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Viertes Kapitel

Zwei Tage später war Mary damit beschäftigt, die Skizze fertigzustellen, bei deren Kopie sie von Mrs. Herbert unterbrochen worden war. Es war mit ihr nicht alles so, wie es sein sollte: bei jedem Geräusch im Hause wechselte sie die Farbe und horchte auf. Plötzlich öffnete sich die Tür und das Stubenmädchen trat sichtlich empört ungerufen ein.

»Oh – Clara – Sie haben mich aber erschreckt! Was wollen Sie?«

»Entschuldigen Sie, bitte, Miß – bin ich aber verpflichtet, mich von dem Doktor beschimpfen und anfluchen zu lassen?«

»Wieso? Was ist denn geschehen?«

»Der Herr hat mir nach dem Frühstück einen Brief für Mr. Jack gegeben, Miß. Er war nicht auf seinem Zimmer, und so habe ich das Schreiben auf den Tisch gelegt. Sobald ich ihn herumrumoren hörte, bin ich hingegangen und habe ihn gefragt, ob er den Brief bekommen hätte. Die Antwort lautete – mit Verlaub zu sagen, Miß – ›scheren Sie sich zum Teufel, Sie Schandweib!‹ Wenn von mir vorausgesetzt wird, daß ich mir von solchen Leuten so 'was gefallen lassen soll, dann möchte ich lieber kündigen.«

»Tut mir sehr leid, Clara. Worüber hat er sich denn so aufgeregt? Sind Sie ihm irgendwie unhöflich entgegengekommen?«

»Nicht, daß ich wüßte, Miß. Ich bin mir selbst viel zu gut dazu, mich hinzustellen und auf lange Unterhaltungen einzulassen. Seine Tür stand weit offen, und er hatte seine Handtasche mitten auf dem Fußboden liegen und stopfte seine Sachen hinein, so schnell es nur gehen wollte. Dabei knirschte er mit den Zähnen und sah wirklich gefährlich aus.«

»Ich will Ihnen etwas sagen, Clara – Mr. Jack geht nun bald fort, und ich glaube, Sie gehen über die Sache ebensogut hinweg.«

»Wirklich, Miß? Mr. Jack geht weg?«

»Jawohl,« entgegnete Mary, indem sie sich wieder ihrer Staffelei zuwandte.

»So?« meinte das Stubenmädchen gedehnt. Nachdem sie noch einige Zeit vergeblich auf eine etwas reichhaltigere Auskunft gewartet hatte, eilte sie in die Küche, um die Neuigkeit dort zu verbreiten. Sie hatte die Tür geschlossen, aber sie war nicht eingeschnappt; ein Zugwind, der von einem offenen Fenster in der Halle herrührte, stieß sie bald darauf sanft wieder auf.

Mary wollte die Tür geschlossen haben, damit Jack auf seinem Wege zur Haustür sie nicht sehen sollte; aber sie konnte sich nicht zum Aufstehen entschließen. Nie in ihrem Leben war sie so sinnlos nervös gewesen. Hilflos saß sie da und redete sich ein, sie male – bis sie die gefürchteten Fußtritte auf den Treppenstufen erdröhnen hörte. Ihr Herz schlug mit einem beängstigenden Crescendo, je mehr die Schritte sich näherten – vorbeigingen – innehielten – zurückkehrten – und über die Schwelle ins Zimmer kamen. Als sie sich gewaltsam zu einem Augenaufschlag zwang, sah sie Mr. Jack vor sich stehen. Er hielt ihres Vaters Brief in der Hand und beäugte sie.

»Was hat das zu bedeuten?« sagte er.

Mary blickte im Zimmer umher, als ob sie seinen Augen ausweichen wollte. Aber sie mußte ihn doch wieder ansehen, als sie unsicher antwortete:

»Danach fragen Sie wohl besser Mr. Sutherland.«

»Mr. Sutherland hat nichts damit zu schaffen. Sie sind hier die Herrin.«

Er wartete lange genug auf eine Antwort, um ihr damit zeigen zu können, daß sie ihm keine zu geben hatte. Dann schüttelte er den Kopf und riß den Brief kurz entschlossen in kleine Stücke. Das reizte ihren Unmut und trieb ihr die Worte auf die Lippen:

»Ich habe keine Lust, noch länger mit Ihnen über diese Angelegenheit zu verhandeln.«

»Ich habe Sie noch gar nicht um Erlaubnis dazu gebeten,« sagte er. »Ich will Ihnen eine Lehre zukommen lassen – zum Wohle des nächsten armen Teufels, der meine Stellung einnimmt, und den Launen Ihrer Unwissenheit auf Gnade und Ungnade preisgegeben ist. Sie haben mir die Arbeit meiner letzten drei Monate verdorben – Sie haben mir meine Pläne umgeworfen – Sie haben mich ruiniert – soweit ich sehen kann. Teilen Sie Ihrem Vater, der mich zum Schlusse dieses Monates entlassen will, gefälligst mit, daß ich mich selbst jetzt entlasse. Ich bin kein Hund, und ich mag nach dem Unrecht, das er mir zugefügt hat, nicht mehr an seinem Tische sitzen.«

»Er hat Ihnen kein Unrecht getan, Mr. Jack. Ihm steht das freie Verfügungsrecht darüber zu, wen er in seinen vier Wänden behalten will. Ich bin der Meinung, daß er vollkommen recht gehandelt hat – und Mr. Herbert denkt ebenso.«

Jack lachte unvermittelt und schroff auf.

»Der unglückselige Kerl!« rief er. »Er bildet sich ein, er kann die Welt mit neuen Ideen beschenken, weil ein paar große Männer ihm einige wenige eingegeben haben. Es tut mir leid, daß sein steifes Benehmen mich neulich abend ihm gegenüber etwas in Harnisch gebracht hat. Er haßt mich instinktiv, weil er, was er bei sich vermißt, bei mir vorhanden fühlt. Sie sollten das alles selbst viel besser wissen. Du lieber Gott – den betrunkenen Lümmel, den ich bei mir hatte, konnte er deshalb nicht vertragen, weil er mit seiner Klarinette wie ein Mann umzugehen verstand, in dem etwas steckt. Momentan habe ich keine Zeit zu langen Reden. Ich bin immer Ihr guter Freund gewesen und habe es mir mit Ihrem Bruder um Ihretwillen recht sauer werden lassen, weil ich mir einbildete, Sie hätten mir zu dieser Anstellung verholfen, als es mir so verzweifelt schlecht ging. Jetzt aber kann ich Ihnen das alles nicht mehr so leicht verzeihen.«

Er sah sie wieder kopfschüttelnd an; dann schritt er hinaus und schloß die Tür hinter sich.

Das Stubenmädchen stand in der Halle.

»Meine Handtasche und ein paar andere Sachen liegen vor meiner Tür,« rief er ihr im Vorbeigehen zu. »Händigen Sie es, bitte, dem Mann, den ich schicke, aus.«

»Auf wessen Befehl habe ich mich mit Ihrem Gepäck abzugeben, wenn ich fragen darf?«

Jack wandte sich um und schritt langsam auf sie zu, bis sie zurückweichend mit dem Rücken gegen die Mauer stand.

»Auf meinen Befehl, Fräulein Unverschämt! Tue das, was dir befohlen wird und wofür man dich bezahlt, verdammtes Frauenzimmer!«

»Nein, das muß ich aber sagen!« meinte das Stubenmädchen, während es sich fortschlich. »Das ist aber ein ...«

Jack blieb stehen und warf ihr einen bitterbösen Blick zu. Sie zog sich eilig zurück, wobei sie etwas vor sich hinmurmelte.

Während er aus dem Hause schritt, begegnete ihm Herbert, der durch die Pforte in den Garten eintrat. Adrian war aufs höchste verwundert, als er ihn herzlich aus vollem Halse lachen hörte. Bis jetzt hatte er ihn noch nicht in guter Laune gesehen.

»Guten Morgen, Mr. Jack,« meinte er, als er an ihm vorbeischritt.

»Adieu,« entgegnete Jack spöttisch, und dann ging er weiter.

Bevor Adrian an die Haustürstufen gelangte, hörte er den anderen draußen auf der Straße wieder in ein schallendes Gelächter ausbrechen.

Als Jack sich nach Herzenslust ausgelacht hatte, ging er eilig seines Weges; er kicherte noch vor sich hin und hob die Faust von Zeit zu Zeit drohend gen Himmel. Bei Oberst Beattys Hause tänzelte er mit phantastischen Schritten an der Pforte vorbei und schnippste mit den Fingern. Immer und immer wieder lachte er unbändig über sein eigenes Gebaren, bis er auf die gepflasterte Straße gelangte. Hier unter den Augen der Stadt fühlte er den Zwang, sich etwas weniger auffällig zu benehmen; diese Beschränkung machte ihn so ungeduldig, daß er plötzlich seinen Plan, sich hier eine Wohnung zu suchen, aufgab und den Weg nach der Eisenbahnstation von Slough einschlug.

»Wann geht ein Zug nach London?« fragte er, an den Billettschalter tretend.

»Gleich,« entgegnete der Beamte gelangweilt.

»Jetzt gleich?« rief Jack. »Geben Sie mir ein Billett – dritter Klasse – einfach.«

»Am nächsten Schalter, bitte – hier gibt's nur erster Klasse.«

»Dann geben Sie mir erster Klasse,« schrie Jack unwillig. »Schnell!« und er schob einen halben Sovereign hinein.

Der Beamte war beim Klange von Jacks Stimme zusammengefahren, gab ihm eilig eine Fahrkarte und einen Teil des Wechselgeldes. Jack ließ den Rest liegen und rannte auf den Bahnsteig – gerade zur Zeit, um die Lokomotive pfeifen zu hören.

»Zu spät, mein Herr! Sie kommen zu spät,« sagte der Mann, der damit beschäftigt war, die Barriere zuzuschlagen.

Als Antwort schob Jack sie gewaltsam wieder auf und rannte hinter dem abfahrenden Zuge her. Es erhob sich ein allgemeines Gerufe und Gelaufe der Beamten, die ihn von seinem Vorhaben abzubringen versuchten. Einer von ihnen bekam ihn zu fassen und fiel, da er ihn nicht zu halten vermochte, infolge der Kollision der Länge nach auf den Boden. Im nächsten Augenblick öffnete Jack die Tür eines Wagens erster Klasse und stolperte mit großer Hast und Unordnung hinein. Die Tür wurde hinter ihm von einem Beamten zugeschlagen, der auf dem Trittbrett stand und ihm allerhand zurief.

»Sie werden sich gerichtlich zu verantworten haben, mein Herr – hierfür – verlassen Sie sich darauf! Sie werden gerichtlich be…«

»Scheren Sie sich zur Hölle!« brüllte Jack mit Donnerstimme. Als der Beamte absprang, wandte sich Jack von der Coupétür ab und sah sich einem hoch aufgeschossenen, prächtig herausgeputzten alten Herrn gegenüber, der ihn mit lauter Fistelstimme anrief:

»Mein Herr, dies ist ein Privatcoupé! Ich habe dieses Coupé reservieren lassen! Sie haben hier nichts zu schaffen!«

»Dann hätten Sie die Tür abschließen lassen sollen,« entgegnete Jack mürrisch, indem er sich niederließ und mit konzentriertem Unmut die Arme verschränkte.

»Ich – ich halte Ihre Zudringlichkeit für im höchsten Grade unverantwortlich – wirklich im höchsten Grade ungerechtfertigt!« begann der alte Gentleman von neuem.

Jack freute sich etwas gar zu deutlich über des alten Herrn seltsame Fistelstimme und seine fassungslose Verwirrung. Dann aber fühlte er sich gezwungen, den weißen Haaren etwas Rechnung zu tragen und sagte:

»Na ja – na ja – ich kann ja auf der nächsten Station in einen anderen Wagen umsteigen.«

»Das können Sie nicht, mein Herr!« rief der Alte noch etwas ärgerlicher als vorher. »Dies ist ein Expreßzug – er hält nirgends.«

»Dann bleibe ich eben, wo ich bin,« entgegnete Jack höflich und mit einem neuen und ernsteren Ausdruck des Unwillens; er hatte gerade bemerkt, daß sich noch jemand im Coupé befand – eine junge Dame.

»Das lasse ich mir nicht gefallen, mein Herr! Ich werde den Zug zum Halten bringen.«

»Bitte, bringen Sie ihn zum Halten,« meinte Jack, indem er ihn von der Seite anschielte. »Aber lassen Sie mich jetzt in Ruhe.«

Der alte Herr, auf dessen ausgemergelten Backen die Zornesröte kam und ging, wandte sich jetzt der Notleine zu und begann die Gebrauchsanweisung zu lesen.

»Du hältst den Zug doch wohl lieber nicht an, Papa,« meinte die junge Dame. »Du mußt ja doch nur Strafe zahlen. Die halbe Krone, die du dem Schaffner gegeben hast, genügt nicht ...«

»Halte deinen Mund!« meinte der Gentleman. »Ich wünsche, daß du nicht zu mir sprichst, Magdalen – unter keinem Vorwande.«

Jack, der sich angesichts des unverfänglichen Verhältnisses seiner beiden Mitreisenden etwas zu besänftigen begann, warf jetzt der Tochter einen flüchtigen Blick zu. Sie war eine schlanke, junge Dame mit kastanienbraunem Haar, dem die Sonnenstrahlen, die schräg durch das Wagenfenster fielen, einen eigenartigen Glanz verliehen; ihre Augen waren hellnußbraun; der Mund klein, aber mit vollen Lippen, deren obere ebenso wie ihre Nase ein wenig nach aufwärts strebte. Sie zählte sicherlich nicht mehr als zwanzig Jahre; trotz ihrer Jugend aber und ihrer etwas trivialen Schönheit lag doch etwas unverkennbar Selbstbewußtes und Hochmütiges in ihrem Benehmen. An ihrer Reise schien sie nicht sonderlich viel Gefallen zu finden; sie nahm sich auch keine Mühe, ihre schlechte Laune zu verbergen, die aus der Zurechtweisung ihres Vaters noch reichliche neue Nahrung gesogen hatte. Ihr maisfarbenes Kostüm mit lichtblauem Besatz war sehr elegant und stand in bewunderungswürdig harmonischem Einklange mit ihrem zarten Teint. Jack sah in kurzen Abständen immer wieder zu ihr hinüber, bis er die Entdeckung machte, daß ihre Züge sich in dem Fenster, dem er zunächst saß, spiegelten. Er wandte sich nunmehr von ihr ab und studierte ihre Erscheinung mit Muße.

Mittlerweile hatte der alte Herr, der nach wie vor allerhand vor sich hinmurmelte, ohne das Notsignal in Bewegung zu setzen, wieder seinen Platz aufgesucht und eine Zeitung zur Hand genommen. Von Zeit zu Zeit sah er über den Rand hinweg zu seiner Tochter hinüber, die ihre Wange auf die behandschuhte Hand gestützt hatte und mit unwillig zusammengezogenen Augenbrauen auf die Landschaft hinausstarrte, die eilig an ihnen vorüberzog. Plötzlich ließ er einen Ausruf der Ungeduld laut werden, als er etwas Staub und Ruß fortblasen mußte, der sich auf seinem Zeitungsblatt niedergelassen hatte. Dann erhob er sich und schloß das Fenster.

»Ach, ich bitte dich, Papa, mache doch nicht alles zu,« meinte die junge Dame. »Es ist unerträglich warm. Ich bin schon halb erstickt.«

»Magdalen, ich verbiete dir, zu mir zu sprechen!«

Magdalen machte ein Schmollmündchen und zuckte ärgerlich mit den Schultern. Der Vater ging auf die andere Coupétür zu und schloß dies Fenster gleichfalls. Jack ließ es sofort mit einem Krach wieder herunter und warf ihm einen wild herausfordernden Blick zu.

»Mein Herr,« sagte der Gentleman, »wenn Sie – wenn Sie, mein Herr – wenn Sie mich höflich ersucht hätten, das Fenster nicht zu schließen, dann hätte ich nicht – dann hätte ich Ihrem Einwand Rechnung getragen ...«

»Und wenn Sie, mein Herr,« entgegnete Jack, »und wenn Sie mich erst höflich um Erlaubnis gefragt hätten, ehe Sie sich an meinem Fenster zu tun machten, dann würde ich Ihnen mit derselben Höflichkeit meinen unumstößlichen Entschluß zur Kenntnis gebracht haben, den in vollstem Umfange einleuchtenden Vernunftgründen der Dame nachzukommen.«

»Ha – wirklich? Nicht möglich!« meinte der Vater von oben herab. »Ich verspüre – äh – keine Lust – äh – mich mit Ihnen in Diskussionen einzulassen!«

Er nahm seinen Sitz wieder ein, während seine Tochter, die einen Augenblick lang neugierig zu Jack hinübergesehen hatte, sich mit ihrem früheren bekümmerten Gesichtsausdruck wieder der Landschaft zuwandte.

Von nun an ging die Reise einige Zeit in Ruhe und Frieden vor sich – der alte Herr war ganz in seine Zeitung vertieft. Jack lachte innerlich noch über seine letzte Erwiderung. Die Schnelligkeit des Zuges nahm jetzt zu. Dem Musiker wurde es froher ums Herz, während die Telegraphenstangen kaum sichtbar an ihm vorüberschossen. Als der Zug auf einen Teil der Strecke gelangte, auf dem die Schienen auf eisernen Stoßstühlen ruhten, verwandelte sich das sanfte, schleifende Rollen der Räder in ein rhythmisches Geklapper. Allmählich wurde das Geräusch geradezu ohrenbetäubend. Jacks Vergnügtheit hatte sich zu einem Erregungszustande sorglosester Gleichgültigkeit aufgeschwungen, als er durch den alten Herrn, den er inzwischen ganz vergessen hatte, plötzlich wieder zur Vernunft gebracht wurde.

»Mein Herr,« rief dieser, »würden Sie vielleicht die Güte haben, diesen verd… – äh – unangenehmen Lärm beiseite zu lassen?«

Jack war völlig verwirrt und hörte augenblicklich auf mit den Zähnen zu knirschen und zu pfeifen. Dann lachte er und sagte gutmütig:

»Ich bitte Sie sehr um Entschuldigung – ich bin nämlich Tonsetzer.«

»Dann werden Sie vielleicht die Güte haben, sich daran zu erinnern, daß Sie sich augenblicklich nicht in der Druckerei befinden,« meinte der Gentleman, der ihn offenbar für einen Schriftsetzer hielt. »Sie stören diese Dame – Sie machen mich halb verrückt mit Ihrem Gepfeife!«

»Mich stört es nicht im geringsten,« meinte die junge Dame etwas aufsässig.

»Magdalen – ich habe dich schon zweimal zum Stillschweigen aufgefordert!«

»Ich werde sprechen, wenn es mir paßt,« murmelte sie vor sich hin.

Ihr Vater tat so, als ob er nichts hörte und saß während der nächsten zehn Minuten still, während er von Zeit zu Zeit mit einem eigentümlichen Augenzwinkern zu Jack hinübersah. Dann fragte er:

»Was sagten Sie, mein Herr, was Sie wären – wenn ich fragen darf?«

»Tonsetzer.«

»Ein Zusetzer sind Sie, mein Herr,« entgegnete der alte Herr schnell. »Sie setzen mir zu!« Und dann setzte er mit einem zirpenden Lachen ein, das Jack nach einer Pause sprachloser Verwunderung mit einem tiefdröhnenden Gebrüll der Freude übertönte. Selbst die junge Dame – so fest sie auch zu ihrer Schmollmiene entschlossen sein mochte, konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

Der Vater nahm das Zeitungsblatt wieder zur Hand, um sein Gesicht damit zu verbergen; dann setzte er sich mit dem Rücken zu Jack, der ihn von Zeit zu Zeit vor sich hinlachen hörte.

»Ich wollte, ich hätte etwas zu lesen,« meinte die junge Dame nach einer Weile, wobei sie sich mit einer Gebärde größter Unzufriedenheit vom Fenster abwandte.

»Ein bißchen Nachdenken kann dir auch nichts schaden,« entgegnete der Vater. »Ein wenig Nachdenken – und ich will gleich hinzufügen, Magdalen – vielleicht auch ein wenig Reue.«

»Ich habe nichts als Unglück und Enttäuschung, worüber ich nachdenken könnte – und zum Bereuen sehe ich keinen Grund. Bitte, verschaffe mir an der nächsten Station einen Roman – oder gib mir etwas Geld, damit ich mir selbst einen holen kann.«

»Das werde ich bestimmt nicht tun! Dir kann ich kein Geld anvertrauen. Außerdem verbiete ich dir, jemals wieder einen Roman in die Hand zu nehmen. Von solchem giftgeschwollenen Unsinn hast du ja die Ideen, die dich zu deiner letzten schamlosen Eskapade gebracht haben. So – nun muß ich dich aber bitten, mir nicht zu antworten, Magdalen. Ich habe keine Lust, mich mit dir auf Wortgefechte einzulassen – besonders nicht vor Fremden.«

»Dann bringe du auch nicht den Fremden die Meinung bei, als ob ich ...«

»Halte deinen Mund, Magdalen! Bist du absichtlich ungehorsam gegen mich? Du solltest dich schämen, überhaupt mit mir zu sprechen.«

Die junge Dame biß sich auf die Lippen und wurde über und über rot.

»Ich meine nur ...« begann sie.

»Still!« rief der Vater, indem er seinen Regenschirm ergriff und ihn mit einer peremptorischen Gebärde auf den Boden stampfte.

Jack sprang in die Höhe.

»Mein Herr,« rief er, »wie können Sie es wagen, sich so zu einer jungen Dame zu benehmen?«

»Diese Dame ist meine Tochter. Der T… T… Teufel soll Ihre Unverschämtheit holen!« entgegnete er zornig.

»Dann behandeln Sie sie nicht, als ob sie ein Hund wäre,« entgegnete Jack. »Ich bin ein Künstler, mein Herr – ein Künstler, ein Poet – und ich werde es nicht gestatten, daß ein junges, schönes Weib in meiner Gegenwart in so schamloser Weise tyrannisiert wird.«

»Wäre ich ein junger Mann – –« kochte der alte Herr, indem er seinen Schirm umspannte.

»Wenn Sie es wären,« brüllte Jack, »so würden Sie der Dame nur mit Achtung und Freundlichkeit entgegenkommen. Oder sonst würde ich Sie durch die Gewalt der Töne hier auf der Stelle allegro martellatissimo zu Pulver zermahlen.«

»Ich verbitte mir derartige Drohungen, mein Herr,« entgegnete der alte Gentleman kühn, indem er sich erhob und seinen Gegner maß. »Mit welchem Rechte mischen Sie sich in die Angelegenheit fremder Leute – vollkommen fremder Leute? Sind Sie verrückt, mein Herr, oder wissen Sie nur nicht, was Sie tun?«

»Keins von beiden. Ich bin mit den Gewohnheiten dieser Welt ebenso vertraut wie Sie. Und ich habe es mir zugeschworen, mich ihnen nicht zu fügen, wenn sie die stillschweigende Duldung der Unterdrückung von mir fordern. Die Satzungen der menschlichen Gesellschaft, mein Herr, sind dazu bestimmt, die Welt für Feiglinge und Heuchler bequem zu machen. Und falls ich nicht durch die Unzulänglichkeit meiner Veranlagung selbst das eine oder andere oder vielleicht beides werde, so werde ich es mir niemals gestatten, Tyrannei ruhig mit anzusehen, ohne sie in ihre Schranken zurückzuweisen – noch Lügen zu hören, ohne sie an den Pranger zu stellen. Wenn mehr Menschen meines Sinnes wären, so würden Sie niemals wagen, es als feststehende Tatsache anzusehen, ich müßte mich zum Zeugen Ihrer Unverschämtheiten gegen Ihre Tochter hergeben, ohne mich zu ihrem Schutze dazwischen zu mengen.«

Auf diese schwungvolle Rede vermochte der alte Gentleman keine Antwort zu finden. Einige Augenblicke starrte er Jack an, dann sagte er:

»Ich ersuche Sie, sich um Ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, mein Herr. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.« Und schließlich ging er grollend auf seinen Platz zurück.

Die junge Dame aber lehnte sich etwas vor und sagte voller Hochmut:

»Ihre Einmischung ist vollkommen überflüssig. Ich danke Ihnen. Ich kann für mich selbst sorgen.«

»Ei, sieh da,« entgegnete Jack, indem er sie stirnrunzelnd anblickte. »Sie sind ebenso wie andere Kinder? Ich bin ohnedies kein solcher Esel, von Ihnen etwas wie Dankbarkeit vorauszusetzen.«

Das Mädchen errötete und sah wieder auf die Landschaft hinaus. Der Vater starrte Jack an, der mit einem Satz auf seinen Platz zurückkehrte, seine Arme verschränkte und zornglühend vor sich hinglotzte. Fünf Minuten später hielt der Zug. Der Zugführer sammelte die Fahrkarten ein.

»Ich habe mich auf Sie verlassen wegen des leeren Coupés,« herrschte ihn der alte Herr an. »Statt dessen habe ich eine höchst unangenehme Reise hinter mir. Ich bin gestört und geärgert worden – ganz scheußlich geärgert worden.«

»Haha,« krächzte Jack, »hahahahah!«

Der Zugführer sah ihn mit finsterem Blicke an und sagte:

»Das Billett, bitte, mein Herr.«

Er sagte dies in einem Tone, aus dem seine Erwartung hervorging, die Fahrkarte würde sich als ein Billett dritter Klasse herausstellen. Sobald er sie in Empfang genommen hatte, hielt er sie zwischen den Lippen, während er ein Notizbuch öffnete und sagte:

»Ich bitte um Ihren Namen und Ihre Adresse, mein Herr.«

»Warum?«

»Weil Sie in den Zug gestiegen waren, als er sich schon in Bewegung gesetzt hatte – in Slough, mein Herr. Die Direktion hat strengen Befehl dagegen erlassen. Sie hätten ums Leben kommen können, mein Herr.«

»Zum Donnerwetter, was geht denn das die Direktion an, wenn ich ums Leben komme oder nicht?«

»Beeilen Sie sich, bitte, mein Herr,« meinte der Beamte, der offenbar nicht wußte, ob er scherzen oder nachdrücklich werden sollte. »Unsere Zeit ist um.«

Jack machte einen Augenblick lang ein ärgerliches Gesicht, dann zuckte er mit den Schultern und sagte:

»Ich heiße Jack und wohne nirgends.«

Der Mann ließ das Buch zur Seite niederfallen und wandte sich mit einer stummen Aufforderung an den alten Herrn, die Behandlung, die er über sich ergehen lassen mußte, genau zu beachten.

»Lassen Sie doch das, mein Herr,« sagte er. »Was hat das alles für einen Zweck? Wir müssen Sie dann festhalten – und das ist für niemanden von uns angenehm.«

»Soll das eine Drohung sein?« entgegnete Jack wütend.

»Nein, mein Herr, gewiß nicht. Kein Mensch bedroht Sie. Wir sind doch alle anständige Leute. Ich erfülle hier nur meine Pflicht, wie Sie wohl begreifen werden, mein Herr – sonst nichts. Wie lautet also Ihr Name, mein Herr?«

»Mein Name ist Jack. Ich habe es Ihnen ja schon einmal gesagt. Mr. Owen Jack.«

»Oh – ich hatte es anfänglich nicht richtig verstanden – Und nun Ihre Adresse, wenn ich bitten darf?«

»Ich habe keine. Haben Sie denn nie von einem Menschen gehört, der kein Heim besitzt? Wenn Ihnen der Ort, wo ich letzte Nacht geschlafen habe und wo meine Habseligkeiten liegen, genügt, so können Sie aufschreiben: per Adresse Mr. Charles Sutherland, Beulah, Windsor. Da haben Sie auch eine Visitenkarte.«

»Ich kenne Mr. Sutherland sehr gut,« entgegnete der Beamte, indem er sein Buch wieder einsteckte. »Ich danke bestens.«

»Und so wahr ein Gott im Himmel ist,« setzte Jack vor Zorn bebend hinzu, »wenn ich noch ein einziges Wort über diese Geschichte höre, so werde ich mich über Sie beklagen, weil Sie eine halbe Krone von diesem Herrn genommen und mich und eine Dame eine ganze Reise lang mit ihm zusammen eingeschlossen haben. Ich halte den Herrn für geistesschwach.«

»Zugführer!« schrie der alte Gentleman ganz außer sich. Aber der Zugführer war durch Jacks Anspielung auf die halbe Krone völlig außer Fassung gebracht worden; er eilte von hinnen und ließ den Zug weiterfahren.

Der alte Herr aber wollte sich damit nicht zufrieden geben.

»Mein Herr,« rief er, »wie können Sie es wagen, mich als geistesschwach zu bezeichnen?«

»Und wie können Sie es wagen, mein Herr, sich über eine Reise zu beklagen, die nur durch Ihre eigene üble Laune verdorben worden ist? Ich habe meine Fahrt sehr genossen. Ich habe mich am Sonnenschein erfreut, an der Landschaft, an der rhythmischen Bewegung des Zuges und der Gesellschaft meiner Mitreisenden – Sie natürlich ausgenommen. Selbst Ihre Unterbrechungen können mir höchstens als unzeitgemäße kleine Scherze gelten. Wirklich – nie in meinem Leben habe ich eine Fahrt so genossen.«

»Sie sind der unverschämteste Patron, der mir je in den Weg gekommen ist!«

»Genau das, was ich von Ihnen halte, mein Herr. Sie haben mit den Feindseligkeiten begonnen, und wenn Sie dabei auf einen etwas widerhaarigen Menschen gestoßen sind, so haben Sie sich das nur selbst zuzuschreiben.«

»Sie sind hier in meinen Wagen eingedrungen.«

» Ihr Wagen? Ebensogut mein Wagen wie Ihr Wagen – eigentlich sogar noch mehr. Sie sind eine ungesellige Persönlichkeit, mein Herr – genug davon.«

»Genug davon,« entgegnete der alte Gentleman. »Lassen wir die Sache jetzt ruhen, wenn ich bitten darf. Es ist genug darüber gesprochen worden.«

»So, jetzt will ich Ihnen etwas sagen, mein Herr,« meinte Jack augenscheinlich in etwas besserer Stimmung. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin während der letzten drei Monate in geradezu unnatürlicher Weise unterdrückt und eingezwängt worden – heute morgen bin ich dann explodiert wie eine Bombe. Die Gewalt der Explosion war noch nicht völlig verpufft, als ich mit Ihnen zusammenkam – vielleicht habe ich daher weniger Rücksicht auf Ihre Seniorität an den Tag gelegt, als es zu anderen Zeiten wohl der Fall gewesen wäre.«

»Meine Seniorität hat mit der ganzen Frage nichts zu tun – mein Alter geht Sie gar nichts an.«

»Scht, Vater!« flüsterte das junge Mädchen. »Antworte ihm nicht. Es ist deiner nicht würdig.«

Der alte Herr wollte gerade eine ärgerliche Antwort vom Stapel lassen, als der Zug bereits längs des Bahnsteiges in die Station Paddington einlief. Ein Gepäckträger riß die Tür auf und rief:

»Hansom oder Viersitzer, mein Herr?«

»Nehmen Sie mir ein Hansom.«

»Schön! Auch Gepäck, mein Herr?«

»Ja, eine Blechschachtel,« entgegnete die junge Dame, »eine braune, mit Monogramm M. B.«

Der Gepäckträger führte die Hand an die Mütze und entfernte sich.

Der alte Herr stieg aus und wartete mit seiner Tochter an der Coupétür auf die Rückkehr des Trägers. Jack folgte langsam und stand unentschlossen neben ihnen – unter allen der einzige Mensch ohne Ziel und Zweck.

»Ich möchte nur wissen, warum der Kerl mit unserer Droschke nicht kommt,« meinte der ältliche Herr nach ungefähr fünfzehn Sekunden. »Der Strauchdieb ist natürlich von irgend jemand anderem aufgegabelt worden und hat uns ganz vergessen. Sollen wir denn den ganzen Tag hier herumstehen?«

»Er wird ja gleich kommen,« meinte Magdalen, »er hat ja noch keine Zeit gehabt ...«

»Er hat Zeit genug gehabt, zwanzig Hansoms zu holen. Warte hier, bis ich wiederkomme, Madge. Verstanden?«

»Ja,« entgegnete das junge Mädchen.

Er warf ihr einen strengen Blick zu und schritt dann zum Gepäckwagen. Eine leichte Röte stieg ihr ins Gesicht, als sie ihm nachblickte. Mittlerweile hatte der Gepäckträger die Blechschachtel auf einem Hansom untergebracht und kam jetzt zu Magdalen zurück.

»Hierher, bitte, Miß – wo ist denn der Herr?«

Sie warf dem Gepäckträger einen raschen Blick zu, dann sah sie hinüber zu der Menge, in der ihr Vater verschwunden war und dann – nach einem Augenblick qualvollen Zögerns – glitten ihre Augen zu Jack hinüber, der noch immer neben ihr stand.

»Ach, lassen Sie den Herrn nur,« wandte sie sich an den Gepäckträger. »Er fährt doch nicht mit mir.«

Im Augenblick, wo sich der Mann umwandte, um ihr den Weg zu der Droschke zu zeigen, streifte sie hastig ihren Handschuh von der Hand, zog einen Ring vom Finger und redete Jack mit vor Erregung glühenden Zügen, aber entschlossener Miene an:

»Ich habe kein Geld, die Droschke zu zahlen. Wollen Sie mir etwas für diesen Ring geben – ein paar Schilling genügen. Bitte, halten Sie mich nicht auf! Ja oder nein?«

Jack verlor nur eine kurze Sekunde, in der er sie mit sprachlosem Staunen anstarrte. Dann fuhr er mit der Hand in die Tasche und zog eine Anzahl Gold-, Silber- und Kupfermünzen heraus – mehr, als er bequem greifen konnte.

»Behalten Sie nur Ihren Ring,« sagte er, »und machen Sie, daß Sie fortkommen!«

»Sie müssen ihn nehmen!« erwiderte sie ungeduldig. »Ich brauche auch nicht all dies Geld ...«

»Himmelsakrament,« rief Jack in plötzlicher Erregung, »da kommt Ihr Vater schon! Beeilen Sie sich.«

Sie blickte sich zu Tode erschrocken um. Als Jack sie aber etwas unzeremoniös dem Wagen zuschob, sammelte sie sich wieder und warf sich eilig in das Hansom.

»Hier, Träger, geben Sie dem Herrn den Ring!« rief sie, indem sie dem Mann das Schmuckstück und einen Schilling einhändigte. »Warum fährt er denn nicht los?« fragte sie ungeduldig, während die Droschke unbeweglich am Platze verharrte und der Gepäckträger mit der Hand an der Mütze erwartungsvoll dastand.

»Wohin, Miß?«

»Bond Street!« rief sie. »So schnell wie möglich! Er soll nur schon losfahren!«

»Bond Street!« brüllte Jack dem Kutscher mit Kommandostimme zu. »Schnell fahren – doppelte Taxe – prestissimo!« Und das Hansom jagte aus dem Stationsgebäude, als ob das Pferd plötzlich Jacks Energie im Leibe hätte.

»Die Dame hat mir dies für Sie gegeben,« meinte der Gepäckträger.

»Jawohl,« entgegnete Jack, »danke schön.«

Es war ein altmodischer Ring mit einem Diamanten und drei Smaragden – zu eng für seinen kleinen Finger. Er steckte ihn in die Tasche und überlegte, was er nunmehr anfangen sollte, als der alte Herr – offenbar ohne alle Ungeduld und Mäkelsucht, aber bleich und erregt – auf ihn zukam und ängstlich fragend um sich her blickte. Als er Jacks ansichtig wurde, machte er eine Bewegung, als ob er sich ihm nähern wollte; dann aber zuckte er zurück und setzte seine Nachforschungen in einer anderen Richtung fort. Jack verspürte etwas wie Gewissensbisse; des alten Herrn erregte Gesichtszüge nahmen einen Ausdruck von Kummer und Sorge an. Die Menschenmasse und das Gedränge begann sich zu verlaufen; bald war es ein leichtes, alle Passagiere, die noch auf dem Bahnsteig zurückblieben, einzeln zu prüfen. Jack zog es vor, sich auch zu entfernen, um nicht in die Versuchung zu geraten, dem alten Herrn die Fahrtrichtung der jungen Dame zu nennen. Kaum aber hatte er einige Schritte getan, als er plötzlich eine Stimme hinter sich hörte:

»Dies ist er, mein Herr.«

Er wandte sich um und sah sich Auge in Auge mit dem alten Gentleman. Der Gepäckträger stand daneben und sagte:

»Woher sollte ich das denn ahnen? Ich sehe den Herrn mit Ihnen in einem Coupé – und nachher sehe ich die Dame mit ihm sprechen. Sie hat Geld von ihm genommen und ihm dann einen Ring gegeben – wie ich Ihnen ja schon gesagt habe. Hätten Sie das Gepäck mir überlassen, anstatt hinterher und an den verkehrten Gepäckwagen zu laufen – dann wären Sie sie nicht los geworden.«

»Gut, das genügt.«

Der Gepäckträger tat, als ob er sich zurückziehen wollte, blieb aber doch noch in Hörweite stehen.

»So, mein Herr,« begann der alte Gentleman von neuem, indem er sich an Jack wandte, »so – jetzt weiß ich, was Sie sind. Wenn Sie mir nicht augenblicklich – augenblicklich, Namen und Adresse des Theatergesindels nennen, dessen Schlepper und Zutreiber Sie sind – beim – beim – beim Allmächtigen, ich übergebe Sie dem nächsten Polizisten.«

»Ich will Ihnen etwas sagen, mein Herr,« entgegnete Jack in rauhem Tone, »wenn Ihnen Ihre Tochter davongelaufen ist, so sind Sie selbst daran schuld, weil Sie sie nicht freundlich behandelt haben. Der Gepäckträger hat Ihnen ja erzählt, was zwischen uns beiden vorgegangen ist. Ich weiß nicht mehr von der ganzen Geschichte als er.«

»Das glaube ich nicht! Sie sind ihr von Windsor her schon gefolgt. Der Träger hat es gesehen, wie Sie ihr –« der alte Herr zuckte stockend zusammen – »hat gesehen, was hier soeben vor sich gegangen ist.«

»Jawohl, jawohl – Sie lassen Ihre Tochter ohne einen Penny in der Tasche stehen und zwingen sie auf diese Weise, ihre Schmuckstücke einem Fremden auf einer Eisenbahnstation zum Verkauf anzubieten. Bei meiner Seele – Sie sind mir der Rechte, auf ein junges Mädchen aufzupassen.«

»Meine Tochter ist außerstande, einen Fremden anzureden. Sie stehen im Dienste irgendeines jener verfluchten Theateragenten, mit denen sie korrespondiert hat. Aber ich werde Ihnen schon die Maske vom Gesicht reißen, mein Freund – ich werde Ihnen schon die Maske vom Gesicht reißen!«

»Wenn Sie nicht ein unverbesserlicher, verdrehter Hanswurst wären,« entgegnete Jack mit verhaltener Hitze, »so würden Sie nicht einen Mann des Genies für einen Seelenverkäufer halten. Sie sollten sich schämen, sich so hinreißen zu lassen. Sie verursachen schon einen Menschenauflauf. Wollen Sie es dem ganzen Eisenbahnpersonal unter die Nase reiben, daß Sie Ihre Tochter in die weite Welt hinausgetrieben haben?«

»Sie lügen, Sie Halunke!« schrie der alte Herr, indem er ihn beim Kragen packte, »Sie lügen! Wie können Sie es wagen, Sie – Sie pockennarbiger Schuft – wie können Sie sagen, daß ich meine Tochter in die weite Welt hinausgejagt habe? Ich bin stets gut und freundlich zu ihr gewesen – mehr als irgendein Vater – sie war mein Lieblingskind. Wenn Sie diese Verleumdung noch einmal wiederholen, so werde ich – so werde ich –« Er hielt Jack seine Faust drohend vors Gesicht und ließ ihn dann los.

Jack, der die Umklammerung seines Halses ohne eine Bewegung still hingenommen hatte, wandte sich empört ab und knöpfte seinen Rock zu. Und als der andere wieder von neuem beginnen wollte, schnitt er ihm das Wort ab, indem er eilig davonging. Der alte Herr folgte ihm auf dem Fuß.

»Damit, daß Sie davonlaufen, entwischen Sie mir nicht!« rief er nach Atem ringend.

»Sie haben mich beleidigt,« entgegnete Jack. »Wenn Sie noch ein einziges Wort an mich richten, übergebe ich Sie der Polizei. Da ich mich nicht selbst gegen einen Mann Ihres Alters verteidigen kann, so werde ich das Gesetz zu meiner Verteidigung anrufen.«

Der alte Herr zögerte, dann leuchteten seine Augen auf, und er sagte:

»So rufen Sie meinetwegen die Polizei – rufen Sie sie schnell! Sie tragen einen Ring von mir mit sich herum – ein Erbstück meiner Familie. Sie sollen Rechenschaft darüber ablegen. Ha – jetzt habe ich Sie, Sie Vagabund!«

»Quatsch!« entgegnete Jack, nachdem er sich von seinem momentanen Schrecken erholt hatte. »Sie hat mir den Ring durch den Gepäckträger zugeschickt, wenngleich ich ihn vorher zurückgewiesen hatte. Da könnte ich sie ebensogut beschuldigen, sie hätte mir mein Geld gestohlen.«

»Ihr Geld sollen Sie gleich wieder haben,« entgegnete der unglückliche Alte tief errötend, indem er seine Börse hervorzog. »Wieviel haben Sie ihr gegeben?«

»Woher soll ich das denn wissen?« entgegnete Jack voller Verachtung. »Was ich Frauen, die in der Not sind, gebe, das überzähle ich nicht. Ich habe ihr alles gegeben, was ich gerade in meiner Tasche fand. Sind Sie bereit, mir das zu geben, was Sie in Ihrer finden können?«

»Tod und Teufel! Sie sind ein unglaublich frecher Schwindler!« rief der alte Herr, indem er ihm einen Blick kaum bezeichenbarer Gefühle zuwarf.

»Vorwärts, vorwärts, meine Herren,« mahnte ein Beamter, der sich zwischen sie drängte. »Könnten Sie Ihre kleinen Meinungsverschiedenheiten nicht anderswo regeln?«

»Ich bin ein Passagier,« erklärte Jack, »und ich bemühe mich, aus dem Stationsgebäude herauszukommen. Wenn es Ihres Amtes ist, hier Ordnung aufrechtzuerhalten, dann bitte ich, mich vor der Aufdringlichkeit dieses Herrn zu schützen. Er hat mich unaufhörlich belästigt – von dem Augenblick an, wo der Zug aus Slough abgefahren ist.«

»Ich bin in der denkbar traurigsten Lage,« meinte der alte Herr mit sichtbarer Bewegung. »Ich habe mein Kind verloren – und dieser Mensch kennt ihren Aufenthaltsort. Er will mir nichts sagen und ich – ich weiß nicht, was ich machen soll.«

Mit einem erneuten Zornesausbruch wandte er sich an Jack: »Zum allerletztenmal, Sie Halunke, wollen Sie mir jetzt sagen, bei wem Sie angestellt sind?«

»Zum allerletztenmal,« entgegnete Jack, »ich werde Ihnen nichts sagen, weil ich Ihnen nichts zu sagen habe. Sie wollen mir nicht glauben – ich halte das für eine gottvergessene Unverschämtheit. Sie reden von Angestelltsein und nennen mich einen Schlepper und Zutreiber – ich glaube, Sie sind verrückt!«

»Sie sind kein Theateragent? Antworten Sie!«

»Nein, ich bin kein Theateragent. Ich habe es Ihnen ja schon vorher gesagt – ich bin Komponist und Musiklehrer. Falls Sie irgendwelche Schüler für mich haben, so werde ich sie mit Vergnügen unterrichten. Wenn nicht, so gehen Sie Ihrer Wege und lassen Sie mich meiner Wege gehen. Ich habe jetzt genug von Ihnen.«

»Da haben Sie's ja, mein Herr,« mischte sich der Beamte ein. »Der Gentleman kann Ihnen nicht anständiger antworten, als er's tut. Wenn Sie irgendeine Beschuldigung gegen ihn vorbringen können, dann bringen Sie sie vor. Wenn nicht, dann sollten Sie, wie er sagt, lieber machen, daß Sie weiterkommen. Ich werde Ihnen eine Droschke rufen lassen – und dann können Sie der jungen Dame nachfahren. Das ist das beste, was Sie tun können. Während Sie hier herumreden, kann sie Ihnen schon bis nach Schottland fahren. Bill, schicken Sie uns, bitte, ein Hansom her!«

Der Beamte legte dem unglücklichen alten Mann, der mit bebenden Lippen noch immer zögerte, freundlich zuredend die Hand auf den Arm.

»Hören Sie,« begann Jack mit einem plötzlichen Anflug von Würde. »Bei meiner Ehre, ich stehe Ihrer Tochter und ihren Angelegenheiten vollkommen fremd gegenüber. Sie kennen alles, was zwischen uns vorgegangen ist. Wenn Sie mich nicht aus dem Gesicht verlieren wollen, so geben Sie mir bitte Ihre Karte. Ich werde Ihnen dann meine Adresse zukommen lassen, sobald ich eine habe.«

»Ich ersuche Sie – ich – ich flehe Sie an, diese Geschichte mit mir nicht zu leicht zu nehmen,« entgegnete der unglückliche Alte, indem er seine Visitenkartentasche hervorzog. »Es wäre sehr – sehr herzlos von Ihnen. Wenn Sie im Besitz irgendeiner Auskunft sind – wenn Sie eine erlangen können – Sie sollen ausgiebig dafür bezahlt werden – sehr ausgiebig dafür bezahlt werden.«

Jack war von neuem beleidigt, sah ihn voller Verachtung an, riß ihm die Karte aus der Hand und drehte sich auf dem Hacken um. Der alte Mann sah ihm sehnsüchtig nach; er seufzte, ein Schauer lief ihm über den Leib. Dann stieg er in die Droschke.

Auf der Karte stand: Mr. Sigismund Brailsford, Kensington Palace Gardens.


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