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Elftes Kapitel

Allmorgendlich von zehn bis zwölf übte Mademoiselle Szczympliça – oder sie übte auch nicht, je nach ihrer Laune, derweil ihre Mutter mit der Wohnungswirtin Haushaltungsfragen erörterte oder sich mit ihr auf den Markt begab. Am zweiten Vormittag nach der Conversazione unternahm Madame wie gewöhnlich ihren Ausgang. Kaum war sie in der Richtung nach Tottenham Court Road verschwunden, als Adrian Herbert von der entgegengesetzten Ecke des Squares her den Fahrdamm überschritt und an der Tür des soeben von der ältlichen Dame verlassenen Hauses den Klopfer in Bewegung setzte.

Während er auf der Schwelle wartete, vernahm er Aurélies Fingerübungen. Ihr Spiel war sehr einfacher Art – wie er es von kleinen Mädchen oft mit dem Namen der Fünffingerübung hatte bezeichnen hören; und es nahm langsam und gewissenhaft seinen Fortgang, als ob die Spielerin nimmermehr aufzuhören gedenke. Die Tür wurde von einer jungen Frauensperson geöffnet, die, insofern zu so früher Stunde keine Besuche erwartet wurden, sich in etwas schlampigem Zustand befand und bei Adrians Anblick ihre Hand unter der Schürze versteckte.

»Wollen Sie Miß Szczympliça fragen, ob sie mich empfangen will?«

Das Dienstmädchen zögerte, schloß dann die Tür und ging ins Empfangszimmer. Bald darauf erschien sie wieder und verkündete mit einiger Verlegenheit: »Miß Tchimplitza ist nicht zu Hause!«

»Das weiß ich,« entgegnete er. »Sagen Sie Mademoiselle aber, daß ich aus bestimmten Gründen so früh komme und sie bitte, mich einige Minuten anzuhören.« Dabei suchte er in seiner Tasche nach einem Silberstück; das Mädchen aber war schon fort, ehe er's ihr überreichen konnte. Dienstbotenbestechung widerstrebte seinen Ehrbegriffen.

»Wenn es sehr wichtig ist, sagt Madamazell,« teilte sie ihm bei ihrer erneuten Rückkehr mit, »so möchten Sie nähertreten.«

Adrian folgte ihr in den Empfangssalon, ein hohes, geräumiges Zimmer mit altmodischer Wandverkleidung und einem weißen Marmorkamin, dessen Meißelarbeit Vasen und Girlanden aufwies. Der Flügel stand in der Mitte, und der Teppich lehnte aufgerollt in einer Ecke, um die Resonanz nicht abzuschwächen. Aurélie stand neben dem Instrument; es zuckte seltsam verschmitzt in ihrem Gesichtchen.

»Hoffentlich sind Sie mir nicht böse,« begann Herbert mit derartig offenkundiger Freude über ihren bloßen Anblick, daß sie unwillkürlich die Augen niederschlug. »Ich weiß, daß ich Sie beim Üben störe – ich habe auch, ehe ich eintrat, auf Madames Ausgang gewartet. Noch einen Tag aber wie den gestrigen konnte ich nicht mehr ertragen!«

Aurélie zögerte, dann setzte sie sich und wies ihm einen Stuhl an, den er nahe zu ihr heranzog. »Was war denn gestern los?« fragte sie mit unwillkürlicher Koketterie.

»Es war ein Tag banger Ungewißheit über den Grund Ihres plötzlich veränderten Wesens von neulich Abend – als ich Sie wenige Minuten allein gelassen hatte.«

Aurélie verzog ihr Gesicht ein ganz klein wenig zu einer Grimasse, sah ihn aber dabei nicht an. »Warum sollte ich mein Benehmen geändert haben?« entgegnete sie.

»Das frage ich Sie ja gerade! Sie waren anders – irgend jemand hat Ihnen Räubergeschichten von mir erzählt, und Sie haben sie geglaubt.« Aurélies Augen leuchteten auf. »Wollen Sie mir nicht offen sagen, was Ihr Mißfallen erregt hat – und mir so Gelegenheit zur Erklärung geben.«

»Sie haben merkwürdige Sitten in England,« erwiderte sie mit einem erneuten, diesmal ärgerlichen Aufflackern ihrer Augen. »Mit welchem Recht könnte ich Ihnen Vorwürfe machen? Was gehen mich überhaupt Ihre Angelegenheiten an?«

»Aurélie!« rief er bestürzt. »Wissen Sie denn nicht, daß ich Sie liebe – wie ein Wahnsinniger?«

»Davon haben Sie mir noch nichts gesagt,« entgegnete sie. »Versteht sich dergleichen bei Engländerinnen immer von selbst?« Dabei errötete sie, vergrub gleich darauf das Gesicht in ihre Hände und lachte und schluchzte kaum hörbar in einem Atem. Das dauerte nur einen Augenblick; dann hörte sie Herberts Stuhl rasch noch näher an den ihren heranrücken, richtete sich auf und wehrte ihm mit einer Handbewegung ab.

»Monsieur Herbert – nach den in meiner Heimat bestehenden Ansichten geht eine Liebeserklärung stets mit einem Heiratsantrag Hand in Hand. Bieten Sie mir also Ihre Liebe an und sparen Ihre Hand für Miß Sutherland auf?«

»Sie tun mir unrecht – und sich, Aurélie. Ich habe Ihnen meine Liebe erklärt, weil ich nur an meine Liebe dachte. Ich setze ja von Ihnen nicht die blinde Liebe voraus, die ich Ihnen entgegenbringe. Wären Sie aber wirklich bereit, meine Frau zu werden? Ich weiß es – ich fühle es instinktiv, daß es für mich auf dieser Welt keinerlei Unglück mehr geben kann, wenn Sie mich nur Ihren – lieben Freund nennen wollen.« Seine Worte waren die Folge eines plötzlichen Sinnenrausches, der sich aus einer zufälligen Berührung ihres Ärmels herleitete.

Sie wurde nachdenklich. »Ohne Zweifel sind Sie uns ein lieber Freund, Monsieur Herbert. Wir haben deren nicht viele. Und an Liebe vermag ich im allgemeinen nicht recht zu glauben.«

»Sie haben für mich nichts übrig,« erwiderte er niedergeschlagen.

»Das ist eine irrige Annahme,« entgegnete sie rasch. »Sie sind immer sehr freundlich zu uns gewesen – zu uns als Ausländern. Das sind wir doch nun einmal, nicht wahr? Sie kennen uns ja kaum. Und Sie sind uns doch auch so fremd.«

»Ich? Ach, Sie kennen England ja noch gar nicht! Kein Tropfen Blut fließt in meinen Adern, der Ihnen fremd zu sein brauchte. Ich komme Ihnen doch nicht zu kalt vor? Oh, ich vergehe vor Eifersucht auf alle Ihre Landsleute!«

»Du lieber Himmel, das haben Sie nicht nötig! Wir haben nur sehr wenig Bekannte in Polen.«

»Aurélie! Wissen Sie auch, daß Sie immer ›wir‹ und ›uns‹ sagen, als ob Sie es nicht verstünden, daß ich nur Sie allein liebe – daß ich hier nicht als Freund Ihrer Familie vor Ihnen stehe, sondern als Bewerber um Sie, der für die Existenz anderer Menschen im Weltall keinen Sinn mehr hat? Wenn ich in Ihrer Nähe weile, dann ist es mir, als wandelte ich allein in einer Galerie herrlicher Bilder, als lauschte ich in einem lieblichen Gefilde dem Gesange der Engel – und unbeschreibliches Entzücken mischt sich all meinem Empfinden bei. Seit ich Sie gesehen, sind meine alten Träume, ist meine frühere Begeisterung wieder zu neuem Leben erwacht. Und Sie können alles mit einem Worte auslöschen oder allem mit einem Worte ewiges Leben verleihen. Lieben Sie mich?«

Sie wandte sich ihm langsam zu. »Dann ist das also nicht wahr, was Madame Phipson neulich abends sagte?« fragte sie zögernd.

»Was hat sie denn gesagt?« erkundigte sich Herbert, der bei dieser Enttäuschung über und über errötete.

Sie zog sich etwas von ihm zurück und maß ihn mit einem ernsten Blick.

»Madame sagte,« entgegnete sie mit gedämpfter Stimme, »Miß Sutherland wäre Ihre Verlobte.«

»Lassen Sie mich erklären!« rief Adrian in höchster Verlegenheit.

Sie erhob sich entrüstet. »Erklären?« wiederholte sie. »Ich bitte, Monsieur – ja oder nein?«

»Ja also – wenn Sie mich durchaus nicht anhören wollen,« entgegnete er mit einiger Würde. Sie nahm ihren Platz wieder ein und sah sich langsam, gleichsam hilfesuchend im Kreise um.

»Was werden Sie jetzt von mir denken, wenn ich Sie wirklich anhöre?« fragte sie schließlich.

»Ich werde denken, daß Sie mich vielleicht doch ein ganz klein wenig lieb haben. Sie verurteilen mich auf einen sehr schwachen Indizienbeweis hin, Aurélie. In England sind Verlobungen nicht unwiderruflich. Soll ich Ihnen jetzt sagen, wie sich das mit Miß Sutherland verhält?«

Aurélie schüttelte zweifelnd das Haupt, erwiderte nichts, hörte aber doch zu. »Es ist nun schon über zwei – fast drei Jahre her, daß wir uns verlobt haben. Wie ich Ihnen ja schon erzählte, bin ich mit Marys älterem Bruder, Herrn Phipsons Schwiegersohn, sehr eng befreundet – und so wurde ich auch mit ihr bekannt. Ich bin ihr die Erklärung schuldig, daß ihre Freundschaft mir in Zeiten der Vereinsamung und Entmutigung großen Halt geboten hat – damals, als meine Hand noch ungeübt war, als meine Bekannten unter der Führung meiner Mutter laut ihrer Mißachtung für meine Künstlerfähigkeit Ausdruck gaben und mich der Verschrobenheit und Eigenliebe bezichtigten, weil ich mir meine glänzenden Aussichten im Bank- und Börsenfach nicht zunutze machte. Mit großem Eifer warf sie sich selbst auf die Malerei, als ich sie darin unterwies – und wurde bald eine noch größere Enthusiastin als ich. Wahrscheinlich überschätzte sie meine künstlerische Größe. Immerhin aber wußte sie mir für meinen neuartigen nützlichen Einfluß aufrichtig Dank, mochte er sich auch tatsächlich wohl mehr von der Bekanntschaft mit den Werken großer Männer herleiten. Wie dem auch sei – wir vereinigten uns in der Hingabe an die Kunst – und ich danke ihr, weil sie meine Freundin war, als ich sonst keine Freunde hatte. So vereinsamt fühlte ich mich, daß ich sie in meiner Angst von ihrem Verlust um eine Verlobung bat. Sie stimmte ohne Zögern zu, wenngleich meine Lage eine lange Verlobungszeit nötig machte. Dies Verlöbnis ist niemals formell gelöst worden – seine Erfüllung aber ist jetzt völlig ausgeschlossen. Schon lange, ehe ich Sie sah und zum erstenmal erkannte, was Liebe eigentlich ist, war in unserm Verhältnis zueinander eine Veränderung eingetreten. Miß Sutherland ließ in ihrer Begeisterung für die Malerei nach, sobald sie einsah, daß man sie sich nicht wie eine fremde Sprache oder einen Geschichtsabschnitt aneignen kann. Sie wurde Jacks Einfluß zugänglich. Jack mag ein genialer Mensch sein – von Musik verstehe ich nicht viel – und er ist unzweifelhaft in seiner Art auch ein Ehrenmann. Mit seiner Veranlagung aber steht er dem wahren künstlerischen Empfinden so fern, daß sein Charakter, seine Lebensführung, seine Handlungsweise auf die ganze Atmosphäre gehobener Seelenmelancholie, in der große Künstler ihre Inspirationen finden, einfach vernichtend wirkt. Seine musikalische Befähigung wirkt für mein Gefühl an seiner Person wie eine ebenso ungeheuerlich planlose Zufälligkeit, als ob sie einem Büffel zuteil geworden wäre. Indes hat Miß Sutherland sich nun einmal in künstlerischen Dingen seiner Führung anvertraut, und er erspart ihr offenbar die Mühe, für sich selbst zu denken: sie befragt ihn nicht in derselben Weise, wie sie mich zu befragen gewohnt war. Vielleicht auch, daß er sie besser versteht als ich. Jedenfalls behandelt er sie so, wie ich sie niemals behandelt hätte. Und wenn es mir auch scheinen will, als wäre in meiner Methode mehr Achtung vor ihrer Person zu finden gewesen, so hat er mich doch im Reiche ihrer Gedanken erfolgreich aus dem Felde geschlagen. Damit will ich keineswegs behaupten, daß er es absichtlich getan hat. Ich kann mir nichts denken, was weniger auf Zuneigung zu irgend jemand – sogar zu sich selbst – hindeuten könnte, als gerade sein Benehmen. Aber es paßte ihr nun einmal, daran Gefallen zu finden. Diese zunehmende Bevorzugung Jacks hat mir weh getan: sie entmutigte mich mehr, als mich das bescheidene Maß von Erfolg emporhob, das mir in meinem Beruf zuzufallen begann. Und doch, bei meiner Ehre – ich wußte nicht was Eifersucht ist, bis ich Sie sah, bis ich Sie Jacks Musik spielen hörte. Meine Liebe für Sie hat nichts mit Ihrem Können zu tun, nichts mit dem reichen Beifall, den Sie geerntet haben. Es gibt unmerkliche Kleinigkeiten, die ein Künstler sieht, Aurélie, und die viel mehr sind als geläufige Fingerfertigkeit auf den Tasten. Beschreiben kann ich sie nicht – aber sie gelangten mir zum Bewußtsein, wie Sie auf der Empore erschienen, wie Sie lautlos Ihren Platz einnahmen, wie Sie Manlius' fragender Gebärde mit einem Blick antworteten – es war kaum ein Kopfnicken, und doch wurde er sich gleich über alles klar. Als die Musik begann und Sie durchs Instrument zur Zuhörerschaft zu sprechen begannen, da schwiegen Sie für mich. Ich hörte und genoß nur den wundervollen Mittelsatz der Fantasie, der seine zwingende Beredsamkeit nach Jacks eigenem Zugeständnis nur Ihnen allein verdankt. Als Phipson uns dann ins Nebenzimmer führte und mit Ihnen bekannt machte, da wußte ich nichts zu sagen, aber ich verlor keins Ihrer Worte, keine Ihrer Bewegungen. Sie waren eine Fremde, die meine Sprache nicht verstand – eine Bevorzugte an einem Ort, wo man mich nur duldete. Wußte ich denn, ob Sie nicht vielleicht durch die Ehe schon einem andern angehörten? Und doch empfand ich's, daß zwischen uns ein Bindemittel bestand, weit erhabener als meine Freundschaft mit Miß Sutherland, mochte sie mir auch noch so nahe stehen – durch das Verhältnis zu meinem alten Schulfreund und durch jegliche Übereinstimmung in Geschmacksrichtung, Bildungsart und Gesellschaftsstellung, die es zwischen Mann und Weib überhaupt nur geben kann. Im ersten Augenblick wußte ich, daß ich Sie liebte – und Mary nie geliebt hatte. Wäre ich ihr begegnet, wie ich Ihnen begegnet bin – meinen Sie, ich hätte Phipson um eine Vorstellung ersucht? So verschwand denn auch meine Eifersucht auf Jack: er mochte Ihr Komponist sein, wenn ich nur Ihr Freund sein durfte! Marys Anlehnung an ihn wurde für mich zum Quell höchsten Glücks. Seine Musik und Ihr Spiel bildeten die Anziehungskraft aller Konzerte. Jack mußte zu diesen Konzerten: Mary ging mit ihm, und ich folgte Mary. Wir fanden immer Gelegenheit, einige Worte mit Ihnen zu tauschen – und das danke ich meinem Rivalen. Er hat Mary veranlaßt, Sie aufzusuchen. Ihm schulde ich die Befreiung von den schwerwiegenden Verpflichtungen, die meine lange Verlobungszeit mir auferlegte. Und so liegt es auch an ihm, wenn ich hierher zu kommen und um Ihre Hand zu bitten wage. Aurélie – während des ganzen gestrigen Tages habe ich mich nach dem wahren Sachverhalt meiner Verlobungsgeschichte befragt, um Ihnen ein wahrheitsgetreues Geständnis ablegen zu können. Ich glaube, ich habe Ihnen alles berichtet, wie es sich verhält. Um Ihnen aber auszudrücken, was ich für Sie empfinde, fehlt mir die Sprache. Liebe ist nicht das richtige Wort. Es ist etwas so Ungewohntes, etwas so ganz Außergewöhnliches. Ich sehe alles mit anderen Augen – eine neue Kraft ist in mir erwacht. Worte aber gibt es dafür in keiner Sprache. Nicht einmal in meiner Muttersprache wüßte ich es Ihnen zu erklären. Ge – –«

»Ich versteh Sie vollkommen. Ihre Verlobung mit Miß Su– Sutherland« – der Name machte ihr noch immer Schwierigkeiten – »ihre Verlobung ist also noch nicht gelöst?«

»Nicht formell. Sie brauchen aber –«

»Hören Sie, Monsieur Herbert! Ich will mich nicht zwischen Sie und Miß Sutherland drängen. Wenn Sie mir aber bei Ihrer Ehre versichern können, daß sie Sie nicht mehr liebt – so holen Sie sich von ihr die Bestätigung.«

»Und dann?«

»Und dann – dann kommen Sie wieder. Dann werden wir sehen. Ich glaube aber nicht, daß sie Sie freigibt.«

»Doch! Hätte ich so zu Ihnen gesprochen, wenn ich noch irgendwelchen Zweifel hegte? Wenn sie mich beim Wort hält, so muß ich es doch als Ehrenmann halten! Sie wird es aber nicht tun.«

»Trotzdem müssen Sie zu ihr gehen – und Ihren Antrag erneuern!«

»Den Antrag bei Ihnen – oder bei ihr?«

»Großer Gott, er versteht mich noch immer nicht! Hören Sie genau auf meine Worte! Sie sollen zu ihr gehen und ihr erklären: ›Mary, ich komme, mein Wort einzulösen.‹ Antwortet sie: ›Nein, Monsieur Herbert, ich bestehe nicht mehr darauf‹ – dann – – dann, wie gesagt, dann werden wir sehen. Antwortet sie aber Ja, so dürfen Sie niemals wiederkommen.«

»Aber – – –«

»Nein! Nein! Nein!« flüsterte Aurélie mit abgewandtem Gesicht, »Sie müssen genau das tun, was ich Ihnen sage.«

»Ich will es auf mich nehmen, Aurélie, Marys wahre Gesinnung zu erfragen und mich daran zu halten. Das verspreche ich Ihnen. Würde ich Ihre Weisungen aber wörtlich befolgen, so müßte sie sich gleichfall an ihr Wort gebunden erachten und dem Zuge ihres Herzens zuwider auf einem Ja bestehen. Wir würden uns gegenseitig und uns selbst einem falschen Ehrgefühl aufopfern.« Sie drehte an einer Quaste des Stuhles und schüttelte ungläubig den Kopf. »Aurélie,« begann er in ernsterem Ton von neuem, »liegt Ihnen daran, daß sie mich beim Wort hält? In solchem Fall täten Sie besser, mir es gleich zu sagen. Wären Sie herzlos genug, mich in eine unglückliche Ehe zu treiben – nur um der Unannehmlichkeit einer bündigen Zurückweisung aus dem Wege zu gehen?«

»Ich werde Ihnen nicht mehr antworten!« rief sie, indem sie den Kopf hob, ihn aber nicht ansah. »Sie wollen mich in einer Schlinge fangen – Sie fragen zuviel.« Nach einer Weile setzte sie hinzu: »Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, daß Sie wiederkommen können, wenn sie Sie freigibt?«

»Ich darf also hieraus entnehmen – –«

Sie rang verzweifelt die Hände. »Und dabei behauptet man, die Engländer wären sehr von sich eingenommen! Halten Sie es denn nicht für möglich, daß ein weibliches Wesen etwas für Sie übrig hat?«

Er zögerte noch immer. Erst als sie plötzlich der Tür zuschritt, ergriff er ihre Hand und führte sie an die Lippen. Sie entzog sie ihm schnell. Dann setzte sie seiner Gefühlsaufwallung schonend einen Dämpfer auf, indem sie eine anderweitige Obliegenheit vorschützte, und verließ mit einem Neigen des Kopfes das Zimmer.

In gehobenster Stimmung trat er aus dem Hause. Er hatte bereits ein geraumes Stück Wegs zurückgelegt, ehe er darüber nachzudenken begann, was er Mary, die jetzt bei Mrs. Phipson wohnte, eigentlich sagen sollte. Bei Aurélie war ihm die Notwendigkeit, sich der französischen Sprache zu bedienen, zu Hilfe gekommen, und es hatte ihm ganz natürlich und leicht geschienen, mancherlei zu sagen, was in Englisch wohl etwas überschwenglich geklungen haben würde. Hatte er doch auch Aurélies Hand geküßt – auf französisch! Mary mußte ein Handkuß offenbar für eine lächerliche, eines gebildeten Engländers unwürdige Zeremonie gelten. Einer jungen Dame den Laufpaß zu geben – worin ja der Hauptinhalt seiner nächstliegenden Aufgabe bestand – das war ein Anerbieten, das sich in jeder Sprache schwer in Worte kleiden ließ.

Als er bei ihr eintrat, erblickte er sie mit dem Hut auf dem Kopfe und einem Nähtäschchen in der Hand.

»Ich warte auf Miß Cairns,« sagte sie. »Wir haben etwas vor. Rate mal!«

»Ich kann nicht raten. Ich wußte nicht, daß Miß Cairns in London ist.«

»Wir sind darin übereingekommen, daß der Zustand, in dem Jacks Garderobe sich befindet, nicht länger geduldet werden darf. Er ist heute in Birmingham. Wir verüben daher einen Einbruch in seine Wohnung, und zwar mit dem nötigen Material an Knöpfen, Stopfgarn und Benzin. Wir wollen seiner Kleidung ein etwas respektableres Aussehen verleihen – und dann kann wieder alles beim alten bleiben. Ich bitte dich, Adrian, mach nur kein so finsteres Gesicht. In Schicklichkeitsfragen bist du schlimmer als eine alte Jungfer.«

»Geschmacksache!« meinte Herbert mit einem Achselzucken. »Ist deine Expedition so wichtig, daß sie einen halbstündigen Aufschub nicht duldet? Ich habe recht dringlich mit dir zu reden.«

»Wenn du es wünschest,« erwiderte sie gedehnt, wobei ihr Gesicht etwas länger wurde. Ihr stand der Sinn jetzt gerade danach, vergnügt zu sein und Jack einen Streich zu spielen – nicht aber, sich hinzusetzen und mit Herbert ernste Gespräche zu führen.

Marys aufgeräumte Stimmung entging ihm nicht und reizte ihn zu gelindem Ärger; gleichzeitig aber verlieh sie ihm auch erneuten Mut. »Möglicherweise –« begann er, »vielleicht wirst du dich mit leichterem Herzen auf den Weg machen, wenn du mich erst angehört hast. Immerhin tut es mir leid, wenn ich dich aufhalte.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen,« entgegnete sie mürrisch. »Ich bin gern bereit, zu warten, Adrian. Worum handelt es sich also?«

»Bist du sicher, daß wir hier nicht gestört werden – auch nicht von Miß Cairns?«

»Wenn es gar so wichtig ist, gehen wir besser auf den Square hinaus. In Mrs. Phipsons Salon kann ich mich wohl nicht gut verbarrikadieren. Um diese Zeit ist ja kein Mensch auf der Straße.«

»Meinetwegen,« entgegnete Herbert, indem er den Unwillen, der sich seiner gleichfalls zu bemächtigen begann, zurückzudrängen versuchte. Schweigend traten sie aus dem Hause; sie öffneten die Pforte des kreisförmigen Gitters, das den Mittelraum des Squares abschließt; außer ihnen selbst waren nur einige spielende Kinder anwesend. Mary schritt stirnrunzelnd neben ihm her und wartete auf den Anfang seiner Rede.

»Mary – wenn ich dir die Frage, die ich damals stellte, als wir auf der Serpentine ruderten, heute zum erstenmal vorlegte – würdest du mir dann ebenso antworten?«

Sie war von diesem unerwarteten Angriff überrascht und blieb stehen.

»Wenn du diese Frage bis jetzt noch nicht an mich gerichtet hättest,« erwiderte sie im Weitergehen, »würdest du sie dann überhaupt vorbringen?«

Er ärgerte sich, weil sein Hieb so geschickt pariert worden war. »Um Gottes willen nur keine Wortklaubereien!« rief er. »Ich wollte dir ja keinen Vorwurf machen!«

Mary verzichtete auf eine Antwort. Sie hatte sich genügend in der Gewalt, um die bitteren Worte zurückzudrängen, die ihr auf die Lippen traten. Eine weniger schroffe Erwiderung fiel ihr nicht ein, und so mußte sie entweder mit Heftigkeit antworten oder schweigen.

»Es ist mir aufgefallen – ich denke mir's wenigstens –« fügte er nach einer Weile mit mehr Ruhe hinzu, »daß unsere Verlobung in letzter Zeit für uns nicht mehr denselben angenehmen Gesprächsstoff bildet.«

»Ich bin vollkommen bereit, unsere Verlobung innezuhalten,« entgegnete sie mit Festigkeit.

»Ich auch,« erwiderte Adrian im gleichen Tone. Dann folgte eine erneute Pause des Schweigens.

»Die Frage ist nur,« setzte er hinzu, »ob du ebenso geneigt bist, wie bereit. Du würdest mir eine grausame Ungerechtigkeit zufügen, wolltest du jetzt, nachdem du mir früher einmal dein Herz versprochen, dies Versprechen nur mit deiner Hand einlösen.«

»Hast du dich über irgend etwas zu beklagen, Adrian? Ich weiß wie empfindlich du bist – ich habe mir während der letzten zwei Jahre aber auch so unendliche Mühe gegeben, jeden Anlaß für deinen Tadel zu vermeiden, daß du mir wohl kaum mit Recht einen Vorwurf machen kannst. Du warst mit mir darüber einig, daß mein Malen nur Zeitvergeudung wäre, und daß ich recht täte, es aufzugeben.«

»Insofern es dir eben keine Freude mehr bereitete.«

»Daß du mir es nachtragen würdest, konnte ich nicht ahnen.«

»Das habe ich auch nicht getan, Mary!«

»Worum handelt es sich also?«

»Um nichts – wenn du sonst zufrieden bist.«

»Und das ist alles, was du mir zu sagen hast, Adrian?« meinte sie mit einem Anflug von Belustigung.

Er dachte nach. »Mary – ich möchte vor allem, du wärest dir darüber klar, daß ich auf Jack nicht eifersüchtig bin.« Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Hingegen habe ich mich damals, als wir nur Freunde waren, niemals so unglücklich gefühlt wie jetzt. Seit jener Zeit bin ich dein anerkannter Verlobter geworden, und Jack hat das Erbe der Freundschaft angetreten, aus der ich – ohne die geringste Absichtlichkeit – ausgeschieden bin. Ich erkläre mich daher gern einverstanden, die Plätze mit ihm zu tauschen.«

»Du legst es mir also nahe, die Verlobung zu lösen?« fragte sie, halb vorsichtig, halb eifrig.

»Nein! Ich halte es lediglich für meine Pflicht, dir deine Freiheit anzubieten, wenn du sie wünschest.«

»Ich bin bereit, mein Versprechen zu halten,« wiederholte sie hartnäckig.

»Das sagst du. Und ich will ja damit auch nicht behaupten, daß du dein Wort nicht einlösen willst – sondern nur, daß du diese Versicherung nicht in einer Weise abgibst, die darauf hinzielen könnte, mich sehr glücklich zu machen. Ich habe dich oft davor gewarnt, Mary, dir eine zu hohe Meinung von mir zu bilden. Jetzt rächst du deinen eigenen Irrtum an mir, indem du mich's durchfühlen läßt, wie wenig du mich des Opfers, das du mir bringen zu müssen glaubst, für würdig erachtest.«

»Ich habe es niemals als ein Opfer bezeichnet,« erwiderte Mary errötend. »Ich habe es mir stets angelegen sein lassen – ich wollte vielmehr sagen, du hast zur Eifersucht auf Jack nicht den geringsten Anlaß. Wenn unsere Verlobung gelöst werden soll, Adrian, so sage nicht, daß der Bruch von mir ausgegangen ist.«

»Von mir ist die Verlobung, sollte ich meinen, jedenfalls nicht gelöst worden, Mary,« entgegnete Adrian, gleichfalls errötend.

»Dann ist sie also augenscheinlich ungewöhnlich haltbar,« antwortete sie. Es folgte ein langes Stillschweigen. Sie schritten über den Rasenplatz und halbwegs zurück. Dann blieb sie stehen und nahm den Kampf mutig wieder auf. »Adrian,« sagte sie, »ich bitte dich um Verzeihung – ich habe mich auf unwürdige Spiegelfechtereien eingelassen. Willst du mir mein Wort zurückgeben und uns wieder Freunde sein lassen, wie früher?«

»Du wünschest es also offenbar?« meinte er etwas verdutzt.

»Ja. Und ich hoffte, dich zu diesem Vorschlag zu veranlassen, um dir so die Möglichkeit, mir einen Wortbruch vorzuwerfen, zu nehmen. Das war häßlich von mir – und bei unserm letzten Gang über den Rasen kam ich zur Besinnung. Ich schwöre dir, ich wünsche mir meine Freiheit nur, um unverheiratet bleiben zu können. Weder Jack hat etwas damit zu tun noch irgendein anderer Mann. Der Grund liegt nur darin, daß ich dir keine gute Frau sein könnte. Ich glaube, ich werde überhaupt nicht heiraten. Du bist viel zu gut für mich, Adrian.«

Herbert schämte sich vor sich selbst; er sah sie an, unfähig, eine Antwort hervorzubringen.

»Ich weiß, ich hätte dir dies alles gleich zu Anfang offen sagen sollen,« setzte sie eilig hinzu. »Schon mein Mangel an Aufrichtigkeit zeigt dir, wie wenig ich das bin, wofür du mich gehalten hast. Würdest du mich heiraten – du wärst einer fortdauernden Reihenfolge von Enttäuschungen ausgesetzt. Ich hoffe nur, ich bin nicht zu unvermittelt vorgegangen. Ich meinte – ich dachte mir – ich dachte also dabei auch ein wenig an Mademoiselle Szczympliça. Bleibst du mit ihr befreundet, so wirst du bald herausfinden, daß du an mir nicht viel verloren hast.«

»Hoffentlich ist es doch nicht ihretwegen – –«

»Nein, nein! Einzig und allein aus den angegebenen Gründen. Wir passen ganz und gar nicht zueinander. Ich versichere dir, mich leiten keine anderen Motive. Glaubst du mir das auch ganz gewiß, Adrian? Könntest du den Verdacht hegen, ich wollte einer andern Neigung den Weg bahnen, oder ich wäre eifersüchtig und unstet – du müßtest eine recht schlechte Meinung von mir haben!«

Bei Herbert regte sich wieder etwas von seiner früheren Neigung für sie – um so mehr im Gefühl der Reue, jetzt so vorgegangen zu sein, wie sie sich's selbst vorwarf. Er fühlte sich auch unbehaglich, weil Mary, da sie beide durch die Umstände auf die gleiche Probe gestellt worden waren, das Rechte und er das Unrichtige getan hatte. Zwar war er in seinen Einwänden, daß sie ihn zu hoch stelle, stets aufrichtig gewesen; doch hatte er niemals erwartet, bei einer Probe vor ihr den kürzeren ziehen zu müssen. Er dachte an Aurélie; und da überkam ihn eine plötzliche Furcht, sie könne vielleicht an ihm auch nicht mehr finden, als was diese Situation an ihm zutage gefördert hatte. Dessenungeachtet behielt er seine Haltung bedächtiger Überlegenheit aus Gewohnheit doch bei, als er von neuem das Wort ergriff.

»Mary,« sagte er ernst, »Ich habe niemals eine höhere Meinung von dir gehabt, als gerade jetzt. Was du für uns beide als den richtigen Weg erkennen magst – das ist auch der richtige Weg. Deine Entscheidung hat mich nicht ganz unerwartet getroffen. Und da es offenbar zu deinem Glück beiträgt, so will ich dir die Erklärung abgeben, daß ich's zufrieden bin, dich als künftige Frau zu verlieren, sofern ich dich als Freundin nicht zu verlieren brauche.«

»Ich werde stets mit Stolz deine Freundin sein,« entgegnete sie, ihm die Hand reichend. Er ergriff sie und kam sich wieder unendlich edel und vornehm vor. »Jetzt sind wir beide frei,« fügte sie hinzu, »und ich kann alles Gute wünschen, ohne dabei eine schwere Verantwortung auf mich zu nehmen. Noch eins, Adrian! Während unserer Verlobungszeit hast du mir Geschenke gemacht und Briefe geschrieben. Darf ich sie behalten?«

»Es würde mir sehr weh tun, wenn du sie mir zurückgeben wolltest. Wenn dir also daran liegt, so kannst du es ja tun.«

»Dann werde ich sie behalten!« Noch einmal reichten sie sich die Hände, dann schlug sie einen andern Ton an: »Ob Miß Cairns wohl die ganze Zeit auf mich gewartet hat?«

Auf dem Rückweg zum Hause unterhielten sie sich angelegentlich über die verschiedensten Dinge. Das Mädchen, das die Tür öffnete, teilte ihnen mit, daß Miß Cairns bereits warte. Mary trat ein. Herbert folgte ihr nicht.

»Wenn du nichts dagegen hast,« meinte er, »so gehe ich nicht mit hinein.«

Nach dem Vorgefallenen schien dies ganz natürlich. Mit einem Lächeln verabschiedete sie sich von ihm.

»Adieu, Mary!« sagte er.

Sobald die Tür sich schloß, schlug er wieder die Richtung nach Fitzroy Square ein. Da er sich aber nicht ganz behaglich und mit sich selbst nicht recht im reinen fühlte, so begab er sich zunächst in ein Restaurant in Oxford Street und nahm ein Kotelett und ein Glas Wein zu sich. Damit erwachte seine Unternehmungslust von neuem; über Wells Street eilte er Aurélies Wohnung zu. Er kam etwas vom richtigen Wege ab und fand sich erst bei der Portland Road Station wieder zurecht. Von hier aus kannte er den Weg nach Fitzroy Square. Er war noch nicht weit gegangen, als er die Stimme seiner Mutter hörte und stehenblieb. Sie kam vom Bahnhof und holte ihn auf dem Euston Road an der Ecke von Southampton Street ein.

»Was in aller Welt treibst du denn in diesem Stadtviertel?« fragte er und bemühte sich, seinen Unwillen über den Aufenthalt zu verbergen.

»Das ist eine Frage, zu der du kein Recht hast, Adrian. Leute, die immer ein ›Wo wollen Sie hin?‹ und ›Was haben Sie vor?‹ im Munde führen, sind eine gesellschaftliche und häusliche Landplage, wie ich dir solches schon mehrfach erklärt habe. Davon aber abgesehen – ich will mir in Tottenham Court Road Gardinen kaufen. Und da du mir nun einmal mit gutem Beispiel vorangegangen bist, so darf ich dich jetzt vielleicht fragen, wo du hinwillst?«

»Ich – oh – ich hab' augenblicklich nichts Bestimmtes vor.«

»Ich frage nur deshalb, weil du stehenbliebst, als ob du hier um die Ecke wolltest. Laß uns, bitte, nicht hier mitten auf der Straße halten.«

Sie ging weiter, und er schloß sich ihr an.

»Gibt's was Neues?« fragte sie plötzlich.

»Nicht daß ich wüßte,« entgegnete er nach einigem geheuchelten Nachdenken. »Nicht, daß ich wüßte! Wieso?«

»Ich habe nur Mary Sutherland und Miß Cairns getroffen, als ich zum Bahnhof ging. Sie meinte, du hättest mir ihretwegen etwas zu sagen.«

»Ach so – wir haben nämlich unsere Verlobung gelöst – –«

»Adrian!« rief sie und blieb dabei so plötzlich stehen, daß ein Arbeiter, der hinter ihr ging, gegen sie stieß.

»Ich bitte sehr um Verzeihung, gnädige Frau,« entschuldigte sich dieser verbindlich im Vorübergehen.

»Nimm dich doch etwas in acht, Mama!« ermahnte Herbert. »Komm weiter!«

»Nur Geduld, Adrian! Mein Kleid ist zerrissen. Es gibt doch nichts Unhöflicheres als englische Arbeiter! Würdest du vielleicht die Güte haben, mir für einen einzigen Augenblick meinen Sonnenschirm zu halten – wenn ich dich recht sehr bitte?«

Adrian nahm den Schirm und wartete übellaunig. Als sie ihren Weg fortsetzten, ging Mrs. Herbert schneller und mit kurzen Schritten.

»Es ist wirklich mehr als betrüblich,« meinte sie, »wenn man es so mitansehen muß, wie du das einzig Vernünftige, was du in deinem Leben angefangen hast, wieder über den Haufen wirfst. Ich dachte, deine Neuigkeit würde in der Ankündigung deiner bevorstehenden Hochzeit bestehen. Ich halte es fürs Beste, wenn du Mary schleunigst aufsuchst und diese alberne Zänkerei wieder gutmachst. Sie ist nicht das Mädchen, das mit sich spielen läßt.«

»Alles, was in dies Gebiet schlägt, ist zwischen Mary und mir vorbei. Von Zänkerei ist keine Rede. Die Sache ist definitiv, endgültig aus – ob's dir paßt oder nicht!«

»Schön, Adrian. Deswegen brauchst du nicht wütend zu werden. Wenn du es zufrieden bist, bin ich es auch. Ich sage nur, daß du sehr töricht gehandelt hast.«

»Das kannst du nicht beurteilen. Du hast nicht die leiseste Ahnung – –« Er hielt inne und ging schweigend weiter.

»Adrian,« begann Mrs. Herbert nach einer Weile würdevoll, »mir scheint, du wirst in deinem Betragen wieder knabenhaft. Du bist tatsächlich in Wut.«

»Wenn ich es bin,« entgegnete er voll Bitterkeit, »so bist du auch das einzige menschliche Wesen, das Vergnügen daran findet, mich in Wut zu bringen. Ich weiß, daß du mich für einen albernen Narren hältst.«

»Ich denke gar nicht daran!«

»Jedenfalls, Mama, ist deine Meinung über mich der Art, daß ich meine Privatangelegenheiten lieber mit irgendeinem Fremden als gerade mit dir erörtern möchte. Wo willst du deine Gardinen kaufen?«

Mrs. Herbert war ihm nicht behilflich, die Unterhaltung auf ein anderes Gebiet zu lenken. Sie verharrte einen Augenblick in Schweigen, um sich zu sammeln, da Adrians Bemerkung sie verletzt hatte.

»Ich will nur hoffen,« meinte sie schließlich, »daß diese Musikmenschen nicht an dem Zank schuldig sind – oder an diesem Bruch – oder was es sonst ist.«

»Wer sind diese Musikmenschen?«

»Jack.«

»Der hat gar nichts damit zu tun! Die Lösung unserer Verlobung ist von Mary ausgegangen – nicht von mir.«

»Von Mary! So? Dann ist es deine eigene Schuld – du hättest sie eben schon längst heiraten sollen! Aber warum sollte Mary gerade jetzt anderen Sinnes sein als früher? Hat Mademoiselle – diese Pianistin – hat die etwas damit zu schaffen?«

»Mit Marys Rückzug? Nein! Was könnte der Mademoiselle Szczympliça interessieren – falls sie es sein soll, von der du zu reden beliebst.«

»Allerdings – von der rede ich! Den verdrehten Nieser, mit dem ihr Name anfängt, hat sie dir, wie ich mit Befriedigung konstatiere, schon beigebracht. Ich nenne sie einfach Tschimplitza, da ich mich des Vorzugs ihres Unterrichts nicht erfreue. Wo wohnt sie denn?«

Herbert sah, daß er in die Falle gegangen war; er ärgerte sich über alle Maßen. »Fitzroy Square wohnt sie!« erklärte er kurz.

»Aha! Was du nicht sagst? Du weißt vielleicht auch, daß man von hier bis Fitzroy Square rund eine Minute braucht?« meinte sie ironisch.

»Das weiß ich ganz genau. Und ich will auch tatsächlich hin – und um ihr einen Besuch abzustatten.«

»Adrian!« warf seine Mutter rasch in veränderten Ton ein. »Du hast doch da hoffentlich nichts Ernstes vor?«

»Du setzest wohl nicht voraus, daß ich mit ihr spiele?«

Sie sah ihn bestürzt an: »Soll das heißen, Adrian, daß du mit Mary gebrochen hast, weil – weil – –?«

»Weil es gut ist, die alte Liebe vom Halse zu haben, wenn man eine neue anfängt? Du kannst die Sache unbesorgt so drehen, Mama – weil es ja, wie gesagt, Mary ist, die die Verlobung gelöst hat – und nicht ich. Offenbar tue ich ebensogut, dir jetzt die volle Wahrheit zu sagen, um auf diese Weise unser nächstes Zusammentreffen vor Bitterkeit und unnötigen Klagen zu bewahren. Ich will Mademoiselle Szczympliça bitten, meine Frau zu werden.«

»Törichter Jüngling! Dich wird sie ganz gewiß nicht nehmen! Sie verdient ein Vermögen und braucht nicht zu heiraten.«

»Brauchen tut sie es vielleicht nicht. Aber sie will es – das genügt mir. Sie kennt meinen Entschluß. Und ich werde ihn nicht ändern.«

»Wahrscheinlich nicht. Deine Hartnäckigkeit kenne ich ja schon von alters her, wenn du durchaus in dein Verderben rennen willst. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß du sie heiraten wirst – um so mehr, als sie nicht gerade die Sorte von Menschenkind ist, die ich mir zur Schwiegertochter aussuchen würde. Erwartest du, daß ich sie empfangen soll?«

»Ich werde dich als verheirateter Mann nicht mehr behelligen, als ich es als Junggeselle getan habe.«

Der Hieb traf sie etwas unerwartet und schmerzlich, doch antwortete sie ihm nichts. Bald darauf machten sie vor dem Laden halt. An der Eingangstür bemühte sie sich einer freundlicheren Sprechweise und legte ihm sogar zärtlich die Hand auf den Arm. »Adrian – sei nicht eigensinnig. Warte noch ein bißchen. Ich sage ja nicht: ›Laß sie schießen!‹ Warte nur noch ein wenig – um meinetwillen.«

Adrian zog die Brauen zusammen und wappnete sich gegen diese Bitte mit aller seiner Härte. »Mutter,« sagte er, »ich habe niemals einen Plan, der mir teuer gewesen wäre, in meinem Innern genährt, ohne daß du's nicht versucht hättest, mich mit Spott, mit Drohungen und – wenn diese nicht fruchteten – mit Schmeichelei davon abzubringen.« Sie zog die Hand von ihm ab und wich zurück. »Und jedesmal hat es sich herausgestellt, daß ich recht hatte und du unrecht. Du hast es mir schon nicht zugestanden, daß ich jemals Maler werden könnte – und jetzt bin ich trotz meiner Erfolge als Maler nicht einmal in der Lage, ohne dein Zutun zu heiraten. Einen Schritt habe ich getan, der deinen Beifall fand – das war meine Verlobung mit Mary. Hätte ich sie geheiratet – ich wäre heute ein verlorener Mann. Jetzt, wo mir das Glück zugefallen ist, von einer Dame geliebt zu werden, die ganz Europa bewundert – da verlangst du, ich solle dies Glück von der Hand weisen? Und zwar sehe ich hierfür auf Gottes weiter Welt keinen andern Grund, als dein feststehendes Prinzip, in allem und jeglichem meine Wege zu kreuzen. Es tut mir leid, wenn ich dir mit dürren Worten erklären muß, daß ich mittlerweile deinen Einfluß als mit meinem Glück in Widerspruch erachte. Die Erklärung hat mir schon oft auf den Lippen geschwebt – und jetzt hast du sie mir abgerungen.«

Während dieser langen Rede hatte Mrs. Herbert gespannt zugehört; sie schien auch jetzt noch zu lauschen. Dann richtete sie sich zu ihrer vollen Höhe auf, machte, ohne die Lippen zu bewegen, eine Gebärde des Einverständnisses, trat in den Laden und ließ ihn in hellem Ärger, aber auch im Zweifel darüber zurück, ob er klug gesprochen habe. Die Auseinandersetzung hatte ihn nun einmal erregt. Er lenkte seine Gedanken von ihr und allen anderen unliebsamen Empfindungen ab und gab sich ganz der Erwartungsfreude seines Empfanges bei Aurélie hin. Wenn die Strecke auch nur kurz war, so nahm er doch ein Hansom.

»Kann ich Miß Szczympliça noch einmal sprechen?« fragte er das Dienstmädchen, das ihn, da sie ihn als Bewerber durchschaute, mit sichtlichem Interesse empfing.

»Sie ist im Salon, gnädiger Herr. Treten Sie bitte näher.«

Er sah Aurélie in einem schwarzen Seidenkleide am Fenster stehen.

»Mr. Herbert, Madam,« meldete das Mädchen und zögerte auf der Schwelle, um das erste Zusammentreffen zu beobachten. Aurélie wandte sich um, begrüßte ihn mit einer hoheitsvollen Verneigung, ließ sich in einen Sessel nieder, und lud ihn durch eine Gebärde zum Sitzen ein. Er leistete ihrer Aufforderung Folge. Sobald die Tür sich aber geschlossen hatte, erhob und näherte er sich ihr.

»Aurélie! Sie hat mich gebeten, das Verlöbnis zu lösen – wenngleich ich ihr, Ihrem Wunsche gemäß, die Einlösung meines Wortes anbot. Ich bin jetzt vollkommen frei – aber hoffentlich nur für den Augenblick.«

Sie erhob sich mit würdevollem Ernst.

»Mademoiselle Szczympliça,« fügte er hinzu, indem er sein mehr familiär-zutunliches Wesen mit höflichem Ernst vertauschte. »Wollen Sie mir die Ehre erweisen, die Meine zu werden?«

»Mit Freuden, Monsieur Herbert – wenn meine Mutter damit einverstanden ist.«

Er war sich nicht darüber klar, was er zunächst tun sollte. Nach einigem Zögern beugte er sich nieder und küßte ihr die Hand. Und als er beim Aufblicken einen durchtriebenen Ausdruck in ihren Zügen gewahrte, schloß er sie in die Arme und küßte sie zu wiederholten Malen.

»Genug, Monsieur!« rief sie und befreite sich lachend aus seiner Umarmung. Dann nahm er wieder Platz – und zwar mit der Überzeugung, daß sie eine hinreißende Anmut und er ausreichende Leidenschaftlichkeit an den Tag gelegt habe.

»Ich dachte mir, Sie würden von mir viel Kühle und Förmlichkeit voraussetzen,« bemerkte sie, während sie sich mit gemessener Ruhe wieder in ihren Sessel niederließ. »Ich hatte mir gesagt: in England mußt du immer sehr feierlich sein! Sie besitzen aber ebensowenig Selbstbeherrschung wie sonst jemand. Und außerdem haben Sie ja noch gar nicht mit meiner Mutter gesprochen.«

»Sie erwarten doch hoffentlich von ihr keinen Einwand?«

»Wie soll ich das wissen? Und Ihre Verwandten – was ist mit denen? Ihre Mutter habe ich schon gesehen – sie ist die echte Grande-Dame. So hübsche Mütter bekommt man nur in England zu sehen. Sie ist Witwe, nicht wahr?«

»Ja. Ich habe keinen Vater mehr. Wollte Gott, ich hätte auch keine Mutter!«

»Oh, Monsieur Herbert! So etwas dürfen Sie nicht sagen! Eine so freundliche Dame! Pfui!«

»Aurélie – ich scherze nicht. Können Sie nicht begreifen, daß Mutter und Sohn in ihrer Veranlagung derartig auseinandergehen, daß jegliche Sympathie völlig ausgeschlossen ist? Mein großes Unglück besteht darin, daß ich ein solcher Sohn bin. Ich habe freundschaftliche Sympathie, Ermutigung, Achtung, Glauben an meine Fähigkeiten und Liebe –« er legte den Arm um ihre Taille, und sie widerstrebte flüsternd – »das alles habe ich bei Fremden gefunden, von denen ich nichts zu verlangen hatte. Bei meiner Mutter finde ich von alledem nichts: sie empfindet für mich lediglich eine mit Geringschätzung gepaarte Zärtlichkeit, die anzunehmen ich mich zu gut hielt. Sie ist eine kluge Frau, in ihren Gefühlen unduldsam und stets auf ihre eigenen Wege bedacht. Mein Vater war wie ich – es mangelte ihm an Selbstvertrauen, um sich durch Anmaßung in der Welt vorwärts zu bringen. Sie hielt ihn deshalb für einen Toren und mißachtete ihn. Aus meiner Ähnlichkeit mit ihm zog sie den Schluß, daß ich auch ein Tor sein müsse, und sie bekannte sich zur Verpflichtung, mein Dasein in einen unbeschwerlichen, einträglichen, standesgemäßen, hirnlosen und konventionellen Weg zu lenken. Kaum daß ich aus Furcht vor ihrer spöttischen Passivität es jemals gewagt hätte, auch nur den bescheidensten Ehrgeiz oder den allgemeinsten Anspruch auf Achtung zum Ausdruck zu bringen! Sie hatte keine Ahnung, wie sehr ihre Gleichgültigkeit mich quälte, weil sie sich von einem feinfühligeren Empfinden als ihrem eigenen keine Vorstellung zu machen vermochte. Aus Jugend oder Mangel an Erfahrung begeht wohl jeder Mensch einmal Torheiten. Und ich hoffe, die meisten Leute schonen und belächeln solche Torheiten so wohlwollend, wie nur möglich ist. Meine Mutter hat nicht einmal darüber gelacht! Sie sah ihnen auf den Grund und rottete sie mit offenkundiger Verachtung aus. Sie lehrte mich, ohne ihre Wertschätzung fertig zu werden – und ich habe mir die Lektion gemerkt. Meine Bekannten werden mich überall als einen schlechten Sohn hinstellen – sie aber niemals als eine schlechte oder, besser gesagt, als gar keine Mutter. Schon mit ihrer bloßen Gegenwart reizt sie alles, was ich an Heftigkeit oder Unliebenswürdigem an mir habe. Und darum wünsche ich mir, ganz elternlos zu sein – und darum bitte ich Sie, die mir mehr ist als alles andere auf der Welt, ich bitte Sie, mich nach dem zu beurteilen, was Sie mit eigenen Augen sehen – nicht nach den Berichten, die Ihnen über mein Verhalten gegen meine Angehörigen zugetragen werden.«

»Ach, das ist ja entsetzlich! Oh, mein Gott! Die eigene Mutter zu hassen! Wenn Sie Ihre Mutter nicht lieben – wie wollen Sie denn da Ihre Frau lieben?«

»Mit all der Liebe, die meine Mutter zurückgewiesen hat – und noch dazu mit der, die Sie in mir erwecken! Offen gestanden bin ich froh über Ihre Bestürzung. Sie müssen Ihre Mutter sehr lieb haben.«

»Das ist doch etwas ganz anderes,« meinte Aurélie achselzuckend. »Das Band zwischen Mutter und Sohn ist ein heiliges. Die Zuneigung zwischen Mutter und Tochter aber ist etwas Alltägliches, Selbstverständliches. Sie müssen sie um Verzeihung bitten. Bedenken Sie doch – wenn sie Sie verfluchte?«

»Diese Art von elterlichen Verfluchungen sind in England nicht mehr Mode,« entgegnete Adrian belustigt und auch etwas verletzt. »Nach einiger Zeit werden wir uns schon besser verstehen. Lassen wir also jetzt meinen alten Kummer fallen. Mögen Sie gern Bilder, Aurélie?«

»Das haben Sie mich schon hundertmal gefragt. Jawohl – einige Bilder gefallen mir sehr gut. Ich habe nur sehr wenige gesehen.«

»Aber Sie waren doch in Dresden und in München und in Paris?«

»Das schon. Aber ich hatte überall zu spielen – und keinen Augenblick für mich selbst. In Dresden wollte ich die Galerie besuchen – mußte es aber aufschieben. Gibt's in München gute Bilder?«

»Haben Sie sie nicht gesehen?«

»Nein. Ich wußte nichts davon. In Paris bin ich im Louvre gewesen – ich hatte aber nur eine halbe Stunde Zeit und konnte daher nicht viel sehen. Früher habe ich sehr gut gezeichnet. Ist Malen schwer?«

»Die schwierigste Kunst der Welt, Aurélie.«

»Sie lachen mich wohl aus? Du lieber Himmel, es gibt kein Dutzend Klavierkünstler – wirkliche Künstler – in Europa. Dafür ist aber jede Stadt voll von Malern.«

»Von wirklichen Malern, Aurélie?«

»Das vielleicht nicht. Es wird wohl minderwertige Maler geben, geradeso wie minderwertige Pianisten. Ist es nicht so, wie – Miestar Adrian?«

»So müssen Sie mich nicht nennen, Aurélie! Leute, die man gern hat, nennt man nicht Mister. Sie haben also früher gezeichnet?«

»Jawohl. Soldaten und Pferde – und meine Bekannten. Soll ich Sie mal zeichnen?«

»Aber natürlich! Wie soll ich Ihnen sitzen? Profil?«

»Sie brauchen mir nicht zu sitzen. Ich will Sie nicht abzeichnen – ich will nur ein kleines Konterfei machen. Ich kann blonde Menschen ebenso gut zeichnen wie dunkle. Sie werden's gleich sehen.«

Sie nahm ein Notenblatt zur Hand und malte mit dem Bleistift auf den Rand. Im Handumdrehen hatte sie von Herbert und Jack zwei kritzlige Skizzen von fraglichster Zeichenkunst, aber ergötzlichster Ähnlichkeit fertig.

»Mich kann ich ganz gut erkennen,« meinte er mit einem prüfenden Blick. »Aber Jack ist geradezu großartig! Haha! Ich als Berufsmaler könnte das nicht,« setzte er wehmütig hinzu. »Porträts sind meine schwache Seite. Aber ich hätte Dresden doch nicht verlassen, ohne die Sixtinische Madonna zu sehen.«

»Ach was! Das Betrachten von Bildern lehrt mich kein gutes Zeichnen – ebensowenig wie ich vom Zuhören Klavierspielen lernen könnte. Hätte ich aber geahnt, daß ich Sie jemals kennen lernen würde – ich wäre ganz bestimmt in die Galerie gegangen. Oh Gott! So plötzlich dürfen Sie mich nicht küssen. Eigentlich ist es komisch, was für eine pedantische Leichenbittermiene Sie neulich machten – und wie Sie jetzt noch schlimmer sind als ein Kosak. Sind Sie sehr übelnehmerisch, Monsieur Adrian?«

»Ich denke nicht,« entgegnete er mit unwillkürlichem Staunen über den veränderten Tonfall, in dem sie diese letzte Frage vorbrachte. »Wenn das soviel heißen soll, daß ich Ihnen jemals etwas übelnehmen könnte – so bin ich sicherlich nicht übelnehmerisch. Ich bin sehr empfindlich für Freude und Schmerz – das schon. Übelnehmerisch aber nicht, mein Schatz.«

»Schatz? Schatz? Was ist das in Englisch für ein Wort?«

»Gar keins! Sie können's im Wörterbuch nachsehen, wenn ich fort bin. Was soll ich denn aber übelnehmen?«

»Ach, es ist nur eine Kleinigkeit. Ich möchte, daß Sie sich jetzt entfernten.«

»Jetzt schon?«

»Ja. Ich habe meiner Mutter noch gar nichts gesagt. Wenn sie mich in diesem Kleid sieht, wird sie mich gleich ausfragen. Sie dürfen nicht dabei sein. Machen Sie uns morgen um vier Uhr einen Besuch – dann ist alles in Ordnung. So – nun gehen Sie! Sie muß jeden Augenblick zurück sein.«

»Vor morgen nachmittag soll ich Sie nicht sehen?«

»Wozu denn? Heute abend spiele ich im Hause einer sehr vornehmen Dame – bei Lady Geraldine Porter – sie ist die Tochter eines Adligen und die Frau eines Baronets. Mama verkehrt gern mit solchen Leuten. Morgen wird sie Ihnen alles über unsere Vorfahren erzählen.«

»Wir werden uns heute abend treffen, Aurélie. Lady Geraldine ist die Cousine meiner Mutter und ihre intime Freundin – ein Grund, weshalb ich den Verkehr mit ihr bis jetzt nicht sehr gesucht habe. Sie hat mir einmal gesagt, sie würde keine Einladungen mehr an mich verschwenden – weil ich sie nie annahm – ich wäre ihr aber, wenn ich kommen wollte, stets willkommen. Heute abend werde ich kommen wollen, Aurélie! Hurra!«

»Himmel! Sie sind ja auf einmal ganz Feuer und Flamme! Sie werden gefälligst daran denken, daß wir bei Lady Geraldine noch wie früher miteinander zu verkehren haben. Werden Sie artig sein?«

»Selbstverständlich.«

»Jetzt gehen Sie aber – ich bitte Sie. Wenn Sie noch lange zögern, so könnten Sie vielleicht – was gibt's denn schon wieder?«

»Mir ist gerade eingefallen, daß meine Mutter wahrscheinlich bei Lady Geraldine sein wird. Wäre es Ihnen in solchem Falle vielleicht recht – kurz und gut also, Ihre Mutter soll ihr noch nichts von unserer Verlobung sagen. Und Sie selbst sagen ihr natürlich auch nichts!«

»Nein – wenn Sie's nicht wünschen,« entgegnete Aurélie und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Sie müssen nämlich wissen. Teuerste – da ich selbst meiner Mutter noch nichts gesagt habe, so würde sie es als einen groben Verstoß empfinden, falls Madame Szczympliça schon von meinen Absichten unterrichtet wäre. An und für sich ist es ja Unsinn – aber Sie wissen doch, wie förmlich wir hier sind.«

»Ach, das ist also der Grund? Ich bin froh, daß Sie's mir gesagt haben – ich werde sehr vorsichtig sein. Und meine Mutter auch. Jetzt gehen Sie aber! Au revoir!«


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