt bin ich fertig, Adrian.«

»Ja,« sagte Herbert. »Gute Nacht, Mary.«

»Sie sagten, glaube ich, Mrs. Herbert will auf eine lange Tour fortgehen,« sagte Charlie, indem er vortrat und mutig sprach, obgleich sein Gesicht ganz rot war.

»Ja,« sagte Adrian. »Nicht auf eine sehr lange Tour, danke sehr.«

»Dann werde ich sie nicht mehr wiedersehen – wenigstens für einige Zeit nicht. Ich habe beschlossen, den Posten in der Filiale von Conolly Company in Leeds anzunehmen. Und ich werde fort sein, bevor Mrs. Herbert vom Kontinent zurückkehrt.«

»Das ist ein plötzlicher Entschluß,« sagte Mary mit einigem Erstaunen.

»Ich hoffe, Mrs. Herbert hält ihn für einen vernünftigen,« sagte Charlie. »Sie hat oft über meine Versuche, mir eine Stellung in der Welt zu erobern, gespottet.«

»Ja,« sagte Aurélie, »er ist sehr vernünftig und ganz gut. Ihr Instinkt sagte Ihnen das. Gute Nacht und bon voyage, Monsieur Charles.«

»Mein Instinkt sagt mir, daß er sehr töricht und ganz verkehrt ist,« sagte er und nahm furchtsam ihre dargebotene Hand, »aber ich sehe nichts anderes unter den Umständen. Die Zukunft zeigt mir nichts, worüber ich mich freuen kann. Adieu.« Mary ging dann mit ihren Gästen hinunter; aber er kehrte in das Zimmer zurück und beobachtete ihr Fortgehen durch das Fenster.

Ende.


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