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Fünftes Kapitel

Zwei Wochen später hielten sich die Sutherlands in Mrs. Beattys Begleitung auf ihrem Wege nach der Isle of Wight wieder in London auf. Man war dahin übereingekommen, daß Herbert auf einen Monat mit seiner Mutter nach Ventnor gehen sollte, damit Mary mit ihm zusammen die Insellandschaften skizzieren könnte. Dieser Verabredung hatte er sich anfangs auf Grund der Tatsache widersetzt, daß die Gegenwart seiner Mutter ihm den Genuß seines Aufenthaltes beeinträchtigen würde; Mary aber, die ihre Mutter als kleines Kind verloren hatte, nährte allerhand Ideen über Mutterliebe, denen zufolge Adrians unkindliche Empfindungen sie peinlich berührten. Sie drang in ihn, nach Ventnor zu kommen; und er gab ihr nach, da ihn die Aussicht, an ihrer Seite arbeiten zu können, sehr reizte, und er auch annahm, die Gesellschaft seiner Mutter, sobald sie ihm lästig werden sollte, leicht vermeiden zu können.

Eines Tages – als sie sich in London in ihrem Hotel in Onslow Gardens aufhielten – überraschte Mr. Sutherland seine Tochter in Hut und Mantel. Er fragte sie daher, wohin sie gehen wolle.

»Zu Brailsfords,« sagte sie. »Ich will Madge besuchen.

»Jetzt möchte ich nur wissen, was du dort zu suchen hast,« mäkelte Mr. Sutherland. »Dein Verkehr mit diesem Mädchen paßt mir nicht.«

»Warum nicht, Papa? Hast du Angst, sie könnte mich dazu bewegen, durchzubrennen und zur Bühne zu gehen?«

»Ich habe nichts dergleichen gesagt. Immerhin aber kann sie kein besonders rechtlich denkendes junges Mädchen sein – sonst würde sie es wohl selbst nicht schon getan haben. Indes – ich habe nichts dagegen, wenn du der Familie einen Besuch machst. Es sind sehr nette Leute, und sie haben gute Beziehungen. Außerdem ist Mr. Brailsford ein kluger Mann. Suche dir aber Madge nicht zur Busenfreundin aus.«

»Dazu werde ich wohl keine Gelegenheit haben – leider. Arme Madge, kein Mensch hat ein gutes Wort für sie.«

Mr. Sutherland ließ eine Reihe recht wenig schmeichelhafter Epitheta vom Stapel. Mary aber ging hinaus, ohne ihnen sonderlich viel Beachtung zu schenken. Sie fand Madge allein zu Hause.

»Sie sind alle aus,« meinte Magdalen, sobald Mary sie zur Genüge abgeküßt hatte, »sie machen Besuche oder Einkäufe oder sonst irgend etwas von gleichem intellektuellen Wert. Ich lebe nach der allgemeinen Ansicht in Ungnade, und so werde ich nie zum Mitgehen aufgefordert. Und da ich mich ihnen nicht anschließen würde, selbst wenn sie mich auf den Knien darum bäten, so trage ich meine Strafe mit Mut.«

»Was hast du denn eigentlich angestellt, Madge? Willst du's mir nicht erzählen? Tante Jane meinte, ihr Gewissen gestatte es ihr nicht, eine derartige Geschichte in meine jugendlichen Ohren zu träufeln. Und dann weigerte ich mich natürlich, die Sache von irgend jemand als von dir selbst zu erfahren – zu Tante Janes größtem Ärger. Sie brannte darauf, mir alles haarklein mitzuteilen. Mit Ausnahme der Tatsache, daß du durchgebrannt und zur Bühne gelaufen bist, weiß ich nichts.«

»Mehr gibt es auch nicht zu wissen; das ist alles, was passiert ist.«

»Wie ist denn das alles vor sich gegangen?«

»Versprichst du mir, nichts weiterzuerzählen?«

»Feierlich!«

»Du mußt dein Versprechen halten. Ich habe Helfershelfer, auf die noch kein Verdacht gefallen ist, und die mir helfen werden, wenn ich die Tat noch einmal vollbringe – wozu ich fest entschlossen bin, sobald ich nur meinen Weg zu einem erfolgreichen Abschluß vor mir sehe. Weißt du, wo wir gewohnt haben, ehe wir in dies Haus gezogen sind?«

»Nein, solange ich dich kenne, habt ihr immer hier gewohnt.«

»Früher lebten wir in Gower Street. Mary – bist du jemals in einem Omnibus gefahren?«

»Nein – aber ich würde mich nicht im geringsten schämen, wenn sich die Gelegenheit irgendwie bieten sollte.«

»Wie würde es dir gefallen, wenn du mit einer Garderobe, die fünf Pfund gekostet hat, zwei Jahre reichen müßtest?«

»Das würde mir gar nicht gefallen.«

»Viele Leute müssen es. Wir mußten auch – als wir in Gower Street wohnten. Papa schrieb damals für die Zeitungen, und wir hatten niemals Geld im Hause und immer Schulden. Aber wir gingen ins Theater – auf Freibillets natürlich – viel öfter als wir jetzt gehen. Und dann gingen wir zu Fuß nach Hause, oder wir nahmen unsern Wagen, den Omnibus. Wir waren sinnlos verschwenderisch und dachten uns gar nichts dabei, wenn wir einen Schilling für Blumen oder für Papierfächer zur Zimmerdekoration verschleuderten. Ich bin sicher, wir haben ein Vermögen für Drei-Penny-Kretonne ausgegeben, um die Möbel zu überziehen, als ihr schäbiges Aussehen einfach unanständig wurde. Mit besonderer Vorliebe verweilten wir in Gedanken bei der leichtsinnigen Art, wie wir das Geld zum Fenster hinauswerfen wollten, sobald Papa in den Besitz der Brailsfordschen Güter kommen würde – was übrigens von allen Dingen das Unwahrscheinlichste war. Und dann kam es doch so – wie eben unwahrscheinliche Dinge oft geschehen. Der ganze Rest der Familie – ich meine, soweit sie für uns in Frage kam – ertrank im Solent bei einem Jachtunglück. Plötzlich waren wir sehr reich, und wie du wohl – besonders bei Myra – bemerkt haben wirst, sehr filzig. Nur der arme Papa, den wir in Gower Street als einen eingefleischten Geizhals zu schmähen pflegten, ist jetzt der einzige von uns, der Geld ausgibt, als ob er zu hoch darüber stünde, ihm irgendwelchen Wert beizumessen. Das Schlimmste bei der Sache aber ist, daß wir angesehene Leute geworden sind und an der Gesellschaft Gefallen gefunden haben – wenigstens hat sie an uns Gefallen gefunden. Für dies Entgegenkommen haben wir uns denn auch erkenntlich gezeigt und es erwidert. Ich kann diese Leute in Kensington mit ihrer Tanzerei und ihren jours fixes nun einmal nicht vertragen. Das ist so gar nicht, was ich wirklich leben nenne. In Gower Street verkehrten wir mit einigen Leuten, die allerhand Ideen im Kopfe hatten. Natürlich versuchten wir uns auch damals schon ein gewisses Ansehen zu geben. Am Sonntagabend aber pflegten wir alle möglichen Leute zum Abendessen bei uns zu sehen, mit denen man hier wohl kaum zusammentrifft. Einer von ihnen war ein Mann namens Tarleton, der abwechselnd als Theateragent Geld verdiente und es als Direktor wieder verlor.«

»Und in den hast du dich natürlich verliebt,« warf Mary ein.

»Blech! Ich sollte mich in den alten Tommy Tarleton verlieben! Was ich hier erzähle, ist ja kein Roman, sondern eine höchst prosaische Geschichte aus der Gower Street. Seitdem wir hierher gezogen sind, habe ich nicht mehr an ihn gedacht – bis vor einem Monat, als ich las, daß er mit einem Ensemble nach Windsor gegangen war. Ich wollte immer zur Bühne gehen – heutzutage muß ein Weib nun einmal eine Schauspielerin sein oder nichts. Und daher habe ich mich brieflich an ihn wegen eines Engagements gewandt und ihm meine Photographie geschickt.«

»Oh Gott, Madge!«

»Warum denn nicht? Seine Gesellschaft gab Operetten. Ich wußte, daß er auf gutes Aussehen ebensoviel gab wie auf Talent. Du bildest dir doch nicht ein, daß ich ihm mein Bild als ein Liebespfand geschickt habe? Er antwortete mir, daß er keine Rolle frei hätte, die ich übernehmen könnte – wenn ich mich aber an die Bühne gewöhnen und selbst für meine Kostüme sorgen wollte, dann würde er mich allabendlich im Chor herausbringen und mir vielleicht auch gelegentlich eine kleine Rolle übergeben, die ich in zweiter Besetzung studieren könnte.«

»Das muß ich sagen – wirklich ungeheuer nett von ihm. Und was hast du auf sein edelmütiges Anerbieten geantwortet?«

»Ich habe es angenommen und war herzlich froh darüber. Es war immer noch besser, als hier herumzusitzen und sich mit den Mädels zu zanken. Oder mit Papa immer denselben Gesprächsstoff über die Schande, die ich der Familie bereite, abzuleiern. Im übrigen habe ich die Sache sehr einfach in Szene gesetzt. Ich kenne eine Frau, die in Church Street eine Pension hat. Sie ist eine Schwester der Wirtin in Gower Street und kennt unsere Verhältnisse ganz genau. Sie hat noch eine zweite Schwester, die Ballettänzerin ist und über Theaterangelegenheiten alles genau weiß. Ich brannte nach Church Street durch – fünf Minuten Wegs; erzählte Polly, was ich gemacht hatte. Dann ließ ich Mrs. Wilkins holen, die andere Schwester, und nahm sie noch am selben Abend mit mir als Gardedame nach Windsor. Das Ensemble stellte sich als sehr dritter Klasse heraus. Ich habe mich unter den Leuten nicht sehr wohl gefühlt; sie waren ziemlich rauhbeinig. Ich bin also nicht sehr lange dabei geblieben. Schon bei der ersten Vorstellung wurde ich erkannt – ich weiß nicht mehr, von wem – und es wurde Oberst Beatty alles brühwarm erzählt. Er schrieb meinem Vater – am dritten Tage wurde ich wieder eingefangen. Du kannst dir ja die Szene ungefähr vorstellen, als der arme alte Papa plötzlich in unsere Wohnung eintrat. Er befleißigte sich, möglichst finster und beleidigt zu sein, und brachte es natürlich nur zu einem Wutausbruch. Ich war hartnäckig – ich kann sehr bockbeinig sein, wenn ich will – aber ich hatte es schon satt, abends im Chor spazieren zu gehen und den ganzen Tag mit Mrs. Wilkins zu verbringen. Und so erklärte ich mich einverstanden, mit ihm wieder nach Hause zu kommen. Er nahm mein Portemonnaie an sich – ich war so unklug gewesen, das Ding, während ich mir meinen Hut aufsetzte, in erreichbarer Weite liegen zu lassen – und so war ich ihm denn ohne einen Heller auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Er wollte mir mein Geld nicht zurückgeben. Und dann verbot er mir überhaupt das Sprechen. Ich nahm ihn beim Wort und machte ihn noch wütender, indem ich auf seine Kanzelreden über Pflicht und Anständigkeit, die er auf unserer Fahrt zur Eisenbahnstation losließ, überhaupt nicht achtete.«

»Ja, das kann ich mir alles ganz gut vorstellen. Und schließlich bist du also wieder nach Haus gekommen und wandelst wieder auf den Wegen braver Mägdelein mit einem guten Betragen.«

»Ganz und gar nicht! Du hast bis jetzt nur den Prolog zu meiner eigentlichen Abenteuergeschichte gehört. Als wir zur Station gelangten, kaufte Papa sich den Schaffner, damit er niemand in unser Coupé einsteigen lassen sollte; er hatte sich vorgenommen, mir während der ganzen Reise eine Predigt zu halten. Der Zug setzte sich in Bewegung; an mich war gerade die Aufforderung ergangen, einer sehr ernsten Sache, die mir gesagt werden mußte, Gehör zu schenken, als plötzlich sich ein Gelärm auf dem Bahnsteig erhob und ein Mann kopfüber in unser Coupé hineinstürzte. Er setzte sich hin – kreuzte die Arme – und beäugte Papa voll Majestät, da dieser ihn wütend wegen seiner zudringlichen Störung zu beschimpfen begann. Sie haben sich auf der ganzen Reise bis nach London gezankt. Nachdem sie das Thema des reservierten Coupés bis auf die Neige erschöpft hatten, weigerte der Fremde sich plötzlich, das Fenster schließen zu lassen – ich glaube, weil ich es gerade vorher ebenso gemacht hatte – aus Widerspruchsgeist. Dann hatte Papa etwas dagegen einzuwenden, daß er mit den Zähnen knirschte. Darauf mischte ich mich hinein und erhielt den Befehl, den Mund zu halten. Sprang doch der Mann in die Höhe und fragte Papa, was er sich eigentlich dabei dächte, in solchem Tone mit mir zu sprechen! Er sagte sogar – du wirst dies doch niemandem wiedererzählen, nicht wahr – bitte, Mary –«

»Nein. Wieso? Was hat er denn gesagt?«

»Er sagte – es klang ganz lächerlich – er würde es nicht zugeben, daß ein junges und schönes Weib tyrannisiert würde.«

»Ach – war er sehr hübsch?«

»N–nein. Er war nicht, was man im allgemeinen hübsch nennt; aber er hatte etwas Eigenartiges an sich – etwas, was ich nicht so recht beschreiben kann. Es war so eine Art latenter Kraft. Im übrigen ist es ja auch ganz gleichgültig, da ich ihn wahrscheinlich doch nicht wiedersehen werde.«

»Ich glaube, ich verstehe, was du sagen willst,« meinte Mary nachdenklich. »Es gibt Menschen, die allgemein für sehr häßlich gelten, die uns aber viel mehr auffallen als schöne Leute. Man findet das oft bei Künstlern.«

»Von deinem Adrian hatte dieser Mann dabei aber eigentlich gar nichts, Mary. Es gibt keine zwei Menschen, die verschiedener sein können.«

»Ich weiß, ich weiß – ich dachte auch an jemand, der ganz verschieden von ihm ist.«

»Papa redet von ihm, als ob er ein Ungeheuer wäre – aber das ist lauter Unsinn.«

»Na, und was war denn das Endresultat seiner Einmischung?«

»Oh – zuerst glaubte ich, es würde zu einer Prügelei kommen. Papa würde täglich ein Duell ausfechten, wenn sie noch in Mode wären. Der Fremde aber ließ eine geradezu bewunderungswürdige Rede los, aus deren Inhalt ich erkannte, daß seine Ansichten genau dieselben waren wie meine – und Papa wußte ihm nichts zu antworten. Dann warfen sie sich gegenseitig Verrücktheit vor und fuhren fort, allerhand Beleidigungen auszutauschen, bis wir nach Paddington gelangten. Hier wollte der Zugführer den Mann der Polizei übergeben, weil er auf den Zug gesprungen war, als dieser sich schon in Bewegung gesetzt hatte. Schließlich stiegen wir alle aus. Und nun beging ich mein Kapitalverbrechen – eigentlich war es auch entsetzlich. Von dem Augenblick an aber, wo Papa mir mein Portemonnaie weggenommen und eine Gefangene aus mir gemacht hatte, war ich mit mir zu Rate gegangen, wie ich Papa entwischen und nach Haus kommen konnte, wie und wann es mir gefiel. Außerdem war ich fest entschlossen, mich bei einem Londoner Agenten um ein regelrechtes Engagement zu bemühen. Als Papa daher in Wut geriet, weil mein Koffer nicht gleich gefunden werden konnte – als er sich selbst danach auf den Weg machte und mich allein zurückließ – da kam mir auch gleich wieder der Gedanke, durchzubrennen und sofort den Agenten aufzusuchen. Zwanzigmal in jeder Sekunde faßte ich einen Entschluß und ließ ihn wieder fallen. Hätte ich mein Portemonnaie gehabt – ich hätte keinen Augenblick gezögert. Wie aber die Dinge lagen, besaß ich nur meinen Ring, und hätte die Droschke beim ersten Versatzgeschäft halten lassen müssen. Ich schämte mich, ein solches Lokal aufzusuchen – wenngleich wir früher, ohne Papas Wissen, Mrs. Wilkins hinzuschicken pflegten – damals in den Tagen von Gower Street. Dann kam der Gepäckträger und sagte, die Droschke wäre da. Ich wußte, er würde auf der Stelle etwas von mir erwarten, wenn ich allein fortfuhr. Was glaubst du nun, was ich gemacht habe? Ich ging geradeswegs auf den Mann zu, der mit uns zusammen gefahren war – er stand ganz in der Nähe und beobachtete mich, ich glaube wenigstens – und ersuchte ihn, mir meinen Ring abzukaufen.«

»Nein – wirklich, Madge – das muß ich aber sagen ...«

»Es war ein momentaner Impuls. Ich weiß nicht, wie ich eigentlich auf den Gedanken kam, aber die unumgängliche Notwendigkeit, den Gepäckträger bezahlen zu müssen, drängte mich unwiderstehlich dazu, meiner plötzlichen Regung zu folgen. Ich sagte also, ich hätte kein Geld, und bat um etwas als Gegenwert für meinen Ring. Der Mann sah mich mit einem geradezu schreckenerregenden Blick an. Gerade in dem Augenblick, wo ich glaubte, er würde mich zu packen kriegen und Papa ausliefern, fuhr er in seine Tasche und gab mir eine Handvoll Geld. Er wollte es nicht nachzählen, noch den Ring überhaupt anfassen. Ich bestand darauf, daß er entweder das Geld behalten oder den Ring annehmen sollte – als er mir plötzlich zurief, Papa käme, und mich wie ein Bündel in die Droschke schob, ehe ich meine fünf Sinne wieder beieinander hatte. Dann brachte er den Kutscher mit einem anderen lauten Ausruf in Bewegung – und fort ging's. Aber es gelang mir doch noch, dem Gepäckträger den Ring für den Unbekannten einzuhändigen. Ich fuhr also zu den Agenten in Bond Street und überzählte das Geld auf der Fahrt. Zwei Pfund, zwei halbe Sovereigns, dreizehn Schilling und einen halben Schilling in Silber und sieben Kupferpennys.«

»Vier Pfund, vier Schilling und einen Penny!« rief Mary. »Er muß von Sinnen gewesen sein. Aber es lag doch etwas unverkennbar Ritterliches in seiner ganzen Art und Weise – besonders für ein Eisenbahnabenteuer des neunzehnten Jahrhunderts.«

»Ich glaube, es war reine, unverfälschte, angeborene Herzensvornehmheit, Mary. Papa macht mich immer ganz wild, wenn er sagt, er wäre ein Gauner gewesen und hätte mindestens fünfzig Pfund an meiner Unwissenheit verdient. Als ob seine Weigerung, den Ring anzunehmen, nicht ein unumstößlicher Beweis fürs Gegenteil gewesen wäre! Nachher erfuhr er dann unsere Adresse von Papa und versprach uns seine zuzuschicken. Er hat es aber doch nicht getan.«

»Warum wohl nicht? Es wäre doch sicherlich seine Pflicht. Dein Ring ist doch viel mehr wert als vier Pfund.«

»Vielleicht, daß er ihn Papa nicht einhändigen will – da er doch mein Eigentum war. Wenn er ihn behält – mir soll's recht sein. Verdienen tut er ihn gewiß. Bedenke – er hat ihn zurückgewiesen, nachdem er mir schon das Geld gegeben hatte.«

»Wenn deine Nase so wäre wie meine, und wenn du ein Pincenez trügst – ich möchte zweifeln, ob er sich dann ebenso edelmütig benommen hätte. Ich glaube, er hat sich in dich verliebt.«

»Unsinn! Hat man denn jemals etwas von einem Mann gehört, der all sein Geld – vielleicht alles, was er auf Gottes weiter Welt besaß – der Liebe zum Opfer gebracht hätte? Ich weiß nur zu gut, wie die Männer sind. Außerdem ist er mir im Coupé einmal wirklich ganz grob gekommen.«

»Wie dem auch sein mag – da er den Ring nun einmal hat und ihn auch zu behalten beabsichtigt – so hat er doch einstwellen das bessere Geschäft gemacht. Fahre jetzt erst einmal mit deinen eigenen Erlebnissen fort. Was haben denn die Agenten gesagt?«

»Sie haben mir alle eine halbe Krone abgenommen und meinen Namen in ihren Büchern notiert. Sie wollen mir schreiben, falls sie mir ein Engagement verschaffen können. Ich habe mich aber gleich auf den ersten Blick überzeugt, daß nur sehr wenig Aussicht vorhanden ist. Sie sind alle sehr freundlich und liebenswürdig – wenigstens hielten sie sich dafür – mit Ausnahme von einem verdrießlichen alten Herrn, der mich fragte, was ich eigentlich erwartete, wenn ich weder richtig gehen noch sprechen könnte. Diese Frage und meine Bühnenerfahrungen in Windsor haben mir die Überzeugung beigebracht, daß ich erst etwas lernen muß. Und ich habe daher Mrs. Simpson, die Frau aus der Church Street, damit beauftragt, jemanden ausfindig zu machen, der mich unterrichten kann. Um also mit meiner Geschichte zu Ende zu kommen – als ich sah, daß ich an dem Tage und auch am folgenden nichts mehr für mich tun konnte, ließ ich mich nach Haus fahren. Hier fand ich Papa halb aufgelöst und einer Ohnmacht nahe. Sie waren alle so gehässig, daß Papa sich schließlich auf meine Seite stellte. Die arme Mama bemühte sich vergebens, den Frieden aufrechtzuerhalten. Nach und nach zogen sie sich heulend zurück und ließen mich mit Papa allein. Ich glaube, wir sind ihnen nichts schuldig geblieben – wenigstens ist seitdem meine Ausreißerei nie wieder mit einem Worte erwähnt worden.«

Mary betrachtete ihre Freundin eine Weile forschend, dann sagte sie: »Madge, du bist total übergeschnappt. Jetzt ist kein Zweifel mehr möglich. Die Episode mit dem Ring erledigt die Frage ein für allemal. Ich glaube fast, du hältst diese Tollhäuslergeschichte für das denkbar Einfachste und Natürlichste auf der ganzen Welt.«

»Wenn ich einmal einen Entschluß gefaßt habe, dann scheint es mir auch das Allernatürlichste auf der Welt, mich auf den Weg zu machen und ihn in die Tat umzusetzen. Ich hoffe doch, du wirst mir jetzt nicht eine Predigt halten, weil ich mir einen Beruf suche – nach allen deinen begeisterungsvollen Reden über die hohe Kunst und dergleichen mehr?«

»Die Operette ist aber keine hohe Kunst, Madge. Wärst du in einer von Shakespeares Rollen herausgekommen – dann hätte ich mit dir sympathisieren können.«

»Jawohl – mich als eine Dilettantin lächerlich machen! Mir steht ebensowenig der Sinn danach, Shakespeare darzustellen, wie dir, himmelfahrende Madonnen zu malen. Fange nur jetzt um Gottes willen keine Vorlesung über Kunst an. Ich habe in letzter Zeit soviel Vorlesungen zu hören bekommen, daß es für mein ganzes Leben reicht.«

»Und du denkst wirklich daran, dabei zu bleiben?«

»Jawohl – und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Ja, mein Gott – wenn du Talent hättest, was ...«

»Was du bezweifelst – wenngleich du an deinem eigenen Traum, ein zweiter Claude Lorrain zu werden, nichts Lächerliches finden kannst. Du bist genau so wie Myra mit ihrer Leib- und Magenredensart: ›Was das nur für ein Gedanke ist, Madge – als ob du imstande wärst, Komödie zu spielen!‹ Warum soll ich nicht ebensogut Komödie spielen können wie irgend jemand sonst? Versuchen werde ich es auf jeden Fall.«

»Du brauchst mit mir nicht böse zu werden, Madge. An deiner Begabung zweifle ich ja nicht – aber die Lebensweise einer Schauspielerin muß doch recht sonderbarer Art sein. Auch habe ich niemals behauptet, so zu malen wie Claude Lorrain. Wenn du wüßtest, wie jämmerlich mir meine eigenen Produktionen vorkommen, du würdest ...«

»Jawohl, jawohl! Ich kenne das ganze Adriansche Gewäsch schon auswendig. Wenn dir deine Malereien selbst nicht gefallen, so kannst du dich darauf verlassen, daß sonst auch niemand Gefallen daran findet. Ich will Schauspielerin werden, weil ich mir denke, daß ich Komödie spielen kann. Du willst Malerin werden, weil du meinst, daß du nicht malen kannst. So – und damit ist der Vorfall erledigt. Paßt es dir, mit mir zu Polly hinüberzugehen?«

»Wer ist Polly?«

»Die Schwester unserer früheren Wirtin – meine Vertraute und Helfershelferin – die Frau, der die Pension in Church Street gehört – Mrs. Simpson.«

»Du willst doch nicht noch einmal durchbrennen?«

»Nein, wenigstens nicht fürs erste. Aber sie hat einen Mieter, der in der Vortragskunst unterrichtet, und da er sehr arm ist, so meinte Mrs. Wilkins – Pollys andere Schwester und meine Gardedame von neulich – er könnte mir vielleicht einige billige Unterrichtsstunden geben. Und ich muß billige Stunden haben – oder es sonst ganz sein lassen. Papa vertraut mir jetzt nämlich kaum einen Schilling an. Mein Portemonnaie hat er mir überhaupt nicht zurückerstattet. Ich besitze nur noch den Rest von dem Gelde, das mir der Mann gegeben hat – und zehn Pfund, die ich mir gespart hatte.«

»Willst du denn schon heute eine Stunde nehmen?«

»Nein, nein! Ich will nur mit dem Mann sprechen und ihn nach seinen Bedingungen fragen. Wenn ich den Versuch mache, allein zu gehen, so werde ich beobachtet und beargwöhnt. Mit dir zusammen kann mir nichts passieren. Du giltst für eine Säule der Vernunft und Wohlanständigkeit. Falls wir meinen Schwestern begegnen und sie fragen sollten, wohin wir gehen, dann sage, bitte, nichts von Church Street.«

»Wie können wir ihnen denn entwischen, wenn sie uns ausfragen?«

»Wir wollen ihnen gar nicht entwischen. Wir lügen ihnen einfach etwas vor.«

»Das tue ich auf keinen Fall, Madge!«

»Ich tue es ganz bestimmt. Wenn Leute mich in meiner Freiheit beschränken und Fragen stellen, die ihnen nicht zukommen, dann trete ich der Gewalt mit List entgegen. Ich narre sie, bis ihnen die Geduld beinah reißt – wie dein Freund Shakespeare sich ausdrückt. Du brauchst kein so verdutztes Gesicht zu machen. Du bist die Herrin in deinem Hause und regierst deinen Vater mit einer eisernen Rute – und daher kannst du meine Lage nicht beurteilen. Setze deinen Hut auf und komm mit! Wir sind in fünf Minuten zu Fuß da.«

»Ich will gern mit dir gehen – aber an irgendeiner Art Täuschung beteilige ich mich nicht.«

Madge zog ein Gesicht, aber sie holte sich ohne weitere Worte ihren Hut. Sie gingen zusammen von Kensington Palace Gardens zur Church Street; hier führte Madge Mary zu einem minderwertig aussehenden Hause, in dessen einem Fenster eine Tafel mit der Aufschrift ›Möblierte Zimmer‹ sichtbar war.

»Ist Mrs. Simpson in ihrem Zimmer?« fragte Magdalen, indem sie, sobald die Tür geöffnet wurde, ohne viel Umschweife eintrat.

»Jawohl, Madam,« entgegnete das Dienstmädchen nach Maßgabe einer Regel, derzufolge sie Frauen mit garnierten Hüten mit Madam und solche mit einfachen Matrosenhüten mit Miß anredete. »Seit Sie das letztemal hier waren, ist sie in den zweiten Stock hinaufgezogen. Der Salon ist vermietet.«

»Ich werde hinaufgehen,« sagte Magdalen. »Komm mit, Mary.«

Sie eilte die Treppe hinauf. Mary folgte ihr etwas langsamer. Das Haus schien ihr muffig und schlecht gehalten; sie raffte ihren Mantel eng an sich, damit er das Treppengeländer nicht berühren sollte. Als sie auf das zweite Stockwerk gelangten, klopften sie an die Tür. Niemand antwortete. Über ihnen befand sich noch ein Treppenabsatz, zu dem man über einige schmale Stufen, die kein Läufer bedeckte, hinaufgelangte. Vom dritten Stock her vernahm sie eine Unterhaltung; eine schrille Stimme vermischte sich mit einer tieftönenden. Während sie warteten, erhob sich die schrille Stimme zu immer höheren und höheren Fisteltönen; die tiefe Stimme versank in ein unheilvolles Geknurr.

»Ein liebliches Paar!« flüsterte Mary. »Wir sollten lieber wieder hinuntergehen und das Dienstmädchen damit beauftragen, Mrs. Simpson ausfindig zu machen.«

»Nein – warte einen Augenblick! Das ist Pollys Stimme – ich bin ganz sicher. Horch!«

Die Tür oben wurde heftig geöffnet. Die machtvollen Töne einer gewaltigen Stimme schlugen ihnen entgegen: »Hebe dich hinweg, du Isebell!«

»Der Mann!« rief Madge.

»Mr. Jack!« stöhnte Mary.

Sie sahen sich verwundert mit großen Augen an und horchten.

»Wie können Sie sich unterstehen, in solchem Tone mit mir zu sprechen, mein Herr? Wissen Sie, in wessen Hause Sie sich befinden?«

»Ich erkläre Ihnen hiermit ein für allemal, daß ich weder in der Lage noch gewillt bin, Ihnen einen roten Heller zu zahlen. Halten Sie Ihren Mund, bis ich ausgeredet habe!«

Dieser Befehl wurde durch ein dröhnendes Fußstampfen emphatisch begleitet, das den Boden erbeben machte. »Ich habe heute noch nichts gegessen – und ich habe keine Lust, Hungers zu sterben. Hier ist mein Hemd – hier ist meine Weste – Nehmen Sie das! Vorwärts, so nehmen Sie es doch! Oder ich werde es Ihnen ins Maul stopfen – Ihr Dienstmädchen soll dies versetzen. Sie hat das Hemd schon einmal versetzt. Und dann soll sie mir für das Geld etwas zu essen besorgen! Haben Sie mich gehört?«

»Ich will es nicht haben, daß mein Dienstmädchen für Sie fortwährend ins Leihhaus läuft – und mein Haus auf diese Weise in Verruf kommt.«

»Dann gehen Sie selbst hin und versetzen Sie's! Und dann betreten Sie dies Zimmer nicht wieder mit Ihren Drohungen und Klagen, sonst drehe ich Ihnen den Hals um.«

»Das möchte ich sehen – daß Sie Hand an mich legen sollten – an mich, eine verheiratete Frau! Sie nennen sich einen anständigen Herrn?«

Es folgte ein unbezeichenbares Gegrunze, der Klang eiliger Schritte, einige unartikulierte Erwiderungen, ein unterdrückter Schrei, dann ein Ausbruch lauten Schluchzens und schließlich die Worte: »Sie sind so hart wie ein Stein, Mr. Jack! Meine arme, kleine Rosie! Oh – oh – oh!«

»Hören Sie auf mit dem Lärm, Sie Krokodil! Was ist denn jetzt mit Ihnen los?«

»Meine Rosie – oh – oh – oh!«

»Was ist denn mit Ihrer Rosie? Sie heulen hier herum und wollen sie zurück haben, weil sie lieber auf dem Lande glücklich und zufrieden ist, als hier in Ihrer Bude zu ersticken, Sie widerhaarige alte Hexe!«

»Das Wort möge Ihnen Gott verzeihen – oh – oh – oh! Sie ist gar nicht auf dem Lande!«

»Wo, zum Teufel, ist sie denn? Was wollten Sie damit sagen, daß sie hier wäre?«

»Sie ist im Krankenhaus. Um Gottes willen lassen Sie darüber nichts laut werden, Mr. Jack, sonst kann ich noch das ganze Haus leerstehen haben. Das liebe kleine Kind hat Scharlach bekommen – oh – oh!«

»Sie sollten gehenkt werden, weil Sie's soweit haben kommen lassen, daß sie Scharlach gekriegt hat. Warum haben Sie nicht ordentlich auf sie aufgepaßt?«

»Was kann denn ich dafür, Mr. Jack? Glauben Sie mir's, wenn ich hätte Scharlach bekommen können, statt daß sie ...«

»Wollte Gott, Sie hätten nur Scharlach bekommen – und das unglückselige Kind und jedermann sonst wäre Sie auf diese Weise bequem los geworden.«

»Ach, sagen Sie das nicht, Mr. Jack. Ich mag ja etwas vorschnell zu Ihnen gesprochen haben, aber es ist sehr hart, wenn einem Geld geschuldet wird – und wenn ich für meinen geliebten Engel nicht die nötigen Kleider kriegen kann, damit ich sie aufs Land schicken kann – und am Freitag wird sie entlassen. Mit solchen Augen brauchen Sie mich nicht anzusehen, Mr. Jack! Sie wären der letzte auf dieser Welt, dem ich etwas vorlügen möchte.«

»Sie würden Ihrem eigenen Schutzengel etwas vorlügen – wenn Sie einen hätten – für einen Schilling würden Sie ihm etwas vorlügen. Geben Sie mir meine Sachen wieder! Da haben Sie einen Ring, den können Sie statt dessen versetzen! Er ist eine ganze Menge wert, glaube ich. Nehmen Sie sich das Geld, das Sie für das Kind brauchen, und bringen Sie mir den Rest. Hören Sie aber, was ich Ihnen sage: Nicht einen Heller davon sollen Sie für sich selbst haben – selbst wenn ich Ihnen die Miete für zehn Jahre schuldig wäre, würden Sie nichts für sich bekommen. Ich würde den Ring nicht versetzen, um Sie vor dem Hungertode zu bewahren. Und dann besorgen Sie mir etwas zum Mittagessen – und Notenpapier – dasselbe, was Sie mir schon früher gekauft haben – vierundzwanzig Linien auf der Seite. Machen Sie, daß Sie fortkommen. Was reißen Sie noch das Maul auf?«

»Großer Gott – wo in aller Welt haben Sie denn diesen Ring her, Mr. Jack?«

»Das geht Sie nichts an! Nehmen Sie ihn mit und beeilen Sie sich mit meinem Mittagessen!«

»Haben Sie ihn denn gekauft? Oder war er vielleicht ...«

Der Tonfall ihrer Stimme brach unvermittelt ab und verwandelte sich in eine gedämpfte, wohlwollende Form des Widerspruchs. Die Wirtin erschien auf dem Treppenabsatz; offenbar wurde sie von hinten an den Schultern geschoben. Und dann schlug die Zimmertür des Mieters knallend zu.

»Polly!« rief Magdalen ungeduldig. »Polly!«

»Großer Gott – Miß Madge!«

»Kommen Sie doch herunter. Wir haben schon zehn Minuten lang auf Sie gewartet.«

Mrs. Simpson kam herunter und führte ihre beiden Besucherinnen in ihr Wohnzimmer auf den zweiten Stock.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Miß?« wandte sie sich an Mary. »Ziehen Sie den Stuhl nicht von der Wand ab, Miß Madge. Das eine Bein ist abgebrochen. Ach Gott, ach Gott – ich habe viel Sorge und Kummer – immer gibt's was – bald dies, bald das.«

»Wir haben Ihr Wortgefecht mit Ihrem Mieter oben gehört,« meinte Magdalen. »Sie scheinen dabei den kürzeren gezogen zu haben.«

»Das glaubt kein Mensch, was ich mit dem Mann schon alles durchgemacht habe!« entgegnete Mrs. Simpson, indem sie sich die Augen trocknete. »Vor vierzehn Tagen – als ich nicht zu Haus war – ging er einfach, ohne irgend jemand um Erlaubnis zu fragen, oben in das Zimmer hinein. Um ein Uhr nachmittags klopfte er an die Tür und fragte das Dienstmädchen, ob die Dachkammer vermietet sei. ›Nein, mein Herr,‹ sagt sie. Er geht einfach hinauf und läßt sich häuslich nieder, als ob das ganze Haus ihm gehörte. Sie kannte ihn schon von früher – das können Sie sich ja denken. Aber das wäre nur noch ein Grund mehr gewesen, ihn nicht hineinzulassen. Er hat niemals einen roten Heller besessen. Das erste, was er tat, war, daß er sie mit seiner Uhr zum Versetzen wegschickte. Und was ich mir von ihm alles gefallen lassen muß! Er denkt an gar nichts anderes, als mir alle gewöhnlichen Schimpfworte beizulegen, die ihm auf die Zunge kommen – er wirft mich aus meinen eigenen Zimmern hinaus, als ob er ein Prinz wäre und ich seine Küchenmagd. Er ist stark wie ein Stier und kümmert sich um niemanden und um nichts – nur um sich selbst.«

»Was ist er denn?« fragte Magdalen. »Er heißt doch Jack, nicht wahr?«

»Jawohl. Vorigen Dezember kam er zum erstenmal her – zu meinem großen Unglück. Er mietete die Dachkammer für eine halbe Krone die Woche. Damals hatte er auch einen Handkoffer und etwas Kleingeld. Beinah einen ganzen Monat lang hat er sich ruhig verhalten. Er war meistens allein – nur die arme kleine Rosie ließ er in seinem Zimmer herumspielen. Er brachte ihr kleine Liedchen bei. Sie können sich gar nicht denken, was für ein putziges Kind sie ist, Miß Sutherland. Ich bin sicher, Sie würden das auch sagen, wenn Sie Mr. Jack einmal zu Gesicht bekämen – er ist der einzige Mieter, den sie gut leiden konnte. Zum Schluß schickte er das Dienstmädchen mit seinen Sachen ins Leihhaus – und ich, ich alte Närrin, ließ es ruhig geschehen, daß er seine Kleider los wurde, und bot es ihm an, die Miete anstehen zu lassen, bis er sie zu Ende des Monats bezahlen könnte. Dann kam es heraus, daß er Musiker war und in seiner Dachkammer auf Kohlen saß und auf Schüler wartete. Ich habe viel für ihn getan, obgleich er mich doch gar nichts anging. Ich habe ihm die Tochter eines Papierhändlers aus der High Street als Schülerin verschafft. Nach sechs Stunden – würden Sie das glauben, Miß – sie war so zufrieden über die Fortschritte, die sie machte – nach sechs Stunden also erzählt er dem Papierhändler, daß er sein Geld hinausschmisse, wenn er das Mädchen unterrichten ließe – denn sie hätte kein anderes Talent als zur Eitelkeit. Und da war er sie los! Und nu' bekommt sie Stunden zu vier Pfund das Dutzend von einer Dame, die die ganze Anerkennung für all das einsteckt, was er ihr beigebracht hat. Dann hat Simpsons Schwager ihm eine Anstellung in einer Kirche in Edgeware Road besorgt – Harmonium zu spielen und mit dem Chor zu üben. Dort konnten sie's nicht mit ihm aushalten. Er hat sie wie Hunde behandelt. Die drei reichsten alten Damen der Gemeinde, die fünfundvierzig Jahre lang Chorführerinnen gewesen waren, gingen schon am zweiten Abend einfach aus dem Zimmer und sagten, sie würden die Kirche nicht wieder betreten, bis er entlassen wäre. Als der Geistliche ihm deswegen Vorwürfe machte, fuhr er auf und sagte: ›Wenn er der liebe Gott wäre und sie ihm so vorsingen würden, dann würde er sie mit seinem Blitz zerschmettern.‹ Das versteht er unter gutem Betragen! Und da mußte er natürlich fort. Einige aber im Chor mochten ihn gern leiden; sie ließen ihn gelegentlich Klavier spielen – in einem Gesangverein im ersten Stock eines Restaurants. Dafür bekam er alle vierzehn Tage oder so fünf Schilling. Sonst hatte er keinen Penny zum Leben – nur daß er seine Kleider Stück für Stück versetzte. Da können Sie sich die ganze Miete, die ich bekommen habe, wohl denken. Schließlich kriegte er es – wie, weiß ich nicht – fertig, bei einem Herrn in Windsor als Hauslehrer angestellt zu werden. Ich mußte seine Kleider von meinem eigenen Gelde auslösen, damit er nur hin konnte. Ich war mit fünf Pfund im Rückstand durch ihn – für Miete und allerlei anderes.«

»Hat er Sie denn jemals bezahlt?« fragte Mary.

»Oh ja, Miß. Gewiß, er hat mir das Geld geschickt. Ich will durchaus nicht gesagt haben, daß er nicht ehrlich ist, wenn er die Mittel hat.«

»Eigentlich ein sonderbarer Zufall,« meinte Mary, »Mr. Jack ist nämlich zu uns als Hauslehrer gekommen. Er hat Charlie unterrichtet.«

»Zu euch?« rief Madge erstaunt und nicht sonderlich angenehm berührt. »Dann kennst du ihn also?«

»Jawohl. Vor ungefähr zwei Wochen ist er bei uns fortgegangen.«

»Das stimmt ganz genau,« ergänzte Mrs. Simpson. »Und er war froh genug, geradeswegs hierher wieder zurückzukommen – ohne einen Pfennig in der Tasche. Er wird hier sitzen, bis ihm irgendeine andere Stellung vom Himmel herunterfällt. Warum ist er von Ihnen fortgekommen, Miß, wenn ich fragen darf?«

»Ach – ohne irgendwelchen besonderen Grund,« meinte Mary etwas verlegen. »Das heißt – ich meine, mein Bruder war nicht mehr in Windsor – und da hatten wir keine Verwendung für Mr. Jack.«

»Dann war er also der Hauslehrer, von dem Mrs. Beatty meiner Mama erzählt hat?« fragte Magdalen mit einem vielsagenden Blick.

»Ja.«

»Ich hoffe nur, daß er sich in Ihrem Hause besser benommen hat als bei mir, Miß. Übrigens – das geht mich ja auch gar nichts an. Ich will mich gewiß nicht in fremde Angelegenheiten mischen. Mit Ausnahme von dem Brief, mit dem er mir das Geld zurückgeschickt hat, habe ich niemals ein höfliches Wort aus seinem Munde gehört.«

»Ich kenne eine Dame, die ihn, während er bei uns war, damit beschäftigt hat, einige Lieder zu korrigieren, die sie komponiert hatte,« meinte Mary. »Vielleicht kann ich sie dazu veranlassen, ihm noch etwas mehr davon zu geben. Ich möchte ihm gern Arbeit verschaffen. Ich glaube nur, sie war über die Art und Weise beleidigt, wie er ihr das letztemal ihre Komposition umgeändert hat.«

»Hören Sie, Polly,« unterbrach Magdalen, »bei alledem vergessen wir ja unsere Angelegenheit. Wo wohnt der Professor, von dem Mrs. Wilkins mir erzählt hat? Ich wollte, Mr. Jack gäbe Vortragsstunden – ich möchte ihn schon zum Lehrer haben.«

»Da will ich Ihnen nur lieber gleich die Wahrheit sagen, Miß Madge – Mr. Jack ist der Professor. Warten Sie einen Augenblick, ich will Ihnen erst etwas zeigen. Er hat mir einen Ring zum Versetzen gegeben. Er ist das Ebenbild von dem, den Sie früher getragen haben, als Sie noch in Gower Street wohnten.«

»Der Ring gehört mir, Polly. Ich schulde Mr. Jack vier Pfund – ich muß sie ihm heute noch wiedergeben. Starren Sie mich nur nicht so an – ich werde Ihnen später schon die ganze Geschichte erzählen. Ich muß mich bei ihm sogar noch bedanken, weil er mir aus einer scheußlichen Klemme geholfen hat. Liegt dir etwas daran, Mary, mit ihm zusammenzutreffen?«

»Eigentlich nicht,« entgegnete Mary zögernd. »Wenigstens glaube ich, ist es besser, wenn wir nicht zusammentreffen. Aber schließlich – schaden kann es ja nicht. Es wäre wohl auch nicht ganz passend für dich, mit ihm allein zu sprechen.«

»Ach, deswegen brauchst du dir keine Gedanken zu machen,« entgegnete Magdalen etwas mißtrauisch. »Polly wird schon bei mir bleiben.«

»Wenn du mich also lieber nicht dabei haben willst, so kann ich ja auch gehen.«

»Oh – mir ist es ganz gleich. Es kam mir nur so vor, als ob du selbst Schwierigkeiten machtest.«

»Von Schwierigkeiten kann eigentlich nicht die Rede sein – jetzt, wo ich es mir genau überlege. Und doch – ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll.«

»Allmählich könntest du aber einen Entschluß fassen,« meinte Magdalen etwas ungeduldig.

»Na also, Madge, ich habe mich entschlossen,« entgegnete Mary, indem sie ihr Pincenez aufklemmte und ihre Freundin mit Sammlung und Würde ansah. »Ich werde bleiben.«

»Schön,« entgegnete Madge nicht allzu liebenswürdig. »Ich nehme an, daß wir nicht zu Mr. Jack hinaufgehen können – und so kommt er wohl besser zu uns herunter. Polly, gehen Sie hinauf und sagen Sie ihm, daß zwei Damen ihn zu sprechen wünschen.«

»Sagen Sie lieber ›geschäftlich‹ zu sprechen wünschen,« fügte Mary hinzu.

»Unsere Namen brauchen Sie nicht zu nennen. Ich möchte gern sehen, ob er mich wiedererkennt,« meinte Magdalen. Mary warf ihr einen forschenden Blick zu.

»Meinen Sie das wirklich so, Miß?«

»Ja, doch, zum ...,« entgegnete Madge ärgerlich.

Die Wirtin zögerte noch einige Augenblicke voller Staunen und Zweifel. Dann ging sie hinaus. Es folgte eine Pause des Stillschweigens. Magdalens Züge färbten sich lebhafter. Sie schob ihren Stuhl an einen Platz, von dem aus sie sich im Spiegel sehen konnte. Mary kniff die Lippen zusammen und saß etwas bleich regungslos da. Sie wechselten kein Wort miteinander, bis die Tür heftig aufgerissen wurde und Jack in einem Rock, der bis unter den Hals zugeknöpft war, einen kurzen Schritt über die Schwelle tat. Als er Mary erkannte, blieb er stehen und runzelte die Stirn.

»Guten Tag, Mr. Jack. Wie geht es Ihnen?« fragte sie mit einem förmlichen Kopfneigen.

Er verneigte sich unmerklich und sah sich im Zimmer um. Staunen erfaßte ihn, als er Magdalens ansichtig wurde. Sie bedachte ihn gleichfalls mit einer Verneigung, und er nickte ihr scheu zu.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Mr. Jack?« meinte die Wirtin, indem sie sich eines bestimmten Benehmens befleißigte, das sie immer anzulegen pflegte, wenn sie jemanden empfing.

»Haben Sie den Ring schon versetzt?« wandte er sich ihr plötzlich zu.

»Nein,« entgegnete sie mit sichtbarer Empörung.

»Dann geben Sie ihn mir zurück!«

Sie tat es. Er blickte Magdalen an und sagte:

»Sie sind gerade noch zur rechten Zeit gekommen.«

»Ich komme, um Ihnen zu danken, weil ...«

»Sie brauchen mir nicht zu danken. Es hat mir hinterher ohnedies leid genug getan, weil ich einem jungen Frauenzimmer dazu verholfen habe, ihrem Vater durchzubrennen. Wäre ich nicht der blödeste Hitzkopf in ganz England, ich hätte Sie sicher zurückgehalten. Ich hoffe nur, daß die Geschichte keine schlimmen Folgen gehabt hat.«

»Es tut mir wirklich leid, wenn ich den Grund zu irgendwelchen peinlichen Empfindungen gegeben haben sollte,« erwiderte Magdalen errötend. »Das junge Frauenzimmer ist geradeswegs nach Hause gefahren – sobald sie einige geschäftliche Angelegenheiten geordnet hatte, die sie vor ihrem Vater geheimhalten wollte. Das ist die ganze Geschichte.«

»Um so besser. Hätte ich Sie zu Haus gewußt – ich hätte Ihnen den Ring längst wieder zugeschickt.«

»Mein Vater dachte, Sie würden schreiben.«

»Das hatte ich ihm allerdings gesagt – dann aber habe ich es mir überlegt. Ich hatte ihm ja nichts mitzuteilen.«

»Sie müssen mir schon gestatten, Mr. Jack, Ihnen die Summe zurückzugeben, die Sie mir so freundlich vorgestreckt haben,« sagte Magdalen mit gedämpfter Stimme; sie verwirrte sich selbst durch ihre ungeschickten Bemühungen, im Tonfall und Wesen Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen.

»Es soll mir sehr willkommen sein,« entgegnete er übellaunig.

Magdalen zog langsam ihre Börse.

»Geben Sie das Geld nur Mrs. Simpson,« sagte er, sich abwendend.

Durch diese Bewegung kam er Mary gerade gegenüber zu stehen; seine Stirn umwölkte sich furchtgebietend. Sie hielt seinem Blick mutig stand, doch vermochte sie sich nicht zum Sprechen aufzuschwingen.

»Ich habe noch eine zweite Angelegenheit zu ordnen, Mr. Jack,« meinte Magdalen.

»Wie meinen Sie, bitte?« fragte er, indem er sich wieder zu ihr wandte.

»Mrs. Simpson hat mir erzählt ...«

»Ah,« unterbrach er sie mit einem drohenden Blick auf die Wirtin, »sie also hat Ihnen gesagt, wo ich zu finden wäre – ist sie es nicht gewesen?«

»Na, wissen Sie – dabei kann ich nichts finden,« entgegnete Mrs. Simpson. »Wenn Sie es als eine Eigenmächtigkeit von mir betrachten, daß ich Sie empfehle – dann kann ich's ja in Zukunft auch sein lassen.«

»Mich empfehlen? Was meint sie damit, Miß Brailsford – Sie sind doch Miß Brailsford, nicht wahr?«

»Ja. Ich wollte gerade sagen – Mrs. Simpson hat mir mitgeteilt, Sie gäben – ich meine – vielleicht sollte ich Ihnen vorerst erzählen, daß ich zur Bühne zu gehen beabsichtige ...«

»Was wollen Sie denn an der Bühne machen?«

»Dasselbe, was alle anderen tun, denke ich mir,« entgegnete Mrs. Simpson voller Empörung.

»Ich möchte die Bühne zu meinem Beruf machen,« setzte Magdalen hinzu.

»Soll das heißen, daß Sie Ihren Unterhalt damit verdienen wollen?«

»Ich hoffe es wenigstens.«

»Hm.«

»Meinen Sie, daß ich irgendwelche Aussicht auf Erfolg habe?«

»Ich denke mir – falls Sie genügend Intelligenz und Ausdauer besitzen – falls Sie sich tüchtig abschinden und gefügig und willfährig sind und Ihre Freunde und Bekannte als Sprossen auf Ihrer Leiter benutzen – dann vielleicht –. Aber was soll das alles – ich weiß und verstehe nichts von Erfolg. Was habe ich denn überhaupt damit zu schaffen? Halten Sie mich vielleicht ebenso wie Ihr Vater für einen Theateragenten?«

»Das muß ich aber sagen, Mr. Jack,« rief die Wirtin, »Sie ermutigen die Leute, die Ihnen freundlich gesinnt sind, wirklich recht wenig. Es tut mir in der Seele leid – weiß Gott, es tut mir in der Seele leid, daß ich Miß Madge veranlaßt habe, sich wegen Unterrichtsstunden an Sie zu wenden.«

»Unterrichtsstunden?« rief Jack. »Oh, das habe ich nicht richtig verstanden. Was für Stunden? Musikstunden?«

»Nein,« entgegnete Magdalen. »Ich möchte gern Stunden in Vortragskunst und dergleichen. Wenigstens ist mir neulich gesagt worden, ich könnte nicht ordentlich sprechen.«

»Das können Sie auch nicht, das ist die reine Wahrheit,« entgegnete Jack nachdenklich. »Es ist ja eigentlich nicht mein Beruf, Leute für die Bühne vorzubereiten – aber ich kann Sie sprechen lehren, wenn Sie irgend etwas zu sagen haben oder irgendwelches Gefühl für das besitzen, was gottbegnadete Menschen Ihnen in den Mund legen.«

»Ich fürchte, Sie bringen dem endgültigen Resultat nur recht wenig optimistische Empfindungen entgegen.«

»Das Resultat als solches ist sicher – wenn Sie tüchtig üben. Falls Sie nicht üben, so stecke ich es mit Ihnen wieder auf. Es ist ja auch schlechterdings kein Grund vorhanden, warum Sie nicht etwas Besseres aus sich machen sollten als eine feine Dame. Ihr Aussehen ist gut. Alles andere kann man sich aneignen – mit Ausnahme einer gewissen generellen Veranlagung für Hokuspokus. Darauf müssen Sie's eben ankommen lassen. Das Publikum will Schauspielerinnen haben, weil es alle Schauspielerinnen für unanständig hält. Nach Musik und Poesie steht ihnen der Sinn nicht, weil sie wissen, daß diese beiden rein und edel sind. Schauspieler und Schauspielerinnen gedeihen daher – wie ich hoffe, daß es auch bei Ihnen der Fall sein wird. Poeten und Komponisten verhungern – wie es bei mir der Fall ist. Wann wollen Sie anfangen?«

Bald darauf war man zu dem Abschlusse gelangt, daß Magdalen einen um den anderen Tag in Mrs. Simpsons Wohnzimmer unter deren Aufsicht Unterrichtsstunden erhalten und Mr. Jack hierfür zum Preise von drei Pfund das Dutzend bezahlen sollte. Die erste Stunde war für den übernächsten Tag angesetzt. Dann nahm Magdalen Mrs. Simpson beiseite, um ihr das Geld auszuhändigen, das ihr Jack geliehen hatte. Auf diese Weise blieb er allein neben der Tür bei Mary stehen, die, seitdem er ins Zimmer getreten war, nur ein einziges Mal etwas gesagt hatte.

»Mr. Jack,« redete sie ihn jetzt in gedämpftem Tone an, »ich fürchte, ich habe mich hier in unzarter Weise eingemischt – aber ich versichere Ihnen, ich hatte keine Ahnung, mit wem ich hier zusammentreffen würde.«

»Sonst wären Sie wohl nicht gekommen.«

»Nur weil ich angenommen hätte, ungelegen zu kommen.«

»Das hat alles nichts zu sagen. Ich freue mich wirklich, Sie zu sehen, wenngleich ich eigentlich gar keinen Grund dazu habe. Wie geht es Mr. Adrian?«

»Mr. Herbert ist ...«

»Oh, ich bitte Sie sehr um Entschuldigung – Mr. Herbert wollte ich sagen.«

»Es geht ihm sehr gut, danke.«

Jack rieb sich verstohlen die Hände und betrachtete Mary seitwärts, als ob die Erinnerung an Adrian eine humoristische Saite in ihm in Schwingungen versetzte. Als sie ihm jetzt einen kühlen Blick zuwarf, meinte er mit einem leisen Anfluge von Mitleid im Tonfall seiner Stimme:

»Ja, Miß Sutherland – eine Vorliebe für Musik zu besitzen und zu komponieren imstande zu sein, das ist zweierlei.«

»Wirklich?« meinte Mary etwas verlegen.

Er schüttelte den Kopf. »Sie sehen den tiefen Ernst nicht, der hierin liegt,« meinte er. »Aber es schadet ja auch nichts.«

Sie blickte unsicher zu ihm auf und zögerte mit einer Antwort. Dann kamen ihr die Worte langsam über die Lippen:

»Mr. Jack – einige Leute in Windsor – Bekannte von mir – haben sich nach Ihnen erkundigt. Ich denke – wenn Sie einmal die Woche hinüberfahren könnten – ich wäre wohl in der Lage, eine Gesangsklasse für Sie zusammenzubringen.«

»Ohne Zweifel,« entgegnete er, indem sein unwilliger Gesichtsausdruck zurückkehrte. »Die Leute werden Stunden bei mir nehmen, weil Sie sie darum angehen, Ihrem ausrangierten Hauslehrer ein Almosen zukommen zu lassen. Warum haben Sie ihm den Laufpaß gegeben, wenn Sie ihn zum Unterricht für Ihre Bekannte für passend erachten?«

»Davon kann gar nicht die Rede sein. Die Frage wurde schon voriges Jahr aufgeworfen – ehe ich Sie kannte. Es handelt sich lediglich darum, daß wir Unterricht nehmen wollen. Wenn Sie die Klasse nicht bekommen, so erhält sie eben irgend jemand anders. Es ist ungeheuer schwierig, Ihnen nicht zu nahe zu treten, Mr. Jack.«

»In der Tat? Wozu quält die Welt mich denn, wenn sie ein liebenswürdiges Betragen von mir erwartet? Und wer sind die verehrlichen Herrschaften, die sich in die erhabenen Gefilde des Gesanges hinaufzuschwingen gedenken?«

»Na – um also den Anfang zu machen – ich möchte mich schwingen.«

»Sie? Ihnen würde ich keine Stunden geben, selbst wenn Ihr Leben davon abhinge. Nein, so wahr ein Gott im Himmel ist – wenigstens meine ich,« setzte er nach einer Weile etwas friedfertiger hinzu, als sie, offenbar verletzt, unwillkürlich zurückwich, »wenigstens sollen Sie für Geld von mir keine Stunden bekommen. Ich will Sie gern unterrichten, wenn Sie etwas lernen wollen. Sie sollen aber Ihre frühere Kaprize, mich als Bettler zu behandeln, jetzt nicht durch eine neue Laune einer Protektorinnenrolle wieder gutmachen.«

»Dann kann ich allerdings keine Stunden bei Ihnen nehmen.«

»Das dachte ich mir. Sie wollen die Schale Ihrer Gunst über Ihren armseligen Musikmacher ausgießen, aber Sie wünschen sich nicht so weit zu erniedrigen, von ihm eine Gefälligkeit anzunehmen. Ich empfehle mich Ihnen als Ihr ganz ergebenster Hund, Miß Sutherland.« Er machte ihr eine tiefe Verbeugung.

»Sie mißverstehen mich vollkommen,« rief Mary, die fast außerstande war, ihren Groll noch länger zu unterdrücken. »Wollen Sie nun die Klasse übernehmen oder nicht?«

»Wo soll der Unterricht stattfinden?«

»Ich könnte es arrangieren, daß er in unserem Hause – falls ...«

»Nie im Leben! Ihre Schwelle habe ich zum allerletzten Male überschritten. So lange die Sache nicht in Ihrem Hause vorgehen soll, ist es mir gleichgültig, wo der Unterricht stattfindet. Nicht weniger als eine Fahrt wöchentlich – und nicht weniger als ein Pfund reiner Verdienst für jede Fahrt. Das sind meine niedrigsten Bedingungen. Ich nehme so viel mehr, wie ich irgend bekommen kann, aber nicht weniger. Vielleicht haben Sie sich jetzt schon überlegt, ob Sie mir die Musikklasse wirklich zukommen lassen wollen?«

»Ich pflege mein einmal gegebenes Wort nicht zu brechen, Mr. Jack.«

»Ha, was Sie sagen? Ich breche mein Wort! Vor zwei Wochen erst habe ich mir zugeschworen, nie wieder ein Wort mit Ihnen zu sprechen. Am selben Tage hatte ich mir zugeschworen, mich nie von dem Ringe Ihrer Freundin zu trennen – es sei denn, um ihn ihr zu geben. Und jetzt spreche ich doch wieder mit Ihnen – und ich habe keinen triftigeren Grund, als daß Sie mir in den Weg gelaufen sind und mir das Anerbieten machen, für mich etwas Geld auf eben diesen Weg zu legen. Und Sie haben mich gerade daran verhindert, den Ring zu versetzen, wozu ich mich auf Grund der Überlegung veranlaßt sah, daß ich ein Beefsteak für mich für angemessen erachtete. Sie aber, Sie sind hart wie ein Diamant – Sie ändern Ihre Entschlüsse nie. Sie nennen eine Seele ihr eigen, die jenseits von Not und Schicksal durch das Weltall schwebt. Hahahaha!«

Mary wandte sich jetzt ihrer Freundin zu, die auf das Ende dieser Unterhaltung gewartet hatte.

»Magdalen,« sagte sie, »ich glaube, wir gehen jetzt besser.«

Sie glühte förmlich vor unterdrücktem Groll. Magdalen war über diese Entdeckung keineswegs unangenehm berührt, und sie schritt auf Jack zu, um sich in ihrer verbindlichen Weise von ihm zu verabschieden. Er tat sein ironisches Wesen augenblicklich ab und begleitete sie zeremoniös die Treppe hinunter bis zur Haustür, wo Magdalen, die zuerst hinausging, ihm zum Abschied die Hand reichte. Mary zögerte. Seine Augenbrauen zuckten unmerklich, während er sie ansah.

»Ich werde Miß Cairns sagen, sie soll Ihnen wegen der Musikklasse schreiben,« sagte sie. Er hörte ihr mit einer seltsamen Aufmerksamkeit zu, die sie für ironisch hielt. Sie errötete wieder über und über vor Unwillen, als sie hinzusetzte: »Und da Miß Cairns nichts getan hat, was Ihren Ärger heraufbeschwören könnte, so werden Sie hoffentlich daran denken, Mr. Jack, daß sie eine Dame ist und daher erwartet, nach den allgemein gültigen Regeln der Höflichkeit behandelt zu werden.«

»Oho,« rief Jack vergnügt, »bin ich wieder unhöflich gewesen – wirklich – war ich wieder unhöflich?«

»Sie sind über alle Maßen unhöflich gewesen, Mr. Jack.« Sie trat eilig hinaus, während sie ihm diese letzten Worte mit einem unwilligen Blick über die Schulter hinweg zukommen ließ. Er schloß die Tür und ging, wie ein Esel schreiend, hinauf in Mrs. Simpsons Zimmer.

»Na, also, Isebell,« rief er, »na Polly – na Frau Hurtig – was sagen Sie jetzt?«

»Ich habe mich nie in meinem Leben so geschämt, Mr. Jack. Diese beiden jungen Damen wußten gar nicht, was sie alles für Sie tun sollten – und Sie sind und bleiben der alte Bär. Wirklich kein Wunder, daß Sie nicht vorwärts kommen, wenn Sie sich nicht im Zaum halten und sich anständig benehmen!«

»Ich bin also ein Bär, nicht wahr – ich bin ein Bär? Sie sollten lieber nicht vergessen, daß ich ein hungriger Bär bin – und wenn mein Mittagessen nicht bald auf der Bildfläche erscheint, so werde ich Sie in meine Arme schließen, daß das Fischbein in Ihrem Korsett in Fetzen geht. Vergessen Sie auch nicht das Notenpapier! Sie haben jetzt Geld genug – vier Pfund, vier Schilling und einen Penny. So viel ist es doch, nicht wahr?«

»Sie brauchen keine Angst zu haben – es wird Ihnen schon nichts davon gestohlen. Miß Madge dachte, Sie hätten es nicht gezählt. Sie kennt Sie doch nur recht wenig.«

»Sie kennt mich besser, als Sie mich kennen – Sie filzige alte Hexe! Ich habe mein Geld an jenem Morgen überzählt – vier Pfund, neun Schilling, sieben Pence. Dem Mann am Schalter habe ich zehn Schilling hingeworfen, er hat mir fünf zurückgegeben – bleiben also vier Pfund, vier Schilling, sieben Pence. Als ich hier ankam, hatte ich Sixpence in der Tasche – demzufolge weiß ich genau, daß ich ihr vier Pfund, vier Schilling, einen Penny gegeben habe. Das bringt mich gerade darauf, daß Sie die ganze Zeit dagesessen und Miß Sutherland haben fortgehen lassen, ohne mich daran zu erinnern, daß ich ihr sagen sollte, sie möchte mir meinen Handkoffer herschicken – jetzt, wo ich doch das Geld habe, um die Fracht zu bezahlen. Sie sind wirklich furchtbar einfältig!«

»Woher sollte ich denn wissen, ob es Ihnen recht wäre, wenn ich es sagte oder nicht. Ich habe die ganze Zeit über daran gedacht, aber ...«

»Die ganze Zeit haben Sie daran gedacht?« brüllte Jack in maßloser Wut. »Und Sie haben kein Wort davon gesagt? Jetzt holen Sie mir mein Mittagessen! Sie könnten den geduldigsten Menschen auf der Welt um seinen Verstand bringen!«


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