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Siebentes Kapitel

Miß Cairns, von der Mary Sutherland ihrer Tante erzählt hatte, war eine unverheiratete Dame von vierunddreißig Jahren. Sie hatte eine Unmasse gelesen, um es jederzeit parat zu haben – hatte sich das Universitätsbakkalaureat erworben und in einer radikalen Rundschau zwei Artikel über Frauenstimmrecht und einen über die erhöhte Erziehungsform der Frau geschrieben; sie war eine eifrige Vorfechterin in allen Streitfragen, die ihrem Geschlechte den Zutritt zu den öffentlichen Ämtern erkämpfen sollten. Sie hatte sich während ihrer Studienzeit zur Ehelosigkeit entschlossen, war auch ihrem Entschluß treu geblieben und hatte es unternommen, andere junge Mädchen zu überreden, ihrem Beispiele zu folgen – was einige wenige, die sich nicht anders helfen konnten, auch innehielten. Als sie sich aber ihrem vierzigsten Jahre näherte, eine gewisse Abgeneigtheit der Ermüdung gegen Bücher, Vorlesungen, weibliche Universitätsexamen und gegen antiquarische und altjüngferliche Ideen und Gefühle im allgemeinen empfand, da sah sie davon ab, ihren Freundinnen länger von der Ehe abzuraten, und befleißigte sich sogar mit unverkennbarem Eifer, ihnen auf dem Gebiete ihrer Liebesaffären mit freundlichen Ratschlägen und allerhand Klatsch unter die Arme zu greifen.

Mit Mary Sutherland, die ihre Schülerin gewesen und noch eine ihrer intimsten Freundinnen war, korrespondierte sie oft über die Kunst. Der Kunst brachte sie eine weitgehende Ehrfurcht entgegen, die sich auf ausgiebige Lektüre und umfassende praktische Unkenntnis des Stoffes begründete. Sie kannte Adrian und hatte sich Marys Dankbarkeit erworben, indem sie ihn für einen großen Künstler erklärte – allerdings ohne eins seiner Werke zu Gesicht bekommen zu haben.

Soweit ihre äußere Person in Frage kam, war sie eine magere, recht häßliche Dame mit winzigen Zügen, glattem braunen Haar und einem freundlichen Gesichtsausdruck. Eine anhaltende sitzende Lebensweise in Verbindung mit angestrengter Kopfarbeit hatten sie mit einer schwächlichen Gesundheit beschenkt, ihre Gemütsart aber nicht mit Trübseligkeit durchsäuert, noch ihren gewohnheitsmäßigen Frohsinn eingeschläfert.

Anfang September schrieb sie Mary Sutherland folgenden Brief:

Windsor, Newton Villa, den 4. September.

Meine liebste Mary!

Vielen Dank für Ihren freundlichen Brief, der mich ganz mit Sehnsucht nach der See erfüllt hat. Mit Bedauern höre ich, daß Sie das Interesse an Ihrer Malerei verlieren. Sagen Sie nur Mr. Herbert, daß ich mich sehr darüber wundern muß, wenn er Sie nicht besser zu Ihrer Arbeit anzuhalten vermag. Wenn Sie zurückkommen, sollen Sie eine ausgiebige Vorlesung über das Thema: »Lauwarme Arbeitsfreudigkeit und allgemeine Faulheit« von mir bekommen. Wenn Sie aber statt dessen wirklich Musik studieren wollen, so will ich dies als Entschuldigung gelten lassen.

Sie werden gewiß mit wenig Freude erfahren, daß die Gesangsklasse aufgeflogen ist. Mr. Jack ist ja unverläßlich wie Dynamit. Und so erfolgte denn gestern die Explosion. Und unser unglückseliger kleiner Chor zerstob voll Angst und Bestürzung in seine respektiven Heimstätten. Die Sache ging folgendermaßen vor sich:

Bei Mrs. Griffith fand ein Gartenfest statt, zu dem alle Mädel geladen waren. Demzufolge erschienen sie in freundlicher Gewandung zum Unterricht und waren ziemlich gesprächig und unaufmerksam. Mr. Jack stellte sich pünktlich ein; er sah finster aus wie ein anziehendes Gewitter. Nicht einmal meiner Begrüßung zollte er irgendwelche Beachtung. Gerade als er eintrat, war Louisa White damit beschäftigt gewesen, eine neue Quadrille herunterzuklimpern; unglücklicherweise ließ sie die Noten auf dem Klavierpult stehen. Mr. Jack setzte sich, ohne ein Wort an uns zu richten, auf den Drehsessel und bemerkte natürlich die Quadrille unserer unglücklichen Louisa. Er ergriff sie, riß sie mitten durch und warf sie auf den Boden. Totenstille erfüllte den Raum. Louisa sah mich an und hoffte, daß ich mich hineinmischen würde. Ich aber – ich muß es gestehen – ich hatte Angst. Sogar Sie – so kühn und mutig Sie auch sein mögen – Sie hätten gezögert, ihn noch mehr zu reizen. Wir saßen also in jämmerlicher Haltung da und starrten ihn an, während er ein paar Akkorde anschlug; er tat es, als ob er einen unwiderstehlichen Haß gegen das Klavier empfände. Dann sagte er plötzlich mit ermüdeter, überdrüssiger Stimme:

»Vorwärts also – weiter, weiter!«

Ich fragte ihn, womit wir »weiter« sollten. Er sah mich mit einem wilden Blick an und rief: »Mit irgend etwas! Ganz egal. Wenn Sie nur nicht ...« Den Rest sagte er für sich allein. Ich glaube, er meinte: ›Wenn Sie nur nicht dasitzen und mich anstarren wollten, als ob Sie den Verstand verloren hätten.‹ Eilig verteilte ich Noten und stellte ein Blatt vor ihn hin. Er war liebenswürdig genug, es diesmal nicht zu zerreißen. Aber er nahm das ganze Pult weg und stellte es beiseite. Dann fingen wir an – er spielte die Begleitung ohne Noten. Einige von den Mädchen hatten Angst, die anderen waren wütend und empört, noch andere tuschelten und kicherten. Alles in allem entledigten wir uns unserer Aufgabe nicht aufs beste. Er hörte es bis zu Ende an und ließ uns dann noch einmal von vorn anfangen. Wir fingen noch einmal von vorn an und nochmal und nochmal. Er hörte mit brütender Verzweiflung zu, wie ein Mann, der an Neuralgie leidet. Sein Schweigen versetzte mich mehr in Angst und Schrecken als irgend etwas anderes. Gewöhnlich schreit er uns an – und wenn wir eine verkehrte Note singen, dann singt er die richtige mit einer schreckenerregenden Stimmfülle. Das ging so ungefähr fünfundzwanzig Minuten weiter; ich muß es gestehen – wir sangen immer schlechter und schlechter. Schließlich stand Mr. Jack auf; er maß uns mit einem entsetzlichen Blick; dann knöpfte er seinen Rock zu. Aller Augen waren auf mich gerichtet – als ob ich irgend etwas dabei hätte tun können! »Sie gehen schon, Mr. Jack?« Keine Antwort. »Bis nächsten Freitag also, nicht wahr, Mr. Jack, wie gewöhnlich?« »Niemals, niemals wieder, so wahr ein Gott im Himmel lebt!« Mit dieser Antwort, die er mit gequälter Stimme und verhaltener Inbrunst hervorbrachte, schritt er hinaus. Ein wahres Babel von heftigen Ausfällen und Schmähungen erhob sich gegen Mr. Jack, nicht ohne allerhand endlose Widersprüche und ein gewisses Maß glühender Verteidigung seiner Person. Louisa White begann, ihre zerrissene Quadrille in der Hand, mit der Erklärung, daß sein Benehmen geradezu schmachvoll sei. »Kein Wunder,« rief Jane Lawrence, »wenn Hetty Grahame vor ihm auf der Ottomane sitzt und ihm gerade ins Gesicht lacht.« »Ich habe über das Gesinge gelacht,« entgegnete Hetty empört. »Jeder Mensch hätte drüber lachen müssen.« Jetzt begannen sie alle auf einmal zu reden; schließlich aber gab jede zu, daß die anderen sich sehr schlecht benommen hätten und daß Mr. Jack in skandalösester Weise behandelt worden wäre. Ich dachte – und ich meine es auch heute noch – daß Mr. Jack seine eigene mangelnde Selbstbeherrschung für den schlechten Gesang verantwortlich machen muß, und ich werde die nötigen Vorkehrungen treffen, damit er nicht zum zweitenmal Gelegenheit findet, sich unhöflich gegen mich zu benehmen. Ich weiß aus Erfahrung, wie falsch es ist, Lehrer auf schutz- und wehrlosen Frauen herumtrampeln zu lassen. Den Mädchen habe ich das natürlich nicht gesagt, da ich keineswegs den Wunsch hege, ihm die über alle Maßen unerwartete Popularität, deren er sich jetzt bei ihnen erfreut, zu beeinträchtigen. Er ist der Typus des männlichen Tyrannen – und wie alle berufslosen Frauen schwärmen sie für Tyrannen. Für diesen Verrat, den sie an ihren arbeitenden Mitschwestern begehen, sollten sie gezüchtigt und dann zu Bett geschickt werden, wie kleine Kinder.

Er soll nun demgemäß und fürderhin ergebenst ersucht werden, seinen reuevollen Mägden Gnade zuteil werden zu lassen – sich am Freitag wie gewöhnlich uns wieder zu nähern – und sein schlechtes Betragen von gestern großmütig übersehen zu wollen. Sind Sie vielleicht in der Lage, dies fertigzubringen? Sie kennen ihn besser als irgendeine von uns, und wir betrachten Sie als die Protektorin unseres kleinen Chors. Ihre Ansicht, daß Mr. Jack etwas dagegen hat, wenn Sie bei Ihrer Rückkehr nach Windsor unserer Gesangsklasse beitreten, ist nichts als eine Ausgeburt Ihrer unsinnigen Verschrobenheit. Ich fragte ihn, ob er auf Ihren Beitritt rechnete, und er gab seiner Hoffnung in diesem Sinne Ausdruck. Das war allerdings nicht gestern, sondern während der vorhergehenden Stunde, als er seine gewöhnliche gute Laune mitgebracht hatte. Wollen Sie also vielleicht den Versuch machen, Seine königliche Hoheit dazu zu bewegen, sich uns wieder zuzuwenden? Falls Sie es nicht tun, muß ich selber schreiben – und dann ist natürlich alles verloren. Denn ich werde keinen Mann auf dieser Erde ermutigen, mein Geschlecht mit Füßen zu treten – selbst wenn es dergleichen verdient haben sollte. Und wenn ich schon einmal schreiben muß, so soll der hohe Herr meines Geistes einen Hauch verspüren.

Bitte, teilen Sie mir recht bald mit, was Sie für uns tun können. Die Mädels erwarten den Abschluß der Angelegenheit mit Ungeduld; sie besuchen mich unaufhörlich und machen mir mit Fragen das Leben schwer.

Alle lokalen Neuigkeiten werde ich Ihnen mit meinem nächsten Brief übermitteln; dieser Brief muß jetzt zur Post, und ich kann nichts mehr hinzufügen.

Ich verbleibe, liebe Mary,
Ihre Ihnen aufrichtig zugetane
Letitia Cairns.

In der Aufwallung ihres Ärgers brachte Mary folgendes zu Papier und entsandte es nach Church Street, Kensington:

Bonchurch, den 5. September.

Geehrter Mr. Jack!

Zu meiner größten Überraschung und Betrübnis habe ich von meiner Freundin, Miß Cairns, erfahren, daß Sie die Gesangsklasse, die sie in so freundlicher Weise für Sie in Windsor zusammengebracht hat, plötzlich und unvermittelt haben auffliegen lassen. Ich habe allerdings keinerlei Recht, Ihren Entschluß, die jungen Damen nicht länger zu unterrichten, irgendwelcher Meinungsäußerung zu unterziehen. Da ich Sie jedoch Miß Cairns vorgestellt habe, so kann ich mich der Empfindung nicht erwehren, als ob ich die Veranlassung dazu bin, daß sie jetzt einem Affront ausgesetzt worden ist, der sie offenbar tief kränkt. Trotz alledem ist Miß Cairns weit davon entfernt, sich irgendwie zu beklagen. Sie wünscht lediglich, daß Sie Ihren Unterricht wieder aufnehmen sollen – wie dies denn den allgemeinen Wunsch der ganzen Musikklasse zum Ausdruck bringt.

Ihre ergebene
Mary Sutherland.

Früh am nächsten Nachmittag saß Miß Cairns allein in ihrem Salon und bereitete gerade eine Vorlesung in einem Verein für ethische Vervollkommnung vor, den sie in Windsor ins Leben gerufen hatte. Das Dienstmädchen trat ein:

»Entschuldigen Sie, Miß Tisha, wollen Sie Mr. Jack empfangen?«

Miß Cairns legte ihre Feder beiseite und starrte das Mädchen an: »Mr. Jack? Heute ist doch nicht sein Tag?«

»Nein, Miß – aber es ist doch Mr. Jack. Ich sagte, Sie wären beschäftigt. Und er fragte mich, ob Sie mich beauftragt hätten, ihm zu sagen, daß Sie beschäftigt wären. Er scheint noch schlimmerer Laune zu sein als neulich.«

»Führen Sie ihn nur lieber herein,« meinte Miß Cairns, indem sie ihr Manuskript zudeckte und über ihr Haar strich, um sich von dessen zierlicher Glätte zu überzeugen.

Jack stürzte eilig ins Zimmer und schnitt ihre Begrüßung durch einen erregten Ausruf ab.

»Miß Cairns, ich habe einen Brief bekommen, einen unerhörten Brief. Sie beschuldigen mich, Sie beleidigt zu haben – so heißt es. Ich soll die Musikklasse aufgegeben haben – und noch andere solche haarsträubende Dinge. Ich bin jetzt gekommen, um Sie zu fragen ob Sie wirklich irgend etwas dieser Art behauptet haben. Und falls Sie es getan haben, von wem Ihnen solche Verleumdung hinterbracht worden ist.«

»Ich habe keineswegs irgend jemand gesagt, daß Sie mich beleidigt haben,« entgegnete Miß Cairns plötzlich erbleichend. »Ich habe vielleicht behauptet, daß Sie den Musikunterricht etwas unvermittelt abgebrochen ...«

»Wer aber hat Ihnen erzählt, daß ich die Musikklasse aufgegeben habe? Warum haben Sie's geglaubt, ehe Sie mir Gelegenheit geboten haben, es zu dementieren – es zurückzuweisen? Sie kennen mich noch nicht, Miß Cairns! Ich habe oft ein unglückliches Wesen an mir, weil ich – nach dem Sinn dieser Welt – ein unglücklicher Mann bin, wenngleich ich in meinem eigenen wirklichen Dasein – Gott ist mein Zeuge – mich für den zufriedensten und glücklichsten halten kann. Aber ich möchte mir lieber die Hand abhacken lassen, als Sie zu beleidigen. Ich bin einer Undankbarkeit völlig unfähig. Ich bringe Ihnen die aufrichtigste Hochachtung und Wertschätzung entgegen – nicht nur, weil Sie gut zu mir gewesen sind, sondern weil ich die vornehmen Eigenschaften zu schätzen weiß, die Sie über den Durchschnitt Ihres Geschlechts erheben. Weit entfernt, Ihre Freundinnen zu vernachlässigen oder sie im Stiche lassen zu wollen, habe ich mir stets die größte Mühe mit ihnen gegeben, und ich werde es auch fernerhin immer tun – um Ihretwillen, trotz aller ihrer offenbaren Oberflächlichkeit. Sie haben meine Bemühungen, sie zu einem einigermaßen anständigen Gesang zu bringen, mit eigenen Augen gesehen. Die Anklage jeglicher Unhöflichkeit gegen Ihre Person aber bin ich entschlossen, auf das entschiedenste zurückzuweisen. Wer ist der Urheber davon?«

»Ich versichere Sie,« entgegnete Miß Cairns jetzt errötend, »Sie haben mich nicht verletzt. Und wer auch immer behauptet haben mag, daß ich mich in diesem Sinne über Sie beklagt habe, der hat mich sicherlich mißverstanden. Und was nun das andere anbelangt – daß Sie die Klasse aufgeben wollen ...«

»Jawohl, jawohl – irgend jemand muß Ihnen das gesagt haben!«

»Sie haben es mir selbst gesagt, Mr. Jack.«

Er warf ihr einen raschen Blick des Erstaunens zu. Dann runzelte er mit ganz besonderer Ausdauer die Stirn und begann im Zimmer auf und ab zu schreiten.

»Lächerlich!« sagte er unwillig. »Davon habe ich kein Wort gesagt. Sie müssen sich geirrt haben.«

»Aber ...«

»Wie sollte ich denn so etwas gesagt haben, wenn mir der Gedanke niemals in den Kopf gekommen ist?«

»Soweit meine Kenntnis reicht,« entgegnete Miß Cairns etwas aufgebracht und mit Festigkeit, »als ich Sie fragte, ob Sie wiederkommen würden, haben Sie mir mit einem sehr nachdrücklichen ›Niemals‹ geantwortet.«

Jack blieb stehen und dachte einen Augenblick nach.

»Nein, nein,« meinte er, indem er seinen Spaziergang im Zimmer wieder begann. »Ich habe nichts dergleichen gesagt.«

Sie enthielt sich jeglichen Zusatzes und sah ihn etwas furchtsam an, während sie mit den Fingern auf dem Schreibtisch trommelte.

»Das heißt,« unterbrach er sich, indem er in seiner Promenade innehielt, »ich habe es vielleicht so gedankenlos vor mich hin gesagt – nur als eine flüchtige, nebensächliche Bemerkung. Gedacht habe ich mir nichts dabei. Ich war durch das geradezu infernalische Benehmen, das die Klasse an den Tag legte, etwas aus der Fassung gebracht worden. Wahrscheinlich haben Sie meinen Ärger nicht bemerkt und daher alles, was ich sagte, ernst genommen.«

»Ja, ich glaube, so wird es wohl gewesen sein,« erwiderte Miß Cairns mit einer gewissen Verschlagenheit. »Und da alles offenbar auf einem Mißverständnis beruht, so werden Sie – wie ich voraussetze – den Unterricht wieder aufnehmen, als ob nichts geschehen wäre.«

»Selbstverständlich – natürlich – es ist ja auch nichts geschehen.«

»Es tut mir nur leid, daß Sie sich erst die Mühe der Eisenbahnfahrt von London gemacht haben. Es ist wirklich sehr schade.«

»Oh, bitte, bitte – dafür können Sie ja nicht, Miß Cairns. Dabei ist jetzt nichts mehr zu machen.«

»Darf ich fragen, durch wen Sie von meinem – Mißverständnis in Kenntnis gesetzt worden sind?«

»Durch wen? Von Miß Sutherland – von wem denn sonst? Keinen Menschen unter Gottes weitem Himmel gibt es außer ihr, der solches Gift zu Papier bringen könnte.«

»Miß Sutherland ist mir eine treue, liebe Freundin, Mr. Jack.«

»Meine Freundin ist sie nicht. Ich habe ja monatelang in ihrem Hause gelebt – aber ihr niemals irgendwelchen Grund zur Feindseligkeit gegeben. Und doch hat sie keine Gelegenheit vorübergehen lassen, mir eins zu versetzen.«

»Sie irren sich, Mr. Jack – aber – wollen Sie nicht Platz nehmen? Entschuldigen Sie, bitte, daß ich Sie nicht vorher aufgefordert habe – Miß Sutherland ist Ihnen nicht im geringsten feindselig gesinnt.«

»Lesen Sie das,« rief Jack, indem er den Brief hervorzog.

Miß Cairns las; sie war unangenehm berührt.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Mary auf den Gedanken gekommen ist, so etwas zu schreiben,« meinte sie. »Ich weiß es bestimmt – mein Brief enthielt nichts, was ihre Bemerkung über mich rechtfertigen könnte.«

»Schiere angeborene Grausamkeit – mangelnde Rücksicht für seine Mitmenschen – natürlicher Hang, seinem Nächsten Übles zu tun – sie hat eine anmaßende, herrschsüchtige Veranlagung. Nichts ist abscheulicher als eine herrschsüchtige, anmaßende Veranlagung.«

»Sie verstehen sie nicht richtig, Mr. Jack. Sie ist nur hastig und vorschnell. Sie werden es schon ausfindig machen, daß sie im Impuls des Augenblickes geschrieben hat, da sie mich für ärgerlich und beleidigt hielt. Ich bitte Sie, denken Sie nicht mehr daran.«

»Es ist überhaupt ganz egal, Miß Cairns. Ich komme ja ohnedies nicht mehr mit ihr zusammen – und ich bitte Sie, künftighin ihren Namen in meiner Gegenwart nicht mehr zu nennen.«

»Aber sie will doch, sobald sie von Bonchurch zurückkommt, der Klasse beitreten – ich hoffe es wenigstens.«

»An dem Tage, wo sie eintritt, gehe ich fort! Allen Ernstes! Sie werden eher den Himmel und die Erde umkehren, als daß Sie mich dazu bringen, meinen Entschluß zu ändern – in diesem Punkte wenigstens.«

»Das muß ich nun sagen, Mr. Jack – Sie sind etwas gar zu streng. Ich bitte, nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich mir jetzt die Andeutung gestatte, daß Sie vielleicht in Ihrer eigenen Ungeduld eine Entschuldigung für ihre finden könnten.«

Jack wich einige Schritte zurück:

»Meine Ungeduld?« entgegnete er langsam. »Ich ungeduldig – ich, der ich mich zu einer steinernen Statue verbissener Geduld verhärtet habe?« Er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, knirschte mit den Zähnen und begann dann mit sichtlicher Erregung von neuem: »Hier stehe ich, ein Meister in meinem Beruf – keiner, der leicht zu meistern wäre – und vermodere und verfaule und verkomme und werde wahrscheinlich weiter ungehört verkommen inmitten einer Bande hohler, flacher Hehler und Kuppler, die aus dem, was sie besseren Leuten stehlen können, ein Sammelsurium machen und dann den Raub mit den elenden, ehrlosen Darstellern teilen, die es dem Publikum für ihre Rechnung unter die Nase reiben. Dies oder die verfluchte Tretmühle des Unterrichts oder für irgendeinen gröhlenden Halunken von Pfaffen die Orgel zu pauken oder der Hungertod – das ist das Los des Musikers in unserm Lande. Ich habe – trotz alledem und alledem – niemals eine einzige Seite Musik komponiert, die schlecht genug gewesen wäre, veröffentlicht und aufgeführt zu werden. Ich habe mich mit Schülern geschunden, wenn ich sie kriegen konnte, und in einer Dachkammer gehungert, wenn ich keine Schüler hatte – ich habe es ertragen, mir meine Werke ungeöffnet zurückschicken oder sie von Ladenschwengeln oder stinkfaulen Kapellmeistern für unausführbar erklären zu lassen – ich habe immer neue geschrieben, ohne jemals zu hoffen, einen einzigen Ton davon zu hören zu bekommen – Ich habe mich durch ein Übermaß solcher fruchtlosen Arbeit gewaltsam den schrecklichen Anfällen der Verzweiflung entrissen, die die Folgen meines eigensten Naturells sind – und bei alledem habe ich mich niemals beklagt, noch mich dazu prostituiert, Schund zu komponieren. Gar oft habe ich allerhand wohlmeinende Versicherungen vernommen, daß den Verlegern und Konzertunternehmern über alle Maßen viel daran liegt, gute, originelle Arbeiten zu bekommen – daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, sich solche zu verschaffen. Als ob diese elenden Hunde wüßten, was eine originelle Arbeit ist, wenn sie sie zu Gesicht bekommen – oder besser gesagt, als ob sie nicht allem Guten, Echten und Wahren instinktiv den Rücken kehrten! All dies habe ich ertragen, ohne dabei Schaden zu nehmen – ohne das erniedrigende Gefühl, daß es jemals imstande wäre, mir einen einzigen Augenblick des Bedauerns, der Enttäuschung und der Entmutigung aufzuzwingen! Und jetzt wollen Sie mir sagen, ich wäre ungeduldig, weil ich keine Lust verspüre, mich zu den Kaprizen einiger müßiger junger Damen herzugeben? Derartige Sachen bin ich gewöhnt von albernen, urteilslosen Menschen – oder ich war daran gewöhnt, solange ich noch Freunde besaß. Von Ihnen aber hätte ich mehr Vernunft erwartet.«

Miß Cairns rang vergeblich mit dem Inhalt dieser Rede. Alles mit Ausnahme dessen, was nicht bloße Herzählung von Tatsachen war, schien ihr konfus und inkonsequent.

»Ich wußte wirklich nicht,« sagte sie, indem sie ihn verblüfft ansah, »ich bin niemals auf den Gedanken gekommen – ich meine wenigstens ...« Sie hielt inne, da sie außerstande war, etwas Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Und dann fragte sie mit einem lauten Ausruf: »Und Sie hängen wirklich mit wahrer Liebe an der Musik, Mr. Jack?«

»Was sagen Sie da?« entgegnete er finster.

»Ich dachte, Sie wären überhaupt keiner Neigung fähig. Ich war immer fest davon überzeugt, daß Sie Ihren Beruf verstünden – wenigstens hatte ich die Empfindung – aber mir ist nie der Gedanke gekommen, daß Sie irgend etwas wie einen Enthusiasmus in sich fühlten. Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich es Ihnen offen sage – ich bin wirklich sehr froh darüber, daß ich mich geirrt habe.«

Jacks Züge glätteten sich wieder. Er erhob sich und ging, still vor sich hinlachend, um das Zimmer herum.

»Das Unterrichten macht mir keinen Spaß,« sagte er. »Aber ich muß doch nun einmal leben. Sie waren also alle der Ansicht, daß ein häßlicher Mann kein Komponist sein könnte. Oder war es vielleicht deshalb, weil ich keiner Bewunderung für das Gegröhle fähig bin, das Sie mit dem schmeichelhaften Ausdruck ›Singen‹ bezeichnen? Mit Mozarts Porträt habe ich nicht die geringste Ähnlichkeit, Miß Cairns.«

»Dergleichen haben wir niemals gedacht – das weiß ich bestimmt. Nur stimmten wir alle – ich weiß nicht wie – darin überein, daß Sie der allerletzte Mensch auf der Welt wären, der – der ...«

»Haha – das stimmt ja auch. Ich sehe nicht aus wie ein Serenadenkünstler. Aber mit dem Enthusiasmus – da haben Sie recht. Ich bin kein Enthusiast – das überlasse ich den Damen. Haben Sie jemals etwas von einem enthusiastisch ehrlichen Menschen gehört, oder von einem enthusiastischen Schuhmacher? Niemals – und so werden Sie wahrscheinlich auch niemals etwas von einem enthusiastischen Komponisten hören – wenigstens nicht, ehe er tot ist. Nein ...« er kicherte wieder vor sich hin; dann schien er sich plötzlich auf sich selbst zu besinnen. »Ich bitte sehr um Entschuldigung,« setzte er in steifem Tone hinzu. »Ich halte Sie auf.«

»Nicht im geringsten,« entgegnete Miß Cairns, und zwar so aufrichtig, daß sie hinterher ganz rot wurde. »Falls Sie nicht anderweitig beschäftigt sind, so möchte ich, Sie blieben noch einige Minuten. Sie könnten mir einen großen Gefallen tun.«

»Aber gewiß – mit dem größten Vergnügen,« entgegnete er. »Worin besteht er denn?« fügte er etwas mißtrauisch hinzu.

»Nur – daß Sie mir etwas vorspielen, ehe Sie gehen – wenn es Ihnen nicht unangenehm ist.«

Der Tonfall ihrer Worte sprach von jener regen Neugier, einem musikalischen Vortrag beizuwohnen, die bei unmusikalischen Leuten, deren Kunstinteresse nur durch Lektüre erweckt worden ist, sehr häufig und allgemein auftritt. Jack erkannte dies auf den ersten Blick ganz deutlich. Doch schien er bereit, ihr ihren Willen zu tun.

»Sie wollen sehen, wie der Apparat funktioniert?« meinte er gutmütig. »Das kann geschehen – was soll's also sein?«

Miß Cairns, die keine Ahnung von Musik hatte, aber nicht daran gewöhnt war, den Schein zu erwecken, als ob sie von irgend etwas keine Ahnung hätte, geriet in Verlegenheit.

»Etwas Klassisches also,« sagte sie aufs Geratewohl.

»Kennen Sie Thalbergs ›Moses in Ägypten‹?«

»Ich glaube, das ist sehr schön – aber es ist auch sehr schwer, nicht wahr?«

Er fuhr in die Höbe und blickte sie mit einem derartig seltsamen Grinsen an, daß sie unwillkürlich eine Art Mißtrauen empfand. Dann sagte er – aber er sagte es offenbar nur für sich selbst: »Sei gerecht, Jack, sei gerecht. Es ist dir wahrscheinlich früher selbst so vorgekommen.«

Er reckte seine Finger, bis sie in den Gelenken knackten, dann schüttelte er die Schultern und knirschte die Klaviatur ein paarmal mit den Zähnen an. Darauf improvisierte er eine Reihe Variationen über das Gebet aus dem ›Moses‹, was Miß Cairns Ansprüchen ebenso ausgiebig genügte, als wenn es Note für Note Thalbergs Musik gewesen wäre. Sie lauschte sichtlich tief ergriffen und war recht unangenehm berührt, als er plötzlich innehielt, aufstand und sagte: »So, so, Miß Cairns, das ist genug von dem Hokuspokus.«

»Ganz und gar nicht,« entgegnete sie. »Es hat mir ganz außerordentlich gefallen. Meinen besten Dank.«

»Übrigens, was ich sagen wollte,« bemerkte er etwas unvermittelt, »ich möchte nicht aufgefordert werden, Ihren Bekannten etwas vorzuspielen. Erzählen Sie bitte nicht überall von mir – für andere Leute arbeitet das mechanische Spielzeug nicht.«

»Ist denn das aber nicht jammerschade – wenn Sie Ihren Mitmenschen soviel Freude bereiten können?«

»Wenn mir der Sinn danach steht, so spiele ich – oft sogar unaufgefordert. Aber mir steht der Sinn nicht immer danach, während die Leute immer zu der Behauptung bereit sind, daß sie mir gern zuhören – besonders solche Leute, die für Musik ebenso taub sind wie für alles andere Gute. Noch eins, Miß Cairns. Wenn Ihre Freundinnen mich für einen bloßen Schulmeister halten, so sollen sie nur ruhig bei ihrer Ansicht bleiben. Ich lebe einsam, und daher rede ich zuweilen mehr über mich selbst, als ich eigentlich will. Heute habe ich es getan. Wiederholen Sie, bitte, nicht, was ich Ihnen erzählt habe.«

»Gewiß nicht, wenn Sie es nicht wünschen.«

Jack starrte einen Augenblick in seinen Hut hinein; er dachte nach; dann machte er ihr eine Verbeugung – eine Zeremonie, deren er sich stets mit einer gewissen Feierlichkeit entledigte – und dann entfernte er sich.

Miß Cairns saß lange gedankenverloren da und vergaß ihren Vortrag vollkommen. Da sie mehr daran gewöhnt war, den Inhalt ihres Gedächtnisses aufzuspeichern als ihre Einbildungskraft in Bewegung zu setzen, so überkam sie jetzt eine Empfindung des Neuen und Ungewohnten, als sie über das nachdachte, was sie mit einem flüchtigen Blick von Jacks Innenleben erschaut hatte – und über die Möglichkeit, die im Anschlusse hieran vor ihr auftauchte.

Bald darauf betrat ihre Mutter das Zimmer, um sich über den Besucher zu erkundigen. Miß Cairns aber berichtete ihr lediglich, wer es gewesen wäre, und tat so nebenbei des Umstandes Erwähnung, daß der Musikunterricht in gewohnter Weise fortgesetzt werden würde. Mrs. Cairns, die keinerlei Vorliebe für Jack hegte, brachte ihr Bedauern hierüber zum Ausdruck. Ihre Tochter jedoch, die den unbezähmbaren Wunsch hegte, ihre Gedanken irgend jemand mitzuteilen, aber kein Verlangen empfand, ihre Mutter ins Vertrauen zu ziehen, erinnerte sich nunmehr daran, daß sie Mary zu schreiben hätte. Ihr zweiter Brief lautete folgendermaßen:

Windsor, Newton Villa, den 6. September.

Meine liebste Mary!

Ich muß Ihnen über Ihr Vorgehen mit Mr. Jack einen strengen Verweis zukommen lassen. Er war soeben mit Ihrem scheußlichen Brief hier – in heller Wut – und offenbar ohne eine Ahnung von dem, was er neulich gesagt hat. Mit der Musikklasse ist alles wieder in bester Ordnung. Er leugnet aufs entschiedenste, an irgend etwas wie Aufgeben gedacht zu haben. Über Sie aber ist er sehr ärgerlich – wie mir scheinen will, nicht ohne allen Grund. Warum sind Sie immer so streitsüchtig? Ich habe mein Bestes getan, um den Frieden zwischen Ihnen beiden wiederherzustellen. Aber er ist unversöhnlich – fürs erste wenigstens. Ein seltsamer Mensch! Ich glaube, er ist sehr klug. Doch verstehe ich ihn nicht, wenngleich ich mein ganzes Leben unter Professoren und allerhand klugen Leuten zugebracht und mir eingebildet hatte, die ganze Spezies erschöpft zu haben. Meine ganze Logik und Mathematik kommt nicht in Frage, wenn ich mich mit Mr. Jack einlasse. Mir will es scheinen, als stammte er aus jenen Regionen der Kunst, in die mich forschend zu versenken Sie mir so oft und so dringend angeraten haben, von denen ich aber – leider – gar so wenig weiß. Nach allerlei Unannehmlichkeiten habe ich ihn wieder in gute Laune versetzt und ihn wirklich und wahrhaftig gebeten, mir etwas vorzuspielen. Und er hat es sogar getan – einfach großartig!

Sie dürfen ihn niemals merken lassen, daß ich Ihnen davon Mitteilung gemacht habe. Ich habe es ihm versprochen, niemand etwas davon zu sagen. Ich bin fest überzeugt, er kann furchtbar werden, wenn man ihn hintergeht. Sein wirklicher Charakter ist, soviel ich sehen kann – ganz anders, als wir es uns alle gedacht haben.

Ich muß hier abbrechen und zu Tisch. Ich zweifle keinen Augenblick, daß er in einiger Zeit versöhnlicher sein wird. Sein Zorn währt nicht ewig.

Ihre stets aufrichtig ergebene
Letitia Cairns.

Kaum hatte Miß Cairns dies Schreiben zur Post gesandt, als auch schon bange Zweifel in ihr aufstiegen, ob sie es nicht besser doch den Flammen übergeben hätte.


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