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Dreizehntes Kapitel

Jack erteilte seinen Unterricht in einem besonderen Zimmer der Geschäftsräume einer berühmten Pianofirma.

Am Tage nach dem Theaterbesuch schlug er nach Beendigung der Stunden zu Fuß durch Hyde Park den Heimweg ein. Hier sah er eine Dame auf sich zukommen, die ein pfauenblaues Kleid und einen breiten spanischen Hut trug und einen maisfarbenen Schal um Nacken und Schultern geschlungen hatte. Jack machte halt und starrte sie finster an. Sie setzte ihren Kneifer auf, blickte ihm forschend ins Gesicht, schüttelte das Augenglas wieder von der Nase und blieb gleichfalls stehen.

»Sie sind heute früh fertig,« meinte sie lächelnd.

»Ich bin nicht fertig!« entgegnete er. »Ich habe ihnen abgesagt. Ich will zu Hause arbeiten. Ich kann mein ganzes Leben nicht aufs Geldverdienen verwenden – ich habe ohnedies gar keine Aussicht darauf. Vier Unterrichtsstunden – fünf Pfund – futsch!«

»Sie haben ihnen doch hoffentlich schriftlich abgesagt?«

»Nee! Wenn sie kommen, werden sie schon herausfinden, daß ich nicht da bin. Dann können sie sich meinetwegen gegenseitig unterrichten oder zum Teufel gehen. Sie würden mich auch alle viel lieber sitzen lassen, als eine Tennis-Partie versäumen. Und ich lasse sie lieber umsonst kommen, als daß ich einen ganzen Nachmittag schöner Arbeit verliere. Über dem Geldverdienen und dem Gesellschaftskram büße ich meine alte gute Unabhängigkeit ein – das paßt mir nicht. Na, ganz egal! Wollen Sie nach Cavendish Square?«

»Ja. Sie dürfen aber jetzt nicht umkehren! Sie haben den Unterricht nicht schießen lassen, um mit mir im Park spazierenzugehen. Sie wollen komponieren. Das sehe ich Ihnen am Gesicht an.«

»Haben Sie Eile?«

»Das nicht, – aber – –«

»Dann lassen Sie uns ein wenig umhergehen – einen Augenblick lang, wie man das nennt. Das Wetter ist viel zu schön, um sich einzuschließen und Töne zu reimen.«

Sie wandte sich um, und dann wanderten sie über das ebene Stück zwischen der Serpentine und dem Bayswater Road, durchquerten einen freien Rasenplatz oder suchten sich ihren Weg durch die Müßigen, die mit dem Gesicht nach unten schlafend im Grase lagen oder sich rücklings von der Sonne braten ließen. Der Nachmittag war warm und der Himmel wolkenlos.

»Wenn man die Welt so zufrieden sieht, möchte man eigentlich nicht glauben, wie schandbar sie in Wirklichkeit ist,« meinte er, als sie schweigend eine Weile umhergewandert waren.

»Ganz so schlimm ist sie schließlich doch nicht! Wenn Sie etwas vom Maler an sich hätten, wie ich, so würde Sie dieser sonnenbeschienene Rasen und dies Laub für all die Beschränktheit der Leute schadlos halten, die Augen haben, zu sehen, und doch nichts sehen.«

»So? Und Maler bilden sich ein, daß ihre Kunst veredelnd wirkt, nicht wahr? Angenommen, ich verlangte von einem Maler, er solle ein verlogenes, falsches, herzloses Frauenzimmer bewundern, und stellte ihn dann als phantasielos hin, wenn er ihre blauen Augen und ihr seidenweiches Haar und ihre schönen Formen nicht als Entgelt für ihren verdorbenen Charakter gelten lassen wollte – dann würde er mich mit allen möglichen Namen schimpfen – einen zynischen Sinnenmenschen und dergleichen mehr. Was hat er denn von seiner gepriesenen Schönheit der Natur. Es gibt Augenblicke, wo ich mir wünsche, ein tüchtiger, kratzender, zischender Bimssteinregen fegte ihr alle Schönheit von der falschen Fratze.«

»Großer Gott, was ist denn heute mit Ihnen los?«

»Spleen – weil ich arm bin! Darin liegt für die meisten Menschen der Quell aller Übel.«

»Aber Sie sind ja gar nicht arm! Bedenken Sie, daß Sie soeben erst fünf Pfund weggeworfen haben – und daß Sie morgen zehn verdienen.«

»Ich weiß.«

»Und?«

»Und können fünf Pfundstücke für einen Kerl, der sich Zeit wünscht und Freiheit von allen niedrigen Menschen und Gedanken, Reichtum bedeuten? Nein! Die erste Hälfte meines Lebens habe ich durchgehungert – ich will mich durch die zweite auf derselben Grundlage durchkämpfen. Jetzt verdiene ich zehn Pfund täglich, indem ich weiblichen Affen das Schreien beibringe, damit sie für den Heiratsmarkt tauglicher werden. Das kommt daher, weil ich in Mode bin. Wie lange werde ich in Mode bleiben? Bis zum August, bis die Gesellschaft – wie sie sich schimpft – in alle Winde zerstiebt, um im nächsten Frühjahr zurückzukehren und den Wohlstand des nächsten glücklichen Charlatans zu begründen, der für meine Stelle als Meistbietender auftritt. Ich freue mich, sie los zu werden, trotz aller ihrer Pfunde. Der Unterricht nimmt mir meine Zeit und bringt ihnen keinen Nutzen. Außerdem bleibt mir noch der Profit an meinen Kompositionen, wovon ich vielleicht fünf Prozent in bar bekomme – den Ruhm und die Ehre extra. Der Rest wandert in die Taschen meiner Verleger und Impresarii, deren einige den halben Weg zum Nachruhm auf meinen Schultern zurücklegen – weil sie mir für eine Symphonie, für die Frucht zwanzigjähriger harter Arbeit, den fünften Teil von dem gegeben haben, was alle Tage für ein plundriges Bild oder einen lumpigen Roman gezahlt wird. Meine Fantasie ist ausgeschlachtet und in jeder musikliebenden Stadt Europas gespielt worden. Und von dem, was ich dabei verdient habe, könnte ich Ihnen nicht einmal eine Zobeljacke kaufen.«

»Das ist gewiß sehr hart. Liegt Ihnen denn aber wirklich so viel am Geld?«

»Haha! Natürlich nicht! Natürlich nicht! Musik ist ja schon in sich selbst ein Lohn. Komponisten sind ja keine Menschen. Sie leben von verminderten Septimen – sie sind zufrieden, wenn sie ein Klavier zur Frau haben und ein Streichquartett zur Familie. So,« setzte er hinzu, »jetzt ist genug geschimpft! Als ich mich aufs Komponieren warf, da wußte ich, daß ich meine Kühe auf keine fette Weibe trieb. Tun Sie mir aber den einzigen Gefallen und machen Sie mir nicht weiß, ein Komponist könnte seinen Appetit oder seine Neigungen besser mit Musik befriedigen als ein Schlächter oder Bäcker. Aber ich denke mir, ich werde als alter Junggeselle wenigstens um so viel ruhiger leben.«

»Das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß Sie heiraten möchten!«

»Wer sagt Ihnen denn das?«

»Ich dachte, Sie bedauerten Ihren verschärften Ehelosigkeitszustand,« entgegnete sie lächelnd. Er runzelte die Stirn, und sie wurde ernst. »Übrigens,« fügte sie hinzu, »kann ich Sie mir als verheirateten Mann nicht gut vorstellen.«

»Warum nicht?« fuhr er sie ärgerlich an. »Bin ich ein Fisch oder ein Musikautomat? Warum soll ich weniger Recht auf die gewöhnlichsten menschlichen Bande haben als irgendein anderer?«

»Natürlich haben Sie genau so viel Recht,« entgegnete sie voll Verwunderung darüber, daß ihre Bemerkung ihn verletzt haben sollte. »Aber nun kenne ich Sie schon so lange als das, was Sie jetzt sind.«

»Was bin ich denn jetzt?«

»Eine Art vergeistigten Einsiedlers,« erklärte sie, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen. »Es will mir scheinen, als wäre die Ehe für Sie ein unvereinbares Zugeständnis. Ich bilde es mir nur ein – ich weiß. Können Sie eine Frau finden, die Ihrer wert und imstande wäre, Sie glücklich zu machen – so sollen Sie meiner Ansicht nach heiraten. Es würde mich ganz außerordentlich freuen, Sie von einer Schar unartiger Kinder umgeben zu sehen. Dann würden Sie sich wahrscheinlich auch niemals wieder als Menschenfresser betätigen.«

»Sie halten mich also für einen Menschenfresser – was?«

»Manchmal. Heute zum Beispiel finde ich Sie entschieden menschenfresserisch. Ich ärgere Sie doch hoffentlich nicht mit meiner Vergnügtheit. Ich bin heute ungewöhnlich lustig.«

»Hm! Sie sind ziemlich nachdrucksvoll auf die Ehefrage eingegangen. Soll ich daraus entnehmen, daß Sie mich gern verheiratet wüßten?«

»Glücklich verheiratet – ja! Es würde mich freuen, Ihre öde, düstere Behausung in eine Stätte des Frohsinns verwandelt zu sehen. Sie an der Seite einer Persönlichkeit zu wissen, die die Sorge für Ihre häuslichen Angelegenheiten übernehmen könnte, wozu Sie selbst völlig außerstande sind. Nachdem Sie den Gedanken einmal angeregt haben, nimmt er immer mehr von mir Besitz. Soll ich mich auf die Suche nach einer passenden Frau für Sie machen?«

»Darauf verfallen Sie natürlich nicht,« entgegnete er mit unverminderter Verdrießlichkeit, »daß ich schon selbst eine Wahl getroffen habe – daß in der ganzen Geschichte bei mir auch etwas wie eine Herzensneigung mitspielen könnte?«

Mary war ganz verdutzt. Sie setzte ihren Kneifer auf und versuchte aus seinem Gesichtsausdruck zu entnehmen, ob er im Ernst oder Scherz spräche. Da ihr dies nicht gelang, so lachte sie und sagte: »Ich dachte nicht, daß Sie sich jemals damit beschäftigt hätten.«

»Stimmt auf den Kopf! Ich bin ja ein ganz bevorzugter Sterblicher – ohne Herz und ohne Portemonnaie. Wenn Sie nach der Coda von Herrn Jacks Symphonie aus Ihrem Schlummer erwachen und in die Hände klatschen, so haben Sie seine sämtlichen Bedürfnisse ausgiebig befriedigt und dürfen den Rest für sich behalten – Liebe, Geld und alles übrige.«

Sie vermochte an seinem Ernst nicht länger zu zweifeln; seine Redeweise ging ihr nahe. »Ich hatte wirklich keine Ahnung –« begann sie. »Wollen Sie mir nicht sagen, wer es ist – oder darf ich nicht fragen?«

Er grinste, ohne es eigentlich zu wollen. »Was sagen Sie beispielsweise zu Mrs. Simpson?« meinte er.

Marys Gemütsstimmung war inzwischen schon zu ernst geworden, als daß sie seinem neuerlichen Rückfall ins Spötteln ohne weiteres hätte folgen können. »Herr Simpson ist doch aber noch am Leben!« entgegnete sie mit Entrüstung.

»Darin liegt ja mein Pech!« erwiderte Jack knurrend, da er sich über die Bereitwilligkeit, mit der sie auf seinen Scherz einging, ärgerte.

»Sie wollen mir, wie ich annehme, zu verstehen geben,« bemerkte sie dann nach einer Pause, »daß ich mich um Ihre Privatangelegenheiten nicht zu kümmern habe. Ich beabsichtige keineswegs – –«

»Sie denken gar nicht daran, irgend etwas derart anzunehmen!« rief er, die Selbstbeherrschung verlierend. »Wann habe ich jemals meine Angelegenheiten vor Ihnen geheimgehalten?«

»Dann gehen Sie also nicht wirklich mit dem Gedanken um – ich meine, die Sache mit der Persönlichkeit, in die Sie verliebt sind, ist also ein Märchen?«

»Kitsch! Ich habe niemals behauptet, in irgend jemand verliebt zu sein!«

»Bei einigem Nachdenken hätte ich mir das selbst sagen können. Manchmal bin ich sehr schwer von Begriff.«

Jack war mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Was meinen Sie damit?« fragte er starrköpfig. »Warum hätten Sie sich's selbst sagen können? Ich habe allerdings niemals verliebt gewesen zu sein behauptet. Habe ich aber auch behauptet, ich wäre nicht verliebt?«

»Sie werden gefälligst mit meinem armen Hirn nicht länger Federball spielen,« entgegnete sie vergnüglich. »Ohne Umschweife also – sind Sie verliebt oder nicht?«

»So etwas erzähle ich nur aufrichtigen Freunden.«

Marys Lächeln verschwand plötzlich; sie antwortete nichts.

»Wenn Sie wirklich meine Freundin sind – was, zum Donnerwetter, finden Sie dann Lächerliches an meinen Angelegenheiten? Mit anderen Leuten können Sie schon ernst genug sein!«

»Ich habe nichts lächerlich gefunden.«

»Worüber ärgern Sie sich dann?«

»Ich ärgere mich auch nicht. Soeben erst haben Sie mir Vorwürfe gemacht, weil ich annahm, Sie wollten meine Neugier in ihre Schranken zurückweisen. Aus diesem Vorwurf entnahm ich, daß Sie mich für eine Ihres Vertrauens würdige Freundin erachteten.«

»Das tue ich auch!«

»Und jetzt nennen Sie mich eine unaufrichtige Freundin.«

»Davon habe ich keinen Ton gesagt!«

»Aber angedeutet haben Sie's. Indes liegt auch tatsächlich kein Grund vor, warum Sie mir etwas mitteilen sollten, wenn Sie es nicht ausdrücklich wünschen. Es fällt mir nicht ein, mich deshalb zu beklagen: Ihre Angelegenheiten sind eben Ihre Angelegenheiten und nicht die meinen. Ich will mir aber ebensowenig Unaufrichtigkeit vorwerfen lassen. Mit Ihnen bin ich stets so aufrichtig gewesen, wie ich's nur sein kann.«

Eine Weile lang schritt Jack schweigend weiter; die Hände hielt er auf dem Rücken verschränkt, den Kopf vornüber gebeugt. Sie durchquerten gerade den baumlosen Teil des Parks, den nur einige wenige rußgeschwärzte Schafe belebten. Die Nachmittagsonne hatte die Bummler in den Schatten getrieben. Außer dem fernen Summen des Verkehrs von Norden her und einem zeitweiligen Rudergeplätscher aus der entgegengesetzten Richtung war kein Laut vernehmbar. Jack blieb stehen und sprach jetzt, ohne aufzublicken:

»Sagen Sie mir dies eine! Ist zwischen Ihnen und Herbert alles endgültig aus und vorüber?«

»Vollkommen!«

»Dann hören Sie, was ich Ihnen jetzt sage!« Er nahm eine Haltung an, in der sie ihn schon einigemal gesehen, wenn er seine Methode des Sprachunterrichts erläuterte. »Ich bin nicht der Mann dazu, die Rolle des Liebhabers mit Anmut durchzuführen. Die Natur hat mir eine rauhe Außenseite auf den Weg gegeben, damit ich mich mit meinem rauhen Schicksal besser abfinden sollte. Und doch habe ich auch ein Herz und fühle Zuneigung wie andere Menschen. Und all diese Zuneigung strebt zu Ihnen.« Mary wurde leichenblaß und starrte ihn mit Entsetzen an. »Sie sind mit meinem ungehobelten Wesen schon vertraut. Es liegt aber nicht in meiner Absicht, Sie unter meinen schlechten Angewohnheiten leiden zu lassen, die eine Folge meines vereinsamten Lebens sind und des langen Wartens, dessen es bedurft hat, ehe ich mich durch meine Musik zu meinen Mitmenschen emporringen konnte. Ich kenne meine Fehler ganz genau – und ich werde sie abstreifen. Meine Lage kennen Sie – ich brauche daher von ihr nicht erst viel Aufhebens zu machen. Vielleicht halten Sie mich zärtlicher Gefühle für unfähig. Ich bin es nicht. Sie sollen sich niemals darüber zu beklagen haben, daß Ihr Gatte Sie nicht liebt.«

Er hielt inne und blickte in Marys Züge.

Auf den Gedanken einer Ehe mit Jack war sie nie verfallen. Jetzt, wo er die Frage an sie gestellt hatte, fühlte sie es, daß ihre Weigerung ihm eine Wunde schlagen würde, mit der ihn zu treffen ihr der Mut gebrach. Sie mußte sich seinem Wunsche zum Opfer bringen. Die Leere in Jacks Herzen auszufüllen, erschien ihr wie eine Pflicht. Sie raffte ihren ganzen Mut, ihre ganze Willenskraft zu einem Ja zusammen – und tröstete sich mit dem Gedanken, daß ihr Leben nicht ewig währen könne.

Jack aber hatte mittlerweile in ihren Zügen gelesen.

»Das war mein letzter dummer Streich,« sagte er mit bewegter Stimme, aber ohne den geringsten Anflug seiner gewohnten Schroffheit. »Von nun an will ich mich nur der einen Geliebten weihen, für die ich geschaffen bin – der Musik. Sie hat nicht viele solche Herren und Gebieter aufzuweisen.«

Unter dem Zwange einer ganz ungewöhnlichen Gefühlsaufwallung brach Mary in Tränen aus.

»Lassen Sie es gut sein!« meinte er begütigend. »Es ist alles vorüber. Ich habe mit der Welt jetzt abgeschlossen. Ich fühle mich schon viel freier und ruhiger. Was gibt's da noch zu weinen?«

Sie beherrschte sich und suchte nach etwas, was sie ihm sagen konnte. In ihrer Unruhe begann sie zu sprechen, ehe ihre Erregung sich ganz gelegt hatte. »Sie dürfen es nicht so auffassen,« brachte sie mühsam hervor, »als ob ich undankbar wäre oder gefühllos. Sie wissen es aber selbst nicht, wie weit Sie außerhalb alles Herkömmlichen – –«

»Doch, doch!« warf er besänftigend ein. »Ich verstehe vollkommen. Sie haben ganz recht. Wo es sich um Heim und Familie handelt, da habe ich nichts zu suchen. Ich muß mich an meine Musik halten und an Mrs. Simpson – bis zum Ende vom Liede. Gehen wir jetzt weiter – und denken Sie nicht mehr daran. Ich werde Sie in eine Droschke setzen und heimwärts entsenden.«

Sie begaben sich auf den Rückweg und schritten gemeinsam bis zum Marble Arch. Er war nicht mehr übellaunig, sondern heiter und freundlich; sie hingegen verstört, schweigsam und voller Angst, seinem Blick zu begegnen. Der Abend begann sich herniederzusenken. Eine der religiösen Sekten, die ihre sommerlichen Versammlungen im Park abhalten, hatte sich eingefunden; ihr Hymnus tönte, in der Entfernung gemildert, leise herüber. Jack summte die zweite Stimme zu der Melodie und spähte die Baumreihe entlang, die die Fenster der Häuser in Park Lane den Blicken verbarg und sich bis zu dem Reiterstandbild, das damals am Hyde Park Corner aufgestellt war, hinstreckte.

»Eigentlich ist es hier sehr hübsch,« meinte er. »Genug blauer Himmel und grüner Rasen, um einen für ein gut Teil Ziegelsteine und Mörtel schadlos zu halten. Dort unten in der Einbuchtung breitet sich silberschimmerndes Wasser mit weißen Schwänen. Wie es wohl kommen mag, daß die Schwäne sich so weiß erhalten? Die Schafe bringen's nicht fertig.«

»Ja – es ist ein herrlicher Tag,« bestätigte Mary und gab sich dabei die größte Mühe, am Landschaftsbild Interesse zu finden und ihre Stimme in der Gewalt zu behalten. »Wir werden einen schönen Sonnenuntergang bekommen.«

»Von hier aus hat man einen guten Ausblick auf das Standbild des Herzogs von Wellington.«

»Ich kann zum Glück nicht so weit sehen. Aber ich stelle es mir deutlich vor, wie das Monstrum als großer Rußfleck in der Luft schwebt.«

»Lassen Sie ihn nur in Frieden,« entgegnete Jack. »Das ist das einzig gute Denkmal in London – und deshalb hat auch niemand den Mut, ein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen. Sein Pferd sieht wie ein wirkliches Pferd aus, mit einer wirklichen Rüstung. Er ist nicht barhäuptig Wind und Wetter ausgesetzt, sondern trägt wie jedermann auf der Straße einen Hut auf dem Kopfe. Das ist auch keine alberne Nachahmung eines antiken Basreliefs. Es ist für das Jahrhundert, aus dem es stammt, charakteristisch – und einzig in seiner Art, wie es eben ein Kunstwerk sein soll. Außerdem wirkt es noch malerisch. Der – aber, aber, Miß Mary, was machen Sie denn nur? Sie haben nicht mehr Grund zum Traurigsein, als die Kinder, die dort am Gitter herumturnen. Was bedeuten denn die Tränen?«

»Nicht, daß ich traurig bin,« erwiderte sie schluchzend. »Vielleicht heule ich, weil ich gar so viel Grund habe, stolz zu sein. Bitte, kümmern Sie sich nicht um mich. Ich kann nun einmal nichts dafür.«

Sie waren zum Marble Arch gelangt. Jack drängte weiter, um dem Anstarren der Müßiggänger zu entrinnen. Draußen rief er eine Droschke heran und war ihr beim Einsteigen behilflich.

»Jetzt werden Sie hoffentlich nie wieder Angst vor mir haben,« sagte er und drückte ihr die Hand. Sie versuchte etwas zu antworten, kämpfte das aufsteigende Schluchzen nieder und nickte und lächelte, so vergnügt sie nur irgend konnte, während ihr die Tränen über die Wangen rannen. Er sah der Droschke nach, bis sie im Wagengedränge der Oxford Street untertauchte; dann schritt er in den Park zurück und wandte sich nach Westen, allwo der Himmel jetzt im Abendrot zu glühen begann. Auf der Brücke, die über die Serpentine führt, blieb er stehen; er sah die Sonne hinter dem Kirchturm von Bayswater versinken; er freute sich am klaren, tiefen, bräunlichen Grün der Wassertümpel unter dem überhängenden Laub. Hoch aufgerichtet stand er da; mit den Knöcheln der geschlossenen Hände lehnte er leicht auf der Brüstung; das Rotgold der sinkenden Sonne fiel ihm voll in die Augen. »Ich lungere nach dem Weibe! Ich krieche vor dem Geld!« murmelte er vor sich hin. »Was das doch für animalische Instinkte sind, mit denen dies weltliche Gesindel mich infiziert hat! Schadet nichts! Ich bin ja frei – ich bin wieder ich selbst! Fleuch auf, meine Seele, ins Heiligtum deines Dachstübchens!« Und als er den Sonnenuntergang durch sachkundiges Anglotzen außer Fassung gebracht hatte – was den Menschen gar nicht schwer fällt, sofern sie nur das nötige Alter erreicht und sich die Sentimentalität abgewöhnt haben, die Sonnenuntergänge zuweilen mit sich bringen – da schritt er rüstig von dannen. Und je mehr das Dunkel des Abends herniederstieg, wurde es auch in seiner Seele friedlich und still.

Sobald er in seine Wohnung in Church Street gelangte, rief er nach Mrs. Simpson. Er übergab ihr eine Anzahl Briefmarken, die er gerade erstanden, und erteilte ihr den Auftrag, allen seinen Schülern in seinem Namen brieflich mitzuteilen, er beabsichtige den Unterricht einstweilen auszusetzen, und werde ihnen zur gegebenen Zeit Nachricht zukommen lassen. Da sie mit der Orthographie und Schönschreibekunst nicht gerade auf dem besten Fuße lebte, so wies sie murrend darauf hin, daß er allenfalls sein Einkommen aufs Spiel setzen könne, wenn er seine Schüler derartig von oben herab behandele. Gemeiniglich frönte er der Gewohnheit, ihren Einwänden, selbst wenn er sich nach ihnen richtete, mit Schimpfen und Fluchen zu begegnen. An diesem Abend aber ließ er sie alles sagen, wonach ihr der Sinn stand, und richtete mittlerweile den Tisch für ihre briefstellerische Tätigkeit her. Doch war seine Nachgiebigkeit so wenig dazu angetan, ihren Widerspruch zu entkräften, daß sie sich schließlich zu der Erklärung erkühnte, es falle ihr gar nicht ein, die Briefe zu schreiben und das gute Geld aus dem Fenster zu werfen.

»Sie werden gefälligst das tun, was man Ihnen sagt,« entgegnete er. »Denn selbst der Satan glaubt und erzittert!« Dieser Begründung fügte er noch den Befehl des Kaffeekochens hinzu und schob sie dann aus dem Zimmer.

Mary litt während ihrer Heimfahrt vom Park anfänglich unter der Angst, auf offener Straße einem Weinkrampf zum Opfer zu fallen. Nach einigen qualvollen Minuten aber löste sich das spannende Gefühl im Halse und der Druck auf der Brust ließ nach. Als der Wagen vor Herrn Phipsons Hause hielt, war sie bereits imstande, in wiedergewonnener Fassung das Fahrgeld dem Kutscher hinzureichen, der es jedoch mit dem Bemerken, daß der Herr im voraus bezahlt habe, zurückwies. Sie begab sich sogleich in ihr Zimmer hinauf, um sich auszuweinen. Oben angelangt, wurde ihr indes die Erkenntnis, daß der Quell ihrer Tränen versiegt war. Sie ging zum Spiegel und blieb regungslos davor stehen. Er warf ihr ein Gesicht zurück, in dem tiefer Kummer eingegraben war. Mitleidsvoll sah sie zu ihm hinüber, und das Abbild gab den Blick mit einem Ausdruck verstärkten Schmerzes wieder. Das währte einige Minuten, im Verlaufe derer sie ihren Zügen eine derartige Fülle bodenloser Traurigkeit zuführte, daß sie dem seelischen Erleichterungsprozeß, der mittlerweile rapide Fortschritte machte, keinerlei Beachtung zu schenken vermochte. Plötzlich begannen ihre Nasenflügel zu zucken. Sie brach in ein schallendes Gelächter aus. Und der Selbstvorwurf, der dieser schamlosen Gefühlsroheit auf dem Fuße folgte, vermochte sie nicht mehr daran zu hindern, gleich darauf nur um so herzlicher zu lachen.

Rasch griff sie zum Wasserkrug und leerte ihn mit einem platschenden Guß in die Schale. »Im Grunde genommen,« meinte sie, »ist es mindestens ebenso lächerlich, über nichts traurig zu sein, wie über nichts zu lachen!« So wusch sie denn die Tränenspuren fort und begab sich in ihrer gewohnten aufgeräumten Stimmung zum Diner hinunter. –

Während der folgenden zwei Wochen hörte sie nichts von Jack. Zuweilen deuchte es sie, als ob sie mit ihrem Weinen bei seiner Liebeserklärung besser getan habe als mit dem Lachen über ihre eigene seelische Erregung.

Eines Abends aber kündigte Phipson die Absicht der ›Antient Orpheus Society‹ an, eine bedeutende Erwerbung vorzunehmen – »eine Erwerbung,« meinte er mit einem Blick auf Mary, »die Sie ganz besonders interessieren wird.«

»Etwas von unserm guten alten Jack?« fragte Charlie, der zum Diner geladen war.

»Ein Meisterwerk von ihm – so hoffe ich wenigstens,« erklärte Mr. Phipson. »Er hat uns brieflich wissen lassen, daß er eine Musik zu Shelleys ›Befreitem Prometheus‹ geschrieben hat: vier Szenen mit Chorbegleitung; einen Dialog zwischen Prometheus und der Erde; einen Wechselgesang der Erde mit dem Monde; eine Ouvertüre und einen Zug der Horen.«

»Shelley?« meinte Mary ungläubig.

»Ich hätte eigentlich gedacht, Johnson wäre für Jack der passendste Dichter,« warf Charlie ein.

»Der Stoff ist geradezu großartig,« berichtete Phipson weiter. »Und wenn er ihm gerecht geworden ist, so wird dies Werk die größte musikalische Tat des Jahrhunderts. Ich zweifle keinen Augenblick, daß es ihm gelungen ist. Er selbst sagt, die Musik wäre die Vollendung der Dichtung und ihrer in allen Stücken würdig. Er würde sich niemals zu einer solchen Behauptung versteigen, wenn er sich nicht selbst dessen bewußt wäre, etwas geradezu Überwältigendes geleistet zu haben.«

»An Bescheidenheit hat er nie gelitten,« bemerkte Charlie.

»Ich bin fest davon überzeugt, daß seine Musik sich als etwas – als etwas –« Herr Phipson fuchtelte auf der Suche nach dem bezeichnendsten Ausdruck mit der Hand in der Luft umher – »sich als etwas Apokalyptisches erweisen wird, wenn ich mich dieses Wortes bedienen darf. Wir sind übereingekommen, ihm für das Verlagsrecht und ausschließliche Aufführungsrecht in Großbritannien und Irland fünfhundert Pfund anzubieten, und können wohl darauf rechnen, daß er unsern Vorschlag annehmen wird. Wenn man bedenkt, daß die Musik unzweifelhaft sehr schwierig ist und die Ausgaben für einen Chor und ein verstärktes Orchester erfordert, so kann das Angebot für recht angemessen gelten. Maclagan war natürlich dagegen; einige andere schlugen dreihundertfünfzig Pfund vor; ich bestand aber auf fünfhundert. Weniger konnten wir anständigerweise nicht bieten. Außerdem wird der ›Modern Orpheus‹ versuchen, uns das Werk wegzuschnappen. Die Ouvertüre wird tatsächlich schon vervielfältigt – und der Rest wird spätestens in einem Monat fertig.«

»Ihr müßt offenbar soviel Geld haben, daß ihr nicht wißt, wie ihr's los werden sollt, wenn ihr für etwas, was ihr noch nicht einmal gesehen habt, fünfhundert Pfund zahlt,« meinte Mrs. Phipson.

»Wir zahlen sie ohne das geringste Bedenken,« entgegnete ihr Gatte pomphaft. »Jack ist ein großer Komponist. Ein Mensch, unter dessen rauher Schale sich eine wundervolle Begabung verbirgt, wie die Perle von der Austernschale geschützt wird.«

»Er kann das ganze Werk aber unmöglich in zwei Wochen komponiert haben,« warf Mary ein.

»Natürlich nicht. Was bringt Sie gerade auf zwei Wochen?«

»Nichts!« entgegnete Mary. »Ich habe nur gehört, er hätte während der letzten vierzehn Tage keine Stunden gegeben.«

»Er hat es schon seit langer Zeit geplant – darauf können Sie sich verlassen. Es gibt aber Beispiele von ungewöhnlicher Schnelligkeit in der Beendigung musikalischer Kompositionen. Händel hat den ›Messias‹ in einundzwanzig Tagen abgeschlossen. Und Mozart – –«

Phipson erzählte weiter von Ouvertüren und ganzen Akten, die den Opern in einer einzigen Nacht hinzugefügt worden waren. Er war ein wißbegieriger Konzertbesucher und las die erläuternden Programme stets aufmerksam durch, so daß er über einen Vorrat solcher mehr oder minder authentischer Geschichten verfügte. Mary, die die meisten schon früher zu hören bekommen hatte, machte ein aufmerksames Gesicht, ließ ihre Gedanken aber unbehindert wandern.

Indes, einige Tage später, als Mary sich nach weiteren Neuigkeiten über den ›Befreiten Prometheus‹ erkundigte, fand sie Herrn Phipsons zuversichtlichen Ton arg vermindert. Auf ihr Drängen gab er zu, die ›Antient Orpheus Society‹ in eine Angelegenheit sehr zweifelhafter Art verwickelt zu haben. Die Ouvertüre wäre nebst zwei Szenen von Jack beendet und der Gesellschaft übergeben worden. Keins der Mitglieder aber hätte Maclagans Urteil, ›daß die Musik glücklicherweise technisch unaufführbar wäre‹, widersprechen können. Man habe mit großer Vorsicht einen Brief an Jack aufgesetzt, um ihn so schonend wie nur irgend möglich vom Schicksal seines Werks in Kenntnis zu setzen. Die technischen Schwierigkeiten der Komposition seien so unüberkömmlich – so lautete das Schreiben – die zu einer angemessenen Aufführung erforderlichen Kräfte so zahlreich und kostspielig, und ferner bei der bestehenden Geschmacksrichtung die Aussichten auf eine freundliche Aufnahme durch ein Laienpublikum derartig gering, daß das Komitee sich zu seinem großen Bedauern zu der Erklärung gezwungen sähe, das Wagnis der Vorbereitungen zu einer baldigen Aufführung nicht unternehmen zu können. Falls Herr Jack aber eine andere, leichter zu handhabende Komposition liegen hätte, wie sehr diese auch dem ›Prometheus‹ in der Großzügigkeit des Aufbaus nachstehen möchte, so wäre die Gesellschaft bereit, solche ohne jegliches Vorurteil mit denselben Bedingungen, die im Interesse des Komponisten dem ursprünglichen Kontrakt zugrunde gelegt worden seien, an Stelle der anderen zu übernehmen.

In seiner Antwort sagte Jack, das Komitee könne den ›Prometheus‹ haben oder auch nichts – in der ganzen Partitur sei nicht eine einzige Note, die mit einem vernünftigen Maß von Bemühung nicht aufführbar wäre – ihm seien keine Präzedenzfälle bekannt, auf die er die geringste Achtung vor der Urteilsfähigkeit der Gesellschaft begründen könne – er schere sich keinen Deut darum, ob man sich an den Kontrakt für gebunden erachten wolle oder nicht, da es ihm nicht schwerfallen würde, seine Arbeit anderweitig unterzubringen – und er bestände auf der sofortigen Rücksendung der Partitur oder Zahlung der ersten vertraggemäßen Rate von fünfhundert Pfund. In einem Postskriptum fügte er hinzu, daß er im Falle der Annahme des Werks auf die strikte Befolgung der Klausel halte, derzufolge die Gesellschaft zu einer einmaligen Aufführung in London verpflichtet sei.

Die Gesellschaft, die auf ein ausreichend langes Bestehen zurückblicken durfte, um ehedem auch von Beethoven erworbene Werke aus ähnlichen wie den Jack angegebenen Gründen zurückgestellt zu haben, zögerte anfänglich, fiel dann interner Zwietracht zum Opfer und entschied sich schließlich dahin, vor einem ausschlaggebenden Urteil eine Privatprobe der Ouvertüre abzuhalten. Manlius gab sich die ehrlichste Mühe, diesen Teil des Werks, der bei der Aufführung eine halbe Stunde dauern sollte und tatsächlich in sich eine Symphonie war, zu erfassen und ihm etwas abzugewinnen. Doch gelang ihm dies nur teilweise; und das Dirigieren der Probe gestaltete sich für ihn zu einer höchst unliebsamen Aufgabe. Nach Maclagans Ansicht vollführten die Musiker, die mit Vertrauen und gutem Willen an die Sache gingen, wahre Wunder. Die erste Wiederholung aber geriet zweimal ins Stocken. Die Musiker, an denen der Fehler lag, verloren ihre Ruhe und fluchten rebellisch in Manlius' Hörweite; und er war selbst konfus und ärgerlich. Als man schließlich damit zu Ende kam, erhob sich ein Gemurmel des Zweifels aus den Parkettsitzen, wo die Herren vom Komitee zu Gerichte saßen. Die älteren Mitglieder protestierten gegen eine weitere Wiederholung. Man überstimmte sie, und die Ouvertüre wurde noch einmal gespielt, und zwar ohne Unterbrechung.

»Ohne Zweifel hat das Werk große Züge,« fuhr Herr Phipson mit der Beschreibung seiner Eindrücke fort. »Aber diese waren gleichsam nur ein schwaches Durchleuchten der Form inmitten des Chaos. Ich konnte nicht umhin, Maclagan zu bekennen, daß ich, um das günstigste mir zur Verfügung stehende Urteil abzugeben, meine Gesamtempfindungen als die der Verirrung eines rasenden Giganten vergleichen mußte. Er war ganz aus dem Häuschen und machte mich mit seiner Herzählung von Dissonanzen und inkorrekten Sequenzen fast mundtot. Der alte Brailsford, der zum früheren Komitee gehörte, ergriff seit vier Jahren zum erstenmal wieder das Wort, eigens um für Jacks Interessen einzutreten. Er bezeichnte die Ouvertüre als das wüsteste Konglomerat von Geräuschen, das er je zu Ohren bekommen. Und ich muß sagen, daß mancher von uns ihm im stillen zustimmte.

Diese Unterhaltung fand am Eßtisch statt und wurde dann von Mrs. Phipson weitergesponnen, die ihren Gatten damit hänselte, daß er ihrer Warnung, keine fünfhundert Pfund für einen von ihr als ›Katze im Sack‹ bezeichnten Gegenstand zu verausgaben, nicht hatte Gehör schenken wollen. Sie war eine schwatzhafte, oberflächliche, zum Witzeln geneigte und recht gewissenlose Frau, mit einem selbstsüchtigen und spitzfindigen Zug im Charakter, der jedoch von toleranteren Persönlichkeiten nie bemerkt wurde. Mary durchschaute sie vollkommen; und da ihr Mrs. Phipson für ihren Geschmack als gewöhnlich galt, so hatte sie auch nicht sonderlich viel für sie übrig und war von deren Gewohnheit, ihren Gatten wegen seiner etwas überschwenglichen, aber darum nicht minder aufrichtigen Musikschwärmerei ins Lächerliche zu ziehen, oft aufs unangenehmste berührt. Jetzt bemerkte sie, wie Mr. Phipson ärgerlich wurde, und wie seine Gattin in boshafter Weise darauf bedacht war, ihn noch mehr zu reizen. Sie erhob sich daher, ohne auf ihre Gastgeberin zu warten, ruhig vom Tisch und ging allein ins Wohnzimmer hinauf. Hier sah sie zu ihrem Erstaunen einen fremden Herrn, der sich, mit einem Album in den Händen, auf einem Diwan rekelte.

»Ich bitte sehr um Entschuldigung,« sagte Mary, sich wieder zurückziehend.

»Keine Veranlassung,« entgegnete der Fremde, indem er sich in einiger Unordnung erhob. »Hoffentlich bin ich nicht im Wege. Miß Sutherland, wenn ich nicht irre – nicht wahr?«

»Jawohl,« erwiderte Mary kühl. Sie konnte ihn nicht deutlich erkennen; und seine immerhin etwas verwirrte Art, sie anzureden, fiel ihr als zu familiär auf.

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miß Sutherland. Nanny hat mir geschrieben, daß Sie bei ihr zu Besuch wären. Ich erkenne Sie auch nach ihrer Photographie. Hoffentlich störe ich Sie nicht.« Die letzten Worte kamen etwas zweifelnd, da ihre Haltung noch immer nichts weniger als entgegenkommend war.

»Nicht im geringsten,« antwortete Mary, indem sie sich auf dem ihr zunächst stehenden Möbel niederließ. Zufällig hatte dies Einrichtungsstück gerade die Form eines großen S, in dessen beiden Bogen sich die Plätze befanden, so daß man sich gegenübersaß und über die Lehne hinweg bequem unterhalten konnte. Dann setzte sie sich entschlossen den Kneifer auf die Nase und beäugte ihn mit einer gewissen Dreistigkeit, die sie stets an sich hatte, wenn sie von Befangenheit erfaßt wurde und dieser Empfindung entschlossen Widerstand entgegensetzen wollte. Er war ein Mann von hoher Gestalt und jovialem Gesicht, noch nicht über die besten Jahre hinaus, weder dicklich noch schwammig – ihrer Ansicht nach aber durch höchstens fünf weitere Jahre vom Besitz dieser drei Eigenschaften getrennt. Er hatte gelbrotes Haar und einen roten Bart, der sich in zwei herunterhängende Koteletts teilte. Sein Gesichtsausdruck war gutmütig und in diesem Augenblick versöhnlich, als läge ihm daran, aller weiteren Steifheit von ihrer Seite die Spitze abzubrechen. Mary aber war es, als sähe sie etwas wie Wohlgefallen in seinen Augen; sie ließ nicht ab, ihn unnachgiebig anzustarren. Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Causeuse, nahm dann aber auf dem Sofa Platz, stützte die Ellbogen auf die Kniee und lehnte sich vor.

»In diesem Stadtviertel wohnt sich's sehr angenehm, nicht wahr?« begann er.

»Sehr.«

»Jawohl. Darin müssen Sie mir beipflichten. Beide Parks und alle Theater in leicht erreichbarer Nähe. Kensington liegt für meinen Geschmack ein bißchen gar zu sehr aus dem Weg. Wie lange braucht man zum Beispiel von hier bis Covent Garden Market?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen,« entgegnete Mary ruhig, wobei sie unentwegt die Augen auf ihn gerichtet hielt. »Ich gehe nie nach Covent Garden Market.«

»Ach, was Sie sagen! Das wundert mich! Wenn Sie früh hingehen, können Sie, glaube ich, riesig billig Blumen kaufen. Mögen Sie gern Blumen?«

»Die Modemanie für geschnittene Blumen teile ich nicht. Ich interessiere mich mehr für Gartenbau.«

»Da haben Sie auch ganz recht, Miß Sutherland. Wenn ich in einem Zimmer jede Vase und jedes Nippstückchen mit Tulpen und Lilien und ähnlichem Zeug vollgestopft sehe, dann denke ich mir immer, wie furchtbar geschmacklos das doch eigentlich ist. Ehe Sie eintraten, besah ich mir gerade das schöne Bild über dem Notenständer. Ist das von Ihnen, wenn ich fragen darf?«

»Jawohl. Falls Sie sich's in der Nähe betrachten, werden Sie in der linken Ecke meinen Namen in großen zinnoberroten Buchstaben verzeichnet sehen.«

»Das habe ich schon gesehen. Daher weiß ich ja, daß es von Ihnen ist. Ein ganz famoses Bild! Mir tut es oft leid, daß ich nicht malen gelernt habe – natürlich hätte ich's niemals halb so gut gekonnt wie Sie. Für eine Dame eine ganz reizende Beschäftigung. Ihnen wohl das reine Kinderspiel, was?«

»Ich habe es aufgegeben, weil es mir zu schwer wurde.«

»Und dabei hat es doch kein Mensch besser los als Sie! Aber ich kann mir denken, daß es Ihnen viel Zeit wegnimmt. Ganz aufgeben würde ich es aber an Ihrer Stelle doch nicht.«

»Sie finden wohl Freude an Bildern?«

»Das will ich meinen. Ich habe sehr viel für Bilder übrig. So oft ich nach London komme, gehe ich in die National Gallery, um mir die Landseers anzusehen. Zuweilen sind junge Damen da, die die Bilder kopieren. Haben Sie schon mal einen Landseer kopiert?«

»Nein. Es mag Ihnen wohl merkwürdig vorkommen – aber es gibt für mich doch noch einige Bilder, die ich den Landseers vorziehe.«

»Sie verstehen sich eben auf die alten Meister. Ich nicht – leider. Ich wollte, ich könnte mich mit Ihnen ein bißchen darüber unterhalten. Wenn ich mich aber darauf einließe, würden Sie im Handumdrehen herausfinden, daß ich keine blasse Ahnung habe. Nehmen Sie mich mit in eine Galerie und ich werde Ihnen dann sagen, welche Bilder mir gefallen – das ist das Höchste, was ich leisten kann.«

»Ich wollte, ich könnte soviel leisten.«

»Mir scheint, Sie machen sich über mich lustig, Miß Sutherland.«

Mary ließ sich nicht zu einer Antwort herbei. Der etwas eigenartige Fremde war leidlich aus dem Konzept gekommen; er erhob sich und stellte sich mit dem Rücken gegen den Kamin, als wolle er sich an dem vor dessen Öffnung aufgespannten japanischen Sonnenschirm wärmen.

»Schönes Wetter heute,« begann er nach einer Weile von neuem.

»Sehr schönes Wetter,« entgegnete sie mit ernster Miene. »Sind Sie schon lange in London?« fragte sie dann rasch, um ihr Lachen zu unterdrücken.

»Gestern früh angelangt,« erwiderte er sichtlich erleichtert. »Ich komme direkt von Neuyork via Liverpool. Ich bin immer unterwegs. Waren Sie schon in den Vereinigten Staaten?«

»Nein.«

»Sie sollten mal hingehen, damit Sie merken, was wirklich Leben ist. Hier schlafen wir ja alle. Vorigen März bin ich erst von England abgereist; und seitdem habe ich sechs Filialen unserer Gesellschaft aufgesetzt und außerdem zwei Prozesse gegen ein paar Halunken gewonnen, die unser Patent verletzt hatten. Prompte Arbeit, nicht wahr?«

»Möglich.«

»Und wie prompt! Hier hätte ich zwei Jahre dazu gebraucht. Noch mehr – vielleicht fünf Jahre! Die Amerikaner bocken nicht so gegen Neuerung wie wir. Ganz egal! Wenn die Leute hier nicht die Ohren steif halten, so werden sie von den ausländischen Fabrikanten, die unsere billige Betriebskraft verwenden, aus dem Markt geworfen.«

»Billige Betriebskraft! Was ist das?«

»Ich dachte, Sie wüßten es schon. Der Conollysche Elektromotor, der jede Maschine mit der Hälfte – was sage ich? – mit einem Viertel der Unkosten für die Dampfkraft treibt. Gehört haben Sie aber natürlich schon davon?«

»Ich glaube, ja. Ich kenne Herrn Conolly persönlich. Er macht mir nicht den Eindruck eines Mannes, der seine Sache nicht versteht.«

»Nicht versteht? Und ob er sie versteht! Er ist ein ganz fabelhafter Mensch. Da redet man nun von Jones' Motor – und Van Point behauptet, der ursprüngliche Erfinder des Conollyschen Kommutators zu sein. Ein paar Spitzbuben sind sie! Schwarz auf weiß kann ich Ihnen das Urteil in Sachen Conolly kontra Pacific –«

»Johnny!« rief Mrs. Phipson, die in diesem Augenblick eintrat. »Es war mir doch, als ob ich deine Stimme gehört hatte!«

»Wie geht's, Nan?« entgegnete er. »Was machen die Bälge?«

»Alles in bester Ordnung. Bist du schon lang da?«

»Mir kommt's wie eine halbe Minute vor. Miß Sutherland hat mich so reizend unterhalten.« Dabei machte er Mrs. Phipson allerhand Zeichen, mit denen er seinen Wunsch, vorgestellt zu werden, zum Ausdruck bringen wollte.

»Dann kennt ihr euch also schon?« meinte sie. »Dies ist mein Bruder John Hoskyn. Hoffentlich hast du Mary nicht mit deinem elektrischen Strom den Kopf heiß gemacht!«

»Gerade als Sie eintraten, erzählte mir Herr Hoskyn die interessantesten Dinge darüber,« erklärte Mary.

»Du kannst sie ein andermal zu Ende erzählen,« sagte Mrs. Phipson. »Suche dir den nächsten Unglücklichen zum Opfer aus, der das Pech hat, mit dir in einem Eisenbahncoupé eingeschlossen zu werden. Seit wann bist du denn zurück?«

Mr. Hoskyn warf einen furchtsamen Blick auf Mary und schien über die Bemerkung seiner Schwester nicht sonderlich erfreut, doch lachte er gutmütig dazu. Die Unterhaltung leitete auf seine letzten Reisen über. Fürs erste wollte er jetzt den größten Teil seiner Zeit in London verbringen. Mary verstand aus allem so viel, daß er Geld in der Conolly-Elektromotor-Gesellschaft angelegt habe, und daß seine Tätigkeit in Reisen in solche Länder bestand, wo der Motor einstweilen noch unbekannt war. Hier gründete er dann Untergesellschaften zu dessen Ausbeutung und ließ sie für dies Recht zahlen.

Mrs. Phipson wurde des Gesprächsstoffs sichtlich müde und machte mehrere Versuche, ihren Bruder daran zu hindern, noch näher darauf einzugehen. Dessen ungeachtet erging er sich weidlich in Prahlereien über die Vorzüge der Conollyschen Erfindung und in Schimpfreden und Unheilsprophezeiungen gegen gewisse andere Gesellschaften, die ein Konkurrenzprojekt ins Leben gerufen hatten. Eine wirkungsvolle Unterbrechung trat erst mit dem Erscheinen der jüngeren Kinder ein, die über die Ankunft Onkel Johnnys schier aus dem Häuschen waren und nach Marys Ansicht aus seinem Besuche Vorteile in Gestalt persönlicher Bereicherung zu ziehen hofften.

Indes nahm die Aufmerksamkeit, die Herr Hoskyn den Kleinen schenkte, nach Verlauf der ersten Minuten doch beträchtlich ab, und Mrs. Phipson, die durch die Anwesenheit der Kinder in ihrer Geduld stets auf eine peinliche Probe gestellt wurde, befahl ihnen alsbald, sich zu trollen und ihren Vater von der Ankunft des Onkels in Kenntnis zu setzen. Jedenfalls aber, fügte sie hinzu, hätten sie sich im Wohnzimmer nicht wieder zu zeigen. Die Gesichter wurden bei dieser etwas schroffen Entlassung um einiges länger; doch wurde eine Mißachtung des Befehls offenbar nicht gewagt.

Als sich dann Herr Phipson einstellte, erzählte sein Schwager ihm ein gut Teil von dem, was er bereits vorher erzählt hatte. Mary beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, nahm jedoch auch ohnedem die Aufmerksamkeit Mr. Hoskyns in größerem Umfange für sich in Anspruch. So oft er eine Meinung äußerte oder einen Witz zum besten gab, sah er, nach ihrer Zustimmung suchend, zu ihr hinüber, erblickte sie jedoch stets in derselben unveränderten Haltung – selbstbewußt, die Oberlippe ein wenig über die Zähne emporgezogen, welch letzteres sich aus der Lage ihres Kopfes ergab, insofern sie diesen, um den Kneifer an seinem Platz zu halten, nicht unbeträchtlich in die Höhe hob, und zudem die Folge eines unmerklichen Zusammenziehens der Brauen war, womit sie eine übermäßige Einwirkung der Lichtstrahlen aufs Auge vermeiden wollte.

»Ich brauche wohl nicht erst zu fragen, ob Miß Sutherland singt?« meinte er, als er seine sämtlichen Neuigkeiten für Mr. Phipson wiederholt hatte.

»Nur selten,« entgegnete seine Schwester.

Mary war nun allerdings im Besitz einer mächtigen und etwas gar zu durchdringenden Altstimme und demzufolge in der Lage, dramatische Musik mit ungewöhnlicher Ausdruckskraft und Energie wiederzugeben. Mrs. Phipson, die an dieser Eigenart ihres Gesanges kein Gefallen fand, sagte absichtlich ›nur selten‹, um ihren Bruder auf diese Weise von allzu nachdrücklicher Betonung seiner Andeutung abzuschrecken. Phipson hingegen, der Marys Vortragsweise gern hörte und außerdem mit Vorliebe zum Gesang begleitete, begab sich unverzüglich ans Klavier und öffnete es.

»Ich würde irgend etwas darum geben, Sie singen zu hören,« bemerkte Hoskyn, »wenn Sie sich vor einem so urteilslosen Zuhörer zum Singen herbeilassen wollen.«

»Ich glaube, ich tue es lieber nicht,« entgegnete Mary, die jetzt zum erstenmal einige Anzeichen von Verwirrung sehen ließ. »Was ich singe, macht Ihnen doch keinen Spaß.«

»Selbstverständlich,« erwiderte er. »Daß Sie keine Walzerlieder und solchen Rummel singen, kann ich mir schon denken. Etwas Italienisches – das möchte ich hören!«

»Vorwärts doch!« mahnte Phipson. »Wie wäre es mit › Che farò senza Euridice‹?« Er begann die Begleitung zu spielen.

Nach einigem Zögern gab Mary nach und ging ans Instrument. Mrs. Phipson seufzte. Hoskyn nahm auf der Ottomane Platz, lehnte sich aufmerksam vor und lächelte unaufhörlich, bis der Gesang zu Ende war. Dann rief er begeistert:

»Bravo! Großartig! Großartig! Sie haben ebensoviel los, Miß Sutherland, wie irgendeine Berufssängerin, die ich jemals gehört habe. Es gibt doch nichts Besseres als echte italienische Musik. Ich kann mich nicht erinnern, daß mir schon einmal etwas so gut gefallen hätte.«

»Das war aber gar keine italienische Musik,« meinte Mary, indem sie ihren Sitz in der Causeuse wieder aufsuchte. »Es ist deutsche Musik mit italienischem Text.«

»Soweit es auf ihn ankommt, könnte es ebensogut chinesische Musik sein,« warf Mrs. Phipson boshaft ein.

»Jedenfalls finde ich sie sehr schön, und das ist die Hauptsache,« entgegnete Hoskyn. »Das Bild da an der Wand hat mir so gut gefallen, daß ich wohl einige Ihrer Skizzen sehen möchte – wenn Sie mir den Gefallen tun wollen.«

Mary fühlte sich Mrs. Phipsons Bruder gegenüber zur Höflichkeit verpflichtet; sonst hätte sie allmählich von Herrn Hoskyn wohl genug gehabt. »Meine Skizzen liegen dort,« sagte sie und wies auf eine Mappe. »Ich habe sie aber nicht gemacht, um sie herumzuzeigen. Und wenn Sie kein wirkliches Interesse daran haben, so nehmen Sie sich, bitte, nicht erst die Mühe, sie umzublättern. Ich male nicht, um damit eine Art erhöhter Bildungsstufe zur Schau zu tragen.«

»Das verstehe ich vollkommen. All diese schönen Dinge gehen Ihnen so natürlich von der Hand, wie wenn ich schlafe oder gehe. Sie können sich kaum vorstellen, welche Freude mir ein Lied oder eine Skizze bereitet, weil das für Sie etwas Alltägliches ist, während ich doch ebensowenig malen oder italienisch singen könnte wie die kleine Nettie oben im Kinderzimmer. Wenn Sie's mir also erlauben, so gucke ich mal hinein. Ich bringe die Mappe hier herüber, damit Sie mir die Skizzen besser zeigen können.« Und mit diesem Vorwande gelangte er schließlich neben sie auf die Causeuse.

»Hanswurst!« bemerkte Mrs. Phipson hierzu durch die Zähne zu ihrem Gatten, der lächelte und auf dem Klavier herumhämmerte. Mittlerweile betrachtete Hoskyn die Skizzen der Reihe nach, erbat zu einer jeden eine besondere Erklärung, und wenn sie Plätze darstellten, an denen er schon gewesen war, so berichtete er die ihm erinnerlichen Nebenumstände seines Aufenthalts, wie Hotelpreise und Eigentümlichkeiten seiner Reisegefährten. So waren beispielsweise einmal zwei Damen aus Italien dort gewesen; oder eine ganze Gesellschaft von Russen hatten alle Zimmer des ersten Stocks besetzt und sich hinterher bei näherer Bekanntschaft als sehr liebenswürdige Leute entpuppt. Mary antwortete geduldig auf alle seine Fragen und bedachte ihn, wenn er sie zeitweilig um eine Bestätigung seiner Ansicht anging, mit einem kühlen Kopfnicken, was ihn jedesmal zufriedener und redseliger werden ließ. Ihre Zeichnungen lobte er überschwenglich, und da sie erkannte, daß die minderwertigste ihm ebensogut gefiel wie die beste, so unterließ sie alle weiteren Versuche, seine Ausbrüche der Bewunderung abzulenken, sondern hörte lediglich mit selbstbewußter Gleichgültigkeit auf seine Reden. Während der ganzen Zeit gähnte Mrs. Phipson möglichst auffällig. Da dies Mittel bei ihm nicht verfing, so fragte sie ihn schließlich, ob er zum Abendessen bleiben oder sofort wieder nach Hause wolle – ganz gleich, wo dies ›Zuhause‹ sich befände. Er antwortete mit dem Hinweis darauf, daß er um die Ecke im Langham-Hotel wohne und demgemäß zum Abendessen bleiben wolle, womit Mrs. Phipson sich nicht gerade allzu frohlaunig abfand. Im selben Augenblick hörte Mary Geschrei aus dem Kinderzimmer, gab vor, in Erfahrung bringen zu wollen, was ›los wäre‹, und verließ das Zimmer. Sie kehrte nicht zurück, und als man zum Abendessen hinunterging, wurde Hoskyn zu seinem großen Leidwesen die Nachricht, daß sie nie an dieser Mahlzeit teilnähme.

»Du hättest dir also die Mühe des Hierbleibens sparen können,« meinte Mrs. Phipson. »Was ziehst du vor – einen Flügel oder ein Stück Brust?«

»Mir ganz gleich – danke. Mein Ehrenwort, Phipson, das netteste Mädel, das ich je kennen gelernt habe. Sie ist wirklich sehr hübsch.«

»Hübsch?« rief Mrs. Phipson empört. »Mach' dich doch nicht lächerlich, Johnny!«

»Wieso? Findest du sie denn nicht hübsch?«

»Sie erreicht nicht einmal den Durchschnitt – sie ist geradezu häßlich!«

»Na, na, Nanny! Da gehst du wohl ein wenig zu weit. Was hast du denn an ihrem Gesicht auszusetzen?«

»Was habe ich nicht daran auszusetzen? Vom Schnitt der Züge will ich schon gar nichts sagen – für den kannst nicht einmal du eintreten – aber sieh dir doch nur ihr grobes schwarzes Haar und die dicken Augenbrauen an! Und außerdem trägt sie noch eine Brille.«

»Nein – keine Brille. Nur einen Kneifer. Der ist heutzutage ganz modern.«

»Wie du es nennst, ist völlig gleichgültig. Aber wenn du ein Pincenez für eine Verzierung hältst, dann hast du eben einen besonderen Geschmack.«

»Ich bin ganz Ihrer Ansicht, John,« warf Phipson ein. »Ich finde Mary sehr hübsch.«

»Und wenn sie noch zehnmal so hübsch wäre, so hättest du doch nichts davon,« fügte Mrs. Phipson hinzu, da Hoskyns Augen triumphierend aufleuchteten. »Sie ist bereits verlobt.«

Hoskyns machte ein betrübtes Gesicht, und Phipson schien erstaunt.

»Mit Adrian Herbert verlobt,« fuhr Mrs. Phipson fort, »mit dem Künstler, der mit über die hohe Kunst reden kann, bis sie ihn für das größte Genie in England hält – und der es nicht macht wie du, wenn du eine Stunde darauf verwendest, ihr deine künstlerische Unwissenheit zu zeigen, und dich dann ungeheuer schlau dünkst.«

»Liebes Kind,« widersprach Phipson, »die Geschichte mit Herbert ist aus. Du solltest in deinen Äußerungen etwas vorsichtiger sein. Er heiratet die Szczympliça.«

»Von der Sache magst du so viel für wahr halten, wie dir beliebt,« entgegnete Mrs. Phipson. »Und selbst angenommen, mit Herbert wäre es zu Ende – so bleibt immer noch Jack. Deine Aussichten sind wirklich nicht übel, Johnny – wenn du den Londoner Löwen des Tages zum Nebenbuhler hast!«

»Du redest ins Blaue, Annie,« meinte Phipson. »Es ist nicht der geringste Grund zu der Annahme vorhanden, daß zwischen Mary und Jack etwas vorgeht. Jack ist kein Damenheld – wenigstens in dem Sinne nicht.«

»Was das betrifft,« rief Hoskyn, »so nehme ich's mit jedem Künstler auf, der je auf zwei Beinen herumgelaufen ist. Sie mögen mit ihr wohl über Dinge reden können, in denen ich nicht ganz auf der Höhe bin. Wenn sich's aber darum handelt und ich's mir einfallen lasse, Fach zu simpeln, so könnte ich ihr manches Stückchen auftischen, das sie aus den anderen ihr Lebtag nicht herausbekommt. Nein, liebe Annie – die Frage ist einfach die, ob sie verlobt ist oder nicht. Ist sie's, dann mache ich eben Schluß, und der Vorfall ist erledigt. Ist sie's nicht, so werde ich versuchen, öfter mit ihr zusammenzukommen – trotz allen Malern und Musikern auf Gottes weiter Welt. Wie steht die Sache also?«

»Sie ist vollkommen frei,« erklärte Phipson. »Sie war mit Herbert verlobt. Aber das war ein altes Abkommen – noch aus der Kinderzeit, glaube ich. Jedenfalls ist es schon seit einiger Zeit vorbei. Wenn ich nicht irre, John, gibt's da auch etliches Geld. Und ich entnehme aus ihrem ganzen Wesen, daß du Eindruck auf sie gemacht hast.« Mr. Phipson zwinkerte mit den Augen und lächelte seine Gattin an.

»Das wollen wir noch dahingestellt sein lassen,« erwiderte Hoskyn. »Jedenfalls aber hat sie auf mich einen unbändigen Eindruck gemacht. Was das Geld angeht, so soll mir das nicht im Wege stehen – aber ich werde immer nehmen, was ich kriegen kann.«

»Für ein Mädchen,« bemerkte Mrs. Phipson, »das für nichts als Kunstmanien Sinn hat, die du nicht einmal vom Hörensagen kennst – für die paßt du so ausnehmend gut, daß sie ohne Zweifel mit allen zehn Fingern zugreifen wird. Kein Wunder, wenn sie kurzsichtig ist – sie liest so viel. Und sie kennt die Hälfte aller europäischen Sprachen.«

»Das kann ich mir denken,« entgegnete Hoskyn. »Die Klugheit steht ihr im Gesicht geschrieben. Gerade diese Sorte von Frauen liebe ich – keine von deinen strohköpfigen Wachspuppen. Es wundert mich auch gar nicht, daß sie dir nicht gefällt, Annie. Auf den Kopf gefallen bist du ja nicht – aber gewußt hast du niemals etwas, und du wirst auch nie etwas wissen.«

»Ich halte mich nicht für klug. Und sie mißfällt mir auch durchaus nicht. Was mir mißfällt, ist, daß du in deinem Alter an ein Mädchen denkst, das zu dir wie die Faust aufs Auge paßt.«

»Das wird sich noch alles finden! Ich bin's zufrieden, mein Risiko zu laufen – wenn sie ihres laufen will. Von der hohen Kunst allein kann man nicht existieren; und ich halte sie in Fragen des Alltagslebens für recht vernünftig. Im übrigen werde ich ihr ihre Wege nicht kreuzen. Je mehr sie malt und singt, desto rechter soll's mir sein.«

»Hört! Hört!« rief Phipson. »Wollen wir uns nicht lieber gleich fürs Aufgebot umtun? In drei Wochen ist die Saison vorüber – und es wird Ihnen doch natürlich daran liegen, noch vorher unter die Haube zu kommen.«

»Machen Sie sich nur ruhig weiter lustig!« meinte Hoskyn, sich erhebend. »Ich muß jetzt fort. Seien Sie darauf gefaßt, mich in Bälde wiederzusehen. Und wenn die Leute nächste Saison nicht die Köpfe zusammenstecken, weil Johnny Hoskyn es fertiggebracht hat, eine so kluge Frau zu ergattern – na, dann werde ich eben noch enttäuschter sein als ihr. Guten Abend!«


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